Transparenz ist das Gebot der Stunde
Als Sie Ihre Forschung im MediaAcT Projekt 2010 begannen, galt Tunesien weltweit als einer der größten Feinde der Pressefreiheit. Was hat sich seither geändert und was nicht?
Riadh Ferjani: Eines der wichtigsten Tatsachen ist, dass die vor-revolutionäre Medienlandschaft weiterhin besteht: Neue Fernsehstationen wurden bislang nicht erlaubt, genauso wenig wie neue Zeitungen entstanden sind. Neue Printmedien werden von politischen Parteien herausgegeben und erscheinen als Wochenzeitungen, welche meistens einen journalistischen Boulevardstil pflegen. Nach einem neuntägigen Hungerstreik des Managers von Radio Kalima, Omar Mistiri, hat die Nationale Behörde für Informations- und Kommunikationsreform (INRIC), ein temporäres Beratungsgremium, zwölf von 74 Anträgen bewilligt. Jetzt warten diese ausgewählten Radiostationen auf die Zustimmung der Regierung.
Auf institutioneller Ebene hat die Abschaffung des Kommunikationsministeriums bislang nicht zu mehr Autonomie für die Medien geführt. Die vor-revolutionären Medienmanager sind überwiegend noch im Amt: Geschäftsführer, Herausgeber und Aufsichtsratsvorsitzende sind von Lobgesängen auf den vertriebenen Präsidenten und seines Systems zu zweifelhaften Preisungen der Revolution übergegangen.
In den staatlichen Medien wurde der Wechsel von Managern frei von jeglicher Transparenz vollzogen, genau wie unter der Diktatur. Wenn Wechsel stattfinden, sind sie eher das Resultat von Machtbalancen zwischen den einzelnen Gruppen innerhalb der Regierung als Schritte in Richtung eines demokratischen Mediensystems.
Trotz einiger kollektiver und individueller Versuche von Journalisten, die Fesseln der Zensurmaßnahmen und Regierungseinflüsse abzuschütteln, ist es bislang nicht gelungen, die Macht des alten Personals zu brechen. Die Einführung neuer redaktioneller Richtlinien, welche die in den offiziellen Medien lange Zeit verbannte und verpönte Praxis der Berichterstattung "von der Straße" wieder ermöglichen würden, ist bislang ausgeblieben.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Themen, auf die sich Praktiken der Medienbeobachtung und -selbstregulierung in den nächsten Monaten konzentrieren sollten?
Ferjani: Transparenz der Akteure ist eines der wichtigsten Ziele angesichts der Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011: Der rechtliche Status der privaten Medien ist noch unklar. Insbesondere der Status der Medien, die der Familie des ehemaligen Präsidenten gehörten. Manche von ihnen sind unter gerichtlicher Leitung, aber INRIC hat sie bis auf weiteres von jeder ethischen Verpflichtung ausgenommen. Der Fernsehsender Hannibal TV, der einer Verwandten von Leila Trabelsi gehörte, hat sowohl vor als auch nach der Revolution vielfach gegen den journalistischen Ethikkodex verstoßen. Darunter waren vor allem Vergehen wie Verleumdungen und die Verbreitung falscher Nachrichten. Larbi Nasra, der Eigentümer von Hannibal TV versucht eine politische Rolle zu spielen, indem er politische Führer empfängt und viele Beiträge über seine wohltätigen Aktivitäten senden lässt. Fethi Houidi, der Informationsminister unter Ben Ali, ist nach wie vor der Geschäftsführer von Nessma TV. Moez Sinaoui, ehemaliger Nessma PR-Mann, ist als Pressesprecher des vorläufigen Ministerpräsidenten ernannt worden. Beide Fälle unterstreichen den andauernden Interessenskonflikt zwischen journalistischer Neutralität, politischem Einfluss und ökonomischer Macht.
Die Nominierung von zwölf neuen Radiosendern war den tunesischen Medien nur eine kurze Meldung wert. Sie wiederholte lediglich das, was auf der INRIC Pressekonferenz bekannt gegeben worden war und was die offizielle tunesische Nachrichtenagentur, TAP (Tunis Afrique Press), veröffentlicht hatte. Die Meldungen erwähnten nicht, wer die Eigentümer oder Geschäftsführer dieser Radiosender sind.
Werden diese Probleme denn als wichtig erachtet in der Debatte um die Zukunft Tunesiens?
Ferjani: In der Öffentlichkeit überlagert die – oftmals überhitzte – politische Debatte, die Diskussion über Reformen im Mediensektor. Die Reform der Medien wird ebenso wenig als wichtiges Thema für einen demokratischen Wandel betrachtet wie die Reform der Polizei und der Justiz. Im Moment ist die Debatte über Medienreformen gespalten zwischen Journalisten, d.h. dem Journalistenverband und einigen individuellen Initiativen, einerseits und der Regierung andererseits. Interessanterweise wird die Frage nach der journalistischen Verantwortung mit denselben Worten geführt wie vor der Revolution. Sie kommt immer dann auf, wenn die Version der Journalisten von der offiziellen Version abweicht, insbesondere im Zusammenhang mit Polizei und Armee.
Gibt es Diskussionen oder konkrete Pläne, Praktiken der Medienselbstregulierung zu institutionalisieren z.B. in Form eines Presserates oder in Form einer Neuauflage des Ethikkodexes?
Ferjani: Die Medien werden nach wie vor von repressiven Gesetzen bestimmt. Gleichzeitig sind die neuen Gesetze nicht auf die Erfordernisse eines demokratischen Wandels abgestimmt: Das Ausmaß der Medienreform bedarf einer Regulierungsbehörde mit Autorität. Aber das neue Gesetz, das die Etablierung und das Funktionieren der INRIC bestimmt, erinnert stark an das Gesetz, das den Hohen Rat für Kommunikation, ein Beratungsgremium unter Ben Ali, leitete. Es gibt "private" Diskussionen über neue Medien regulierende Gesetze zwischen INRIC und dem Hohen Rat für politische Reformen, die noch vor den Parlamentswahlen vorgeschlagen werden sollen. Allerdings gehen diese Diskussionen weder mit öffentlichen Anhörungen einher noch berichten die Medien über sie.
Im Presseinstitut, der einzigen akademischen Institution, die Journalisten ausbildet, wurde im April nach einem zweitätigen Treffen eine winzige Reform beschlossen. Keine der im Kampf um Pressefreiheit aktiven journalistischen Institutionen oder NGOs wurde in diese Reform einbezogen.
Im Mai hat der neu gewählte Vorstand des Journalistenverbandes versprochen, eine schwarze Liste von Journalisten zu erstellen, die während der Ben Ali Ära in Vergehen gegen den Ethikkodex verwickelt waren. Gleichzeitig stellt die Regierung sich taub gegenüber Forderungen, die Archive der Tunesischen Agentur für Auswärtige Kommunikation (ATCE) zu öffnen. Diese Agentur hat in den letzten 20 Jahren das Propagandasystem inner- und außerhalb Tunesiens organisiert.
Welche Rolle kann das Internet spielen, die Medientransparenz in Tunesien nach der Revolution zu stärken?
Ferjani: Der Zusammenbruch des ausgeklügelten Überwachungs- und Zensursystems hat eine Neugestaltung der Blogosphäre und der Nachrichtenseiten ermöglicht. Sogar die traditionellen Medien versuchen nun, ihre Seite interaktiver zu gestalten oder überhaupt erst elektronische Versionen zu entwickeln. Dennoch gibt es keine bemerkenswerten Veränderungen im Hinblick auf Transparenz von Medienprodukten oder dialogischen Praktiken zwischen Publikum und Medienschaffenden.
Kritische Artikel über die Medien wirken oft eher wie persönliche Abrechnungen zwischen Journalisten als dass sie Versuche darstellen würden, die Medien stärker zur Verantwortung zu ziehen. Außerdem ist die autoritäre Versuchung zurück gekehrt: Das Militärgericht hat entschieden, vier Nachrichtenwebseite zu verbieten, denen vorgeworfen wird, die Armee beleidigt zu haben. Zudem hat ein Gericht in Tunis einer Forderung von zwei konservativen Anwälten stattgegeben, das Internet durch die Tunesische Internetbehörde (ATI) auf "Erwachsenenwebseiten" zu zensieren. Internetaktivisten interpretieren diese Entscheidung als einen Verstoß gegen individuelle Freiheiten und als Rückkehr zur staatlichen Internetkontrolle.
Wie hat die Revolution den Blick auf Ihre eigene Forschung zur Medienbeobachtung verändert?
Ferjani: Die Beobachtungen der Medienlandschaft seit dem 14. Januar 2011 haben deutlich gezeigt, dass die Notwendigkeit, die Medien zur Verantwortung zu ziehen, weiter besteht. Aber es gibt drei Hauptprobleme für diese Forderung einzutreten: erstens das mächtige vor-revolutionäre System, zweitens Journalisten, die mit ihren neuen Freiheiten und Arbeitsbedingungen überfordert sind und schließlich das grundsätzliche Problem, die Medien in den Medien zu kritisieren.
Interview: Judith Pies
© Qantara.de 2011
Der tunesische Medienwissenschaftler Riadh Ferjani arbeitet an dem Medienforschungsprojekt MediaAcT.
Übersetzung aus dem Englischen: Judith Pies
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de