Eine Allianz der Notwendigkeit

Im Vordergrund sitzt eine Frau. Im Hintergrund sind die Zelte eines Lagers zu sehen.
In Nordostsyrien werden weiter Tausende IS-Anhänger:innen festgehalten. Weder Bagdad noch Damaskus wollen, dass sie freikommen (Foto: Picture Alliance / AP | B. Armangue)

Der Irak ist zum neuen Regime in Syrien bislang auf Distanz geblieben. Die Al-Qaida-Vergangenheit von Präsident Al-Scharaa ist Bagdad ein Dorn im Auge. Doch ein zentrales Thema beschleunigt die Annäherung.

Von Hossam Sadek

Der syrische Präsident Ahmed al-Scharaa fehlte, als sich die arabischen Staats- und Regierungschefs im Mai zum Gipfel der Arabischen Liga in Bagdad trafen. Im Irak hatten schiitische bewaffnete Gruppen und Parteien innerhalb der Regierungskoalition, die dem Iran nahestehen, eine Kampagne gegen seinen Besuch gestartet.  

Einige schiitische Abgeordnete drängten sogar auf eine Parlamentsresolution, um Al-Scharaa die Gipfelteilnahme zu verbieten. Als Grund nannten sie seine Beteiligung an Kämpfen im Irak in den 2000er Jahren als Teil von Al-Qaida. 

Die Kontroverse unterstreicht die anhaltenden Spannungen in den irakisch-syrischen Beziehungen, die seit Al-Scharaas Amtsantritt immer wieder aufkommen. Dabei hatte es zwischen beiden Ländern bis zum Sturz Baschar al-Assads mehrere Gemeinsamkeiten gegeben, darunter enge Beziehungen zum Iran und Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Wirtschaft.  

Doch Ende 2024 änderte sich dies durch die Machtübernahme der neuen Regierung in Syrien, die eine komplizierte Vergangenheit hat und andere Ansätze für regionale Allianzen verfolgt. Bagdad ist mit einer neuen Realität konfrontiert: Der Iran ist kein gemeinsamer Verbündeter beider Länder mehr, und zur neuen Elite in Damaskus gehören Personen, die im Irak an der Seite von Al-Qaida gekämpft haben.  

Doch beide Länder sind auch einer gemeinsamen Bedrohung ausgesetzt: dem IS, der sich neu formiert und auf eine Gelegenheit wartet, seine Aktivitäten auf beiden Seiten der Grenze wieder aufzunehmen. Der Irak muss entscheiden, ob der gemeinsame Imperativ, dem IS entgegenzutreten, die Bedenken hinsichtlich der Vergangenheit der neuen syrischen Führung überwiegt.

Glückwünsche aus Bagdad blieben aus

Der Irak hat auf die Entwicklungen in Syrien seit Assads Sturz in zwei Phasen reagiert: Auf die anfängliche Vorsicht folge eine schrittweise Annäherung. Dieser Wandel ist unter anderem auf die wachsende internationale Anerkennung Al-Scharaas sowie die gemeinsamen Interessen beider Länder zurückzuführen, insbesondere auf die Sicherung ihrer Grenzen und die Bekämpfung des Terrorismus. 

In der ersten Phase beschränkte sich Bagdads Reaktion auf die Entsendung einer offiziellen Delegation unter der Leitung des irakischen Geheimdienstchefs Hamid al-Schatri am 26. Dezember 2024 nach Syrien. Weitere Kontakte vermied der Irak zunächst. Zu Al-Scharaas Amtsantritt als Präsident im Januar gratulierten irakische Beamte ihm nicht.  

Im Februar erklärte Mahmoud al-Hayani, ein führender Politiker der schiitisch-irakischen Regierungskoalition (Koordinationsrahmen), das Schweigen Iraks zur Präsidentschaft Al-Scharaas mit „Terroranklagen“ gegen Mitglieder der syrischen Regierung. Dabei gehe es um Aktivitäten von Al-Qaida im Irak zwischen 2005 und 2011. 

Die zweite Phase begann Mitte März mit einem Besuch des syrischen Außenministers Asaad al-Scheibani im Irak. Während des Besuchs dominierte die Bedrohung durch den IS die öffentlichen Erklärungen, was die Priorität des Themas für die Beziehungen beider Ländern zeigte. 

Am 1. April dann gratulierte der irakische Premierminister Mohammed Schia al-Sudani dem syrischen Präsidenten zur Bildung der neuen Regierung und brachte seinen Respekt für die Entscheidung des syrischen Volks zum Ausdruck. In einem Telefonat betonte er erneut die Bedeutung der bilateralen Zusammenarbeit im Kampf gegen IS.  

Kurz darauf lud Bagdad schließlich Al-Scharaa offiziell zum Treffen der Arabischen Liga ein, woraufhin es zu den eingangs erwähnten Kontroversen kam. Syrischen Quellen zufolge lehnte Al-Scharaa die Einladung aber selbst ab, um die irakische Regierung nicht in Verlegenheit zu bringen

Vereint gegen den Feind

Der irakische Forscher Ramadan al-Badran führt den veränderten Ton Bagdads darauf zurück, dass der Irak seine Vorbehalte gegenüber Al-Scharaa abgebaut habe. Er verweist auf den relativ gemäßigten und rationalen Ansatz der neuen syrischen Regierung sowie auf die wachsende Anerkennung der neuen Regierung in der arabischen und internationalen Politik.

„Zudem ist der IS eines der wichtigsten und auch heikelsten Themen für den Irak und Syrien“, sagt al-Badran gegenüber Qantara. Dieser sei ein „Schlüsselfaktor für die Annäherung beider Länder unter dem neuen syrischen Regime“. 

In den Monaten nach Assads Sturz hat der IS die Übergangsphase rasch genutzt, um sich neu zu organisieren und neue Kämpfer zu rekrutieren. Bei einem Besuch in Bagdad berichtete David Des Roches, Militärexperte und Professor an der National Defense University in Washington, kürzlich von der Besorgnis irakischer Beamter, dass sich der IS in Syrien wieder etablieren könnte.

Im April berichtete die New York Times, dass hochrangige US-Geheimdienstler*innen in ihrer jährlichen globalen Bedrohungsanalyse davor gewarnt hätten, dass der IS versuchen werde, den Sturz des Assad-Regimes auszunutzen, um Gefangene zu befreien und seine Fähigkeit zur Planung und Durchführung von Anschlägen wiederzuerlangen. 

Die größte Bedrohung ist aktuell, dass es dem IS gelingt, Tausende Gefangene zu befreien. Viele von ihnen sind erfahrene Kämpfer und sitzen seit der Niederlage des IS 2019 in Gefängnissen der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Der Chef des irakischen Nationalen Sicherheitsdienstes, Abdul Karim Abdul Fadhil, sagte im April, der IS plane einen Angriff auf das Gefangenenlager Al-Hol im Nordosten Syriens, um Tausende inhaftierte Kämpfer zu befreien. 

Abdul Fadhil betonte, es seien die SDF, die dem IS jeglichen Handlungsspielraum nähmen und ihn hinderten, wieder an Stärke zu gewinnen. Die SDF verfügen über umfangreiche Erfahrung im Kampf gegen den IS, die sie zwischen 2014 und 2019 in Syrien gesammelt haben. 

Damaskus und Bagdad könnten nun also von der umfassenden Erfahrung der SDF profitieren, um ein Wiedererstarken des IS zu verhindern. Al-Scharaa und die SDF haben sich bereits darauf geeinigt, die kurdisch geführten Kräfte in die Armee und in öffentliche Institutionen zu integrieren. 

Eine dreiseitige Zusammenarbeit zwischen Bagdad, Damaskus und den SDF ist unerlässlich, um die Bewegung des IS in der Grenzregion einzuschränken und Versuche zur Befreiung von Gefangenen zu vereiteln. „Die SDF werden nicht zögern und sich an einer zukünftigen Zusammenarbeit gegen den IS beteiligen, wenn der Irak dies wünscht“, so der kurdische Politikanalyst Suleiman Jaafar gegenüber Qantara. 

Eine rein militärische Lösung?

Das Wiedererstarken des IS habe „Chancen für Annäherung und Koordination“ geschaffen, sagt auch der syrische Journalist Firas Younes. „Das derzeitige syrische Regime ist entschlossen, den IS zu bekämpfen, da die Feindseligkeiten zwischen beiden tief verwurzelt sind. Sie reichen bis in die Zeit zurück, als Hai'at Tahrir al-Scham – die von al-Scharaa geführte Fraktion, die Assad stürzte – noch Nusra-Front hieß und unter Al-Qaida operierte.“

„Es ist notwendig, dass die beiden Länder sich in Sicherheits- und Militärfragen koordinieren", sagt auch Younes, „die Erfahrung der kurdischen Streitkräfte im Kampf gegen den IS ist in dieser Hinsicht sehr wichtig.“

Doch militärische Anstrengungen allein würden nicht ausreichen, betont Younes. Dauerhafte Stabilität sei von politischen Reformen abhängig: „vom Aufbau eines inklusiven demokratischen Systems in Syrien, der Förderung der Freiheiten und dem Beginn eines zügigen Wiederaufbaus“.

Der Kampf gegen den IS war ein wichtiger Katalysator für die Annäherung zwischen Syrien und dem Irak. Doch um die grenzüberschreitende Bedrohung durch den IS langfristig zu neutralisieren, braucht es demokratische Mechanismen in Syrien, eine breitere politische Repräsentation und die Fähigkeit Al-Scharaas, Erfahrungen und Wissen der kurdischen Kräfte weiter einzubeziehen.

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Clara Taxis.

 

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