Eine neue Generation erobert das Narrativ zurück

Zwei Männer knien und beugen ihre Köpfe über eine blaue Presseweste.
Trauer um Mohammad Mansour und Hossam Shabat, die im März 2025 von israelischen Streitkräften getötet wurden. (Foto: Picture Alliance / Middle East Images | A. Abosalma)

Bemerkenswert junge palästinensische Journalist:innen berichten aus Gaza. Ihre Arbeit verändert die globale Sicht auf den Krieg und unterstreicht das Versagen westlicher Medien. Der Preis ist hoch: 232 wurden seit Oktober 2023 durch Israel getötet.

Essay von Ramzy Baroud

Al-Muthaqaf al-mushtabik, der arabische Ausdruck für „engagierter Intellektueller“, ist in intellektuellen Kreisen Palästinas, Libanons und darüber hinaus beliebt. Das Konzept entstand auf Grundlage des Werks des antifaschistischen Philosophen Antonio Gramsci, der den Begriff des „organischen Intellektuellen“ geprägt hat – einem Denker, der eng mit den Massen verbunden ist und ihnen als Lehrer und Organisator an der Basis dient. 

Wann genau der Begriff in Palästina den rein akademischen Diskurs verließ und einem breiteren Publikum bekannt wurde, ist nicht dokumentiert. Doch seine Bekanntheit wuchs nach dem 6. März 2017. An jenem Tag war Basil al-Araj, ein selbsterklärter engagierter Intellektueller, von der israelischen Armee im Flüchtlingslager Qadura nahe Ramallah getötet worden. 

In seinem knappen und ergreifenden Testament stellte al-Araj eine tiefgründige Frage, nämlich ob es die Aufgabe von Märtyrer:innen sei, die Fragen der Lebenden zu beantworten. Als er über sein eigenes, vorausgeahntes Martyrium nachdachte, schrieb er: 

„Gibt es etwas Beredteres und Ausdrucksstärkeres als den Akt des Martyriums? (…) Diese Frage ist für euch, die Lebenden, bestimmt; warum sollte ich sie beantworten? Ihr müsst selbst die Antwort finden. Was uns in den Gräbern betrifft, so hoffen wir nur auf die Barmherzigkeit Allahs.“

Ich bin oft erstaunt, mit welcher Leichtigkeit viele Palästinenser:innen eine bestimmte existenzielle Rolle zu akzeptieren scheinen: die des kollektiven Märtyrers, der sein Leben für ein Ideal der Gerechtigkeit opfert – ein Ideal, das über unmittelbare Belange wie Staatlichkeit, Souveränität und elementare Menschenrechte hinausgeht.

Wir wünschen uns den Tod nicht; vielmehr ist es unsere Lebenskraft, die Menschen im Gazastreifen mit bemerkenswerter Standhaftigkeit singen lässt, selbst kurz nachdem sie ihre Angehörigen in Massengräbern beerdigen. Diese trotzige Lebensbejahung im Angesicht des Verlusts ist in einem der beliebtesten Lieder aus Gaza festgehalten, das oft von großen Menschenmengen gesungen wird: „Wir werden hierbleiben, bis der Schmerz vergeht; wir werden hier leben, bis die Musik wieder süß wird.“

Diese Widerstandsfähigkeit, die aus Kriegserfahrungen, Verlusten und der trotzdem ungebrochenen Willensstärke entsteht, bringt eine besondere Form des engagierten palästinensischen Intellektuellen hervor, die über die theoretischen Annahmen Gramscis hinausgeht.

Die geballte Komplexität der kollektiven palästinensischen Erfahrung macht es für Außenstehende, beispielsweise Autor:innen der New York Times mit wenig oder keinen Arabischkenntnissen, extrem herausfordernd, die Lage der Palästinenser:innen zu vermitteln. Deren Realität wird am besten von Palästinenser:innen selbst verstanden und kommuniziert, häufig durch die eindrucksvolle Kraft von Liedern und Gedichten, da die rein rationale Sprache manchmal unzureichend ist. 

Selbst Palästinenser:innen fällt es schwer, den Schmerz in Gaza allein mit Worten auszudrücken. Wie sollte also ein westlicher Journalist, der durch kulturelle und erfahrungsbedingte Unterschiede distanziert bleibt und durch etablierte Vorurteile beeinflusst ist, diese Erfahrung authentisch vermitteln können?

Der US-amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky hat in seiner langen Karriere immer wieder auf die anhaltende israelfreundliche Voreingenommenheit der westlichen Medien hingewiesen. In einem Interview im Mai 1988 sprach er von einer „außergewöhnlichen Doppelmoral zugunsten Israels“. 26 Jahre später beschrieb er die „beschämende“ Unterwürfigkeit amerikanischer Medien gegenüber der „grotesken“ israelischen Propaganda, die immer wieder die Handlungen „eines aggressiven Staates“ rechtfertige. 

Eine Menschenmenge hält ein Schild mit der Aufschrift "New York War Crimes" hoch.
Der „New York Times“ und anderen US-Medien wird zu israelfreundliche Berichterstattung vorgeworfen. Protest vor der NYT-Redaktion in New York, 27. März 2025. (Foto: picture alliance / Anadolu | S. Acar)

Selbst Chomsky hat das Ausmaß der Gewalt, das wir jetzt in Gaza erleben, wohl nicht vorausgesehen. Ebenso wenig wie das unerbittliche Festhalten der Medien an einer pro-israelischen Sichtweise angesichts der sich häufenden Beweise für Verwüstung und Völkermord. Wie kann diese Voreingenommenheit fortbestehen, wenn in nur 19 Monaten über 180.000 Palästinenser:innen verwundet, getötet oder vermisst wurden? 

Darüber hinaus vermitteln nackte Zahlen allein nicht die ganze menschliche Tragweite des Völkermords. Denn selbst die enorm hohen Opferzahlen lassen sich durch eine fehlerhafte Argumentation rationalisieren, eine verwirrende Mischung von Argumenten, die das westliche Gewissen beruhigen soll.  

Der vertraute Tenor ist immer wieder zu hören: „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen.“ Dieser Satz, ständig wiederholt, klingt hohl, denn es hat sich gezeigt, dass unschuldige Zivilist:innen, vor allem Frauen und Kinder, die häufigsten Opfer dieser angeblichen „Selbstverteidigung“ sind. 

Neue Stimmen berichten aus Gaza

Seit Oktober 2023 verbietet Israel allen ausländischen Journalist:innen die Einreise nach Gaza. Während Israel offiziell Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Journalist:innen anführt, ist das zugrundeliegende Motiv offensichtlich: die vollständige Kontrolle über die Berichterstattung.

Auf diese Weise hat Israel ungewollt palästinensischen Stimmen Gehör verschafft. Gefangen und isoliert blieb den Palästinenser:innen nichts anderes übrig, als sich für ihre eigene Sache einzusetzen. Damit hat eine neue Ära engagierter palästinensischer Intellektueller begonnen, sehr zur Beunruhigung Israels. Mit bemerkenswertem Mut haben sich die Journalist:innen in Gaza ihre Pressewesten angezogen und sind auf die Straße gegangen.   

So wird diesmal die Geschichte des Gazastreifens – und des breiteren palästinensischen Freiheitskampfes – in erster Linie von Palästinenser:innen selbst geprägt. Angesichts der Tendenz der Mainstream-Medien, das Ausmaß der israelischen Verbrechen in Gaza zu ignorieren, haben alternative Medien – einschließlich Social-Media-Plattformen und unabhängiger Kanäle – palästinensische Stimmen international sichtbar gemacht.   

Gleichzeitig hat sich die Zensur verschärft, wobei der Konzern Meta eine große Rolle spielte. Trotzdem gelang es Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen, inmitten von Völkermord und Hunger, ihre Botschaft zu verbreiten, sich auf den Social-Media-Plattformen zurechtzufinden und voreingenommene Algorithmen zu umgehen.  

Schon zuvor war Israels Strategie, palästinensische Journalist:innen ins Visier zu nehmen, dokumentiert gewesen. Doch hatten nur wenige geahnt, in welchem Ausmaß Journalist:innen zur Zielscheibe werden würden. Schon früh zeichnete sich eine düstere Realität ab: Nach Angaben der Behörden des Gazastreifens wurden seit dem 7. Oktober 2023 über 230 Medienschaffende getötet

Während diese tragischen Verluste zu betrauern sind, ist eine neue Generation von bemerkenswert jungen Journalist:innen entstanden, deren Berichte durch ein Netzwerk von Aktivist:innen und Influencer:innen in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit bekamen. 

Unter den getöteten Journalist:innen waren unzählige einflussreiche Stimmen. So auch die von Wafa Aludaini, die am 30. September 2024 zusammen mit ihrer Familie auf dramatische Weise getötet wurde. Ich kannte sie seit Jahren. Ihre Texte, in einfachem Englisch verfasst, wecken tiefe Emotionen.  

„Ich möchte die Geschichte meines Volkes mit der Welt teilen“, hatte sie mir einige Jahre vor dem aktuellen Krieg geschrieben. Sie erläuterte die Hindernisse, auf die sie wegen ihres Hidschabs und Schleiers stieß. Schnell wurde diese entschlossene Palästinenserin zu einer anerkannten Stimme nicht nur in unabhängigen Medien, sondern auch im westlichen Mainstream. 

Viele weitere Bekannte, Freund:innen, Kolleg:innen und Studierende haben wir verloren; die Todesnachrichten kommen in kurzen, traurigen Textnachrichten. Die meisten dieser jungen Medienschaffenden waren in Gaza ausgebildet worden, da die Blockade ihre Bewegungsfreiheit einschränkte. Sie hatten keine Verbindungen zu westlichen Institutionen. Viele arbeiteten ohne formalen journalistischen Abschluss oder waren noch in der Ausbildung.   

Sie vermittelten die palästinensische Geschichte mit einer Authentizität, die es lange Zeit nicht gab. Die Klarheit und die moralische Kraft des palästinensischen Kampfes, die durch die Stimmen junger Menschen aus Gaza hörbar sind, stellen die jahrzehntelange Voreingenommenheit der westlichen Medien in Frage.  

„Wir brauchen keine westlichen Journalist:innen“

Das einflussreiche Werk der Māori-Intellektuellen Linda Tuhiwai Smith, „Decolonizing Methodologies: Research and Indigenous Peoples“, ist außerordentlich relevant für den Kontext des Gazastreifens und die Erzählungen marginalisierter Gruppen weltweit. Die Autorin hebt hervor, wie Kommunikation durch den eigenen kulturellen und sprachlichen Rahmen einer betroffenen Gruppe zu einer anderen Machtdynamik, zu anderen Prioritäten und letztlich zu anderen Konsequenzen führt.  

Trotz der Zerstörung im Gazastreifen zeichnet sich ein neues Verständnis für die tragische Realität vor Ort und in ganz Palästina ab. Diese Lehren werden Bestand haben. Eine der wichtigsten ist, dass die Palästinenser:innen wie andere Opfer von Konflikten und Kolonialismus nicht von Natur aus vom Westen abhängig sind, um ihre Wahrheiten bekannt zu machen.

Am 24. März 2025 wurde Hossam Shabat, ein junger palästinensischer Journalist, von der israelischen Armee getötet. Ein Jahr vorher schrieb er auf Social Media: „Das größte Problem ist nicht, dass westliche Journalist:innen nicht nach Gaza einreisen können, sondern dass westliche Medien uns palästinensische Journalist:innen nicht respektieren und wertschätzen.“ 

„Meine Kolleg:innen und ich riskieren täglich unser Leben, um über die Zerstörung zu berichten“, fuhr er fort. „Niemand kennt Gaza so gut wie wir und niemand versteht die Komplexitäten wie wir. Wenn dir Gaza am Herzen liegt, verstärke palästinensische Stimmen. Wir brauchen keine westlichen Journalist:innen, um unsere Geschichten zu erzählen. Wir sind selbst in der Lage zu berichten.” 

In Hossams Worten lag eine tiefe Wahrheit. Sein tragischer Tod hat diese noch einmal verdeutlicht. Trotz seiner Jugend hat er als palästinensischer Journalist und Intellektueller verstanden, dass er keine externe Erlaubnis brauchte, um die Geschichte seines Volkes zu erzählen.  

Getötet wurde er durch eine Bombe, die eine Drohne im östlichen Teil von Beit Lahia im Norden Gazas gezielt auf sein Auto abwarf. Er und zahlreiche andere Journalist:innen, Akademiker:innen, Studierende und Künstler:innen haben das Konzept des engagierten Intellektuellen auf eine neue Ebene gehoben.  

Gramsci hätte mit Sicherheit den großen Widerhall seiner Ideen im palästinensischen Kontext erkannt. Angesichts der palästinensischen Erb:innen seines intellektuellen Vermächtnisses hätte er ohne Zweifel einen gewissen Stolz empfunden.  

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Clara Taxis.

 

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