Die Falle eines Jahrhunderts
"Die Zeit vergeht schnell. Sie bewegt sich nach vorn und zurück und trägt dich weit fort, und keiner weiß mehr über sie als das: sie trägt dich durch ein Element, das du nicht verstehst, in ein anderes, an das du dich nicht erinnern wirst. Aber etwas erinnert sich – wenn man so will, kann man sagen, dass etwas sich rächt: die Falle des Jahrhunderts, der Gegenstand, der nun vor uns steht". Das zitieren Sie von James Baldwin im Epigraph Ihres Romans. Wie sehen Sie die Beschreibung "die Falle des Jahrhunderts" im Bezug auf Ihren Roman?
Sasha-Marianna Salzmann: Wir haben Sünden begangen und wir werden dafür zahlen. Die Vergangenheit ist nie abgeschlossen, sie lebt in uns weiter. Mein Roman "Ausser sich" wird stark von dieser Überlegung getragen. Ich glaube, dass wir nicht nur unsere Familiengeschichten in uns tragen, sondern auch die geschichtlichen Ereignisse. Beides ist natürlich miteinander verknüpft.
Es gibt im Roman wiederkehrende Ereignisse. Dient diese Erzählweise dazu, die Idee zu bestätigen, dass die Vergangenheit in uns weiterlebt?
Salzmann: Die Ereignisse fühlen sich an wie ein Hall. Wir können von vielen Dingen nicht wissen, die unser Handeln bedingen. Unsere Körper speichern Informationen ab, die wir intellektuell gar nicht verstehen können. Meine Figuren kranken an Begebenheiten, bei denen sie nicht dabei gewesen sind, an die sie sich nicht erinnern oder von denen keiner ihnen sagen kann, ob es sich tatsächlich so abgespielt hat, wie sie sich erinnern. Mein/e Protagonist/in Ali rennt los und sagt, ich habe kein Geschlecht, ich habe keine Sprache ich habe keine Familie. Aber irgendwas tut immens weh. Und Ali muss sich diesem Unbekannten in ihr/ihm stellen. Sonst gibt es keine Zukunft für sie/ihn.
Ein Ereignis in der Vergangenheit, dessen Spuren sich ebenso im Roman wie ein Hall fühlen ist die Shoah. Sie wollten sie aber bewusst nicht im Zentrum des Romans haben.
Salzmann: Es ist eine Falle, dass jüdische Themen meistens an die Shoah geknüpft werden. Man kann sich heutzutage keine jüdische Identität ohne die Shoah vorstellen.
Mein Kollege Max Czollek und ich entwickeln seit Jahren ein Desintegrationskonzept, bei dem es darum geht, nicht mehr die vorgegebene Rolle "des Juden" zu spielen, das heißt, wie ein Pingpong Ball in dem Dreieck Antisemitismus – Israel – Shoah hin und her zu springen. Diese drei Eckpunkte spielen nur bedingt eine Rolle für eine jüdische Identität im 21. Jahrhundert. "Ausser sich" hat ganz andere Themen.
Die linksorientierte Ali spricht von "Palästina", spricht aber über einen Zeitpunkt vor 1948, die Mutter nennt es später "Israel", war es Ihre Absicht, die Debatte anzudeuten?
Salzmann: Damit verhält es sich ähnlich wie mit der Shoah: das sind Themen, mit denen Jüdinnen und Juden konfrontiert werden, aber was machen wir, wenn es in unserer Arbeit nicht darum geht? Wenn uns dieses Land nicht wichtig ist und wir uns damit nicht identifizieren?
Als politischer Mensch kann ich mich zu Israel/Palästina genauso verhalten wie zu allen anderen Ländern, aus denen ich Menschen kenne und die mir nah sind: Dann wird das Land nicht abstrakt, sondern hat menschliche Gesichter. Und als Romancier passe ich genau auf meine Sprache auf. Und die Wortwahl meiner Figuren ist sehr bewusst gesetzt.
Sie haben die Ereignisse in dem Roman nicht selber erlebt, trotzdem enthält der Roman Anteile, die mit der Biographie übereinstimmen. Was hat Sie gereizt, diese biographischen Anteile in den Roman zu integrieren?
Salzmann: Mich interessierte die Form der autobiografischen Fiktion. Ich nahm also tatsächliche historische Punkte meiner Biografie und der Biografie meiner Familie und erfand den Rest. Ich hangelte mich entlang von Familienmythen und Fotografien, von denen mir keine/r aus meiner Familie sagen konnte, wer die Gesichter sind.
Da das Thema meines Romans Erinnerung ist, fand ich diesen Zugriff richtig. Außerdem habe ich in meiner Theaterlaufbahn gelernt, dass eh alles auf meinen Körper und meine Biografie zugeschrieben wird, also beschreibe ich Alis Äußeres wie meins. Um damit zu spielen.
Sie arbeiten viel mit Metaphern und Vergleichen. Besonders schön war der Vergleich von einem Minarett mit vielen hängenden Mikrofonen mit einem "Rosenstamm mit Dornen". Hat Sie Ihr Aufenthalt in Istanbul besonders dazu gereizt, in Metaphern zu denken und zu schreiben?
Salzmann: Istanbul selbst funktioniert für mich als Metapher, weil die Stadt so viele Jahrhunderte gleichzeitig trägt. Ich bin sehr verliebt in Istanbul, anfänglich wollte ich meine Liebeserklärung aufschreiben. Mir schien dort alles möglich und alles so schwierig. Die Stadt ist ein amorphes Wesen und ich transformierte in ihr. Ich will die Stadt und ihre politische Situation nicht romantisieren, ich weiß, wie ernst die Lage dort ist. Aber vielleicht geht das nicht anders, wenn man liebt.
Die Geschichte eines Jahrhunderts wird über vier Generationen einer Familie erzählt. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, außerdem parallel dazu die Erfahrung eines Geschlechterwandels zu beschreiben?
Salzmann: Paul B. Preciado, ein zeitgenössischer Philosoph, hat über seine Erfahrung mit Testosteron gesagt, "Durch meine Venen fließt die Transformation eines ganzen Jahrhunderts" und das hat mich inspiriert. Die Migration zwischen Geschlechtern und Ländern sind miteinander verknüpft. Ich wollte aber mit "Ausser sich" etwas erörtern und verstehen. Ich bin selber nicht cis-ident und ich habe in Istanbul in einer Community gelebt, die hauptsächlich aus Transfrauen bestand.
Mein Blick auf Istanbul war aus dieser Community heraus und ich wollte diese Frauen mitporträtieren. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum es Leute so irritiert, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Ich akzeptiere, dass das gesamte Lebenskonstrukt von manchen auf Zweigeschlechtlichkeit zu basieren scheint. Trotzdem finde ich, das müssen wir verhandeln. Simone de Beauvoir sagte, das weibliche Geschlecht ist gemacht. Das hat eine Denkrevolution ausgelöst. Momentan sind wir bei dem Gedanken, dass nicht nur das weibliche, sondern Geschlecht an sich ein Konstrukt ist.
Mein Roman versucht Fluidität auf allen Ebenen – in der Sprache, im Geschlecht, in Nationen. Die bekannten binären Systeme, in denen wir aufgewachsen sind, wanken komplett. Der Austausch unter den sogenannten Minderheiten nimmt zu. Auch die neuen Technologien haben diese Kommunikation möglich gemacht. Aber dazu gehört auch die Angst der Menschen vor dem Ungewissen, die dazu führt, dass sie die Faschisten wählen. Mein Buch wurde von manchen als eine Antwort auf diese rechte Bewegung in Europa rezipiert, weil in dem Roman alles vorkommt, wogegen die Rechte wettert. Aber ich habe nicht gegen die Rechte geschrieben. Ich habe überhaupt nicht gegen etwas geschrieben. Ich habe für uns geschrieben, also für die Leute, die nicht bei den Rechten mitlaufen und für alle die, an die ich glaube, und ein Recht auf Existenz und Anerkennung haben.
In dem Roman sagt die Mutter Valja, dass Migration tötet. Es ist sehr nachvollziehbar, dass es von Valja kommt, aber inwieweit stimmen Sie dieser Aussage zu?
Salzmann: Ich habe eine konträre Meinung dazu, aber es stimmt schon, dass sie töten kann. Ich würde sagen, Emigration ist der Versuch zu Überleben. Ich glaube, dass Menschen nur überleben, wenn sie sich weiterentwickeln und dass Bewegung ein Teil der Weiterentwicklung ist. Ich glaube, dass Exil tötet, weil es erzwungen ist und dass man im Exil sehr viel Glück haben muss und sehr viel Hilfe, damit der Prozess nicht innerlich tödlich verläuft. Wenn es ein freiwilliger Akt ist, kann Migration etwas Wunderbares sein, aber eben – sie ist es so selten.
Das Interview führte Noha Abdelrassoul.
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Sasha-Marianna Salzmann: "Ausser Sich" , Suhrkamp Verlag 2017, 366 Seiten, ISBN: 978-3-518-46926-2