Zwischen Toleranz und Ablehnung
Nach zehnjähriger Bauzeit wurde am 23. September die Moskauer Hauptmoschee eröffnet. Sie bietet bis zu 10.000 Gläubigen Platz. Laut dem Vorsitzenden des Rates der Muftis Russlands, Rawil Gajnutdinow, ist sie somit eines der größten muslimischen Gotteshäuser in ganz Europa. Ursprünglich stammt die Moschee aus dem Jahr 1904, doch sie wurde im Mai 2005 abgerissen, um Platz für einen Neubau zu schaffen.
In der russischen Hauptstadt gibt es damit jetzt sechs Moscheen. Die Zahl der Muslime im Großraum Moskau wird auf etwa zwei Millionen geschätzt. Insgesamt leben in der Russischen Föderation rund 20 Millionen Muslime.
Der Islam gilt als eine Art Ideologie
Die Menschen in Russland unterscheiden stark zwischen dem Islam als Religion und den Muslimen selbst: Zu diesem Ergebnis kommt Alexander Werchowski vom Moskauer Forschungszentrum Sowa. Ihm zufolge sagen bis zu 40 Prozent der Russen, sie hätten eine negative Meinung über den Islam, aber nur 12 Prozent behaupten das in Bezug auf die Muslime. Von vielen Russen wird der Islam "als eine Art Ideologie wahrgenommen, als etwas Gefährliches, das mit Terrorismus verbunden ist", so Werchowski.
Allerdings betont er, in Russland sei gegenüber bestimmten ethnischen Gruppen - vor allem aus dem Kaukasus - generell die Toleranz sehr gering. Doch mit Religion habe das nicht viel zu tun. "Die Menschen lehnen den Bau neuer Moscheen ab, da sie befürchten, dass dann viele Migranten in ihr Viertel ziehen. Sie fürchten weniger die Moschee, sondern eher den Zustrom fremder Menschen", erläutert der Experte. Dies führe oft zu offener Aggression. In Russland gebe es viele ethnisch motivierte Übergriffe - aber kaum religiös motivierte.
Der russische Staat, so Werchowski, betrachte allerdings das islamische religiöse Leben zunehmend durch das Prisma der Terrorismusbekämpfung: "Ein Risiko stellen aus der Sicht der Behörden alle islamischen informellen Gruppen dar. Ihnen können zugleich friedliche Menschen, aber auch Extremisten des bewaffneten Untergrunds angehören." Der Wissenschaftler kritisiert, dass in Russland zusammen mit tatsächlich extremistischen Strukturen auch friedliche Gemeinschaften verboten worden seien.
Einwanderung schürt Argwohn
In Russland gebe es durchaus eine Islamfeindlichkeit, meint der bekannte Orientalist vom Moskauer Carnegie-Zentrum, Alexej Malaschenko. "Sie wird durch die Konflikte im Kaukasus angeheizt, aber auch durch interne und externe Migration sowie Extremismus." Eine gewisse Toleranz gebe es aus seiner Sicht nur bei der Kleidung: "Niemand achtet darauf, ob jemand ein Kopftuch trägt."
Was den Bau von Moscheen in russischen Städten angehe, so werde diese Frage von den Menschen sehr unterschiedlich gesehen. "Unweit meines Hauses wurde vor einigen Jahren eine große Moschee errichtet. Noch nie habe ich von Konflikten gehört", sagte Malaschenko. Er fügte hinzu, dass der Vorsitzende des Rates der Muftis Russlands der Meinung ist, dass es in jedem Moskauer Stadtbezirk eine Moschee geben sollte. "Und er hat Recht, weil Moskau die größte muslimische Stadt Europas ist", so Malaschenko.
"Aber als man wirklich die Anzahl der Moscheen erhöhen wollte, sprachen sich die Menschen dagegen aus, weil sie sich vor Migration fürchten", sagt der Orientalist. "Aber Migranten sind doch einfach Menschen, sie müssen irgendwo beten! Sonst gehen sie eher in seltsame Gebetshäuser, die Brutstätten für Extremismus sind."
Komplexer Alltag
Der Leiter der Gesellschaft für politische Immigranten aus Zentralasien, Bachrom Chamrojew, ist davon überzeugt, dass der russische Staat einen wahren Krieg gegen den Islam führt - in erster Linie gegen unabhängige islamische Organisationen und Verbände. "Die Situation ist äußerst kompliziert. Es gibt Repressionen und erfundene Strafverfahren, sogar gegen Tataren und Baschkiren", sagte Chamrojew.
"Heute ist es in Russland sehr schwierig, ein Muslim zu sein. Es gibt sehr viele Fälle, wo lokale Behörden versuchen, das Tragen des Hidschab oder religiöse Literatur als extremistisch zu verbieten", beklagt der Aktivist. Menschen würden oft gar nicht wissen, dass sie im Haus Literatur haben, die als extremistisch gilt. Doch Chamrojew sagt auch: "Im Alltag werden die Muslime insgesamt gut behandelt."
Yulia Vishnevetskaya
© Deutsche Welle 2015