Die Geschichte einer Aneignung
„Kann der Islam Demokratie?“ So titelten deutsche Medien auf dem Höhepunkt der Ereignisse in Ägypten im Januar / Februar 2011 ein ums andere Mal. Das Überspringen der Forderung nach Demokratie und Freiheit auf die anderen Staaten der arabischen Welt erweckt allerdings den Eindruck, dort bestünde wenig Zweifel, dass "der Islam Demokratie kann" – um diese zweifelhafte Formulierung noch einmal zu bemühen.
Über das Thema „Demokratie“ ist in den vergangen Jahrzehnten in der islamischen Welt viel nachgedacht und viel geschrieben worden. Und die Ansichten haben sich im Laufe der Jahrzehnte sehr gewandelt.
Im Folgenden soll der Demokratie- und Menschenrechtsdiskurs in Iran untersucht werden – und zwar sowohl aus einer historischen als auch einer aktuellen Perspektive. Es soll beschrieben werden, wie die Demokratie in den sechziger und siebziger Jahren von einigen namhaften Intellektuellen jener Zeit gesehen wurde – negativ nämlich. Und es soll dargelegt werden, wie es dann mit dem Beginn der neunziger Jahre in den Texten einiger herausragender Denker zu einer Hinwendung zur Demokratie kam.
Diese Hinwendung war ein Resultat des real existierenden Islamismus, der abschreckend gewirkt hatte. Der demokratische Post-Islamismus jedoch, wie er hier genannt werden soll, bedurfte einer argumentativen Einbettung. Es musste in einem Staat, in dem Demokratie und Menschenrechte als unislamisch galten – so Ayatollah Khomeinis Diktum –, eine Begründung gegeben werden, warum sie doch islamisch sind oder dem Islam wenigstens nicht widersprechen.
Demokratie und Gewalt
Für den Diskurs der sechziger und siebziger Jahre war ein markantes Ereignis ausschlaggebend. Dieses Ereignis bedingte, wie über den gedacht wurde, der für die Demokratie zu stehen behauptete, den Westen. Die Rede ist vom Sturz des iranischen Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh: Der US-Geheimdienst stürzte Mossadegh, weil dieser die iranischen Erdölvorkommen verstaatlicht hatte, und brachte den bereits geflohenen Diktator Mohammad Reza Pahlavi wieder zurück auf den Pfauenthron. Von diesem Zeitpunkt an baute Mohammad Reza Pahlavi seine diktatorische Herrschaft mit amerikanischer Hilfe aus. Seither galt der demokratische Westen in den Augen vieler iranischer Intellektueller als diskreditiert.[embed:render:embedded:node:17551]
Unter dem Eindruck dieses Ereignisses schrieb Mohammad Hosein Tabatabai (1903-1981), genannt Allame, der Hochgelehrte, über die Demokratie. Als der Hochgelehrte gilt er in Iran, weil er der Verfasser des wichtigsten schiitischen Korankommentars des 20. Jahrhunderts ist, des Tafsir al-mizan. Außerdem war Tabatabai Philosoph und vertrat damit eine Disziplin, die vom klerikalen Establishment zwar nur wenig geschätzt wurde, unter jungen Geistlichen jedoch um so mehr.
Tabatabai trat im Jahre 1961 mit einem Text an die Öffentlichkeit, in dem es um die politische Herrschaft der Geistlichen geht. Bis dato hatte gegolten, dass bis zur Rückkehr des zwölften Imams jedwede politische Herrschaft illegitim ist. Deshalb dürften die Geistlichen nicht herrschen, sondern müssten sich in geduldigem Warten üben. Eine säkulare Herrschaft sei anzuerkennen, hatte Hosein Boroujerdi, die wohl wichtigste religiöse Autorität jener Zeit, in den fünfziger Jahren dekretiert. Von der Monarchie versprach sich Boroujerdi mehr Kontinuität und Achtung der islamischen Gesetze als von einem republikanischen System, und er hatte jedwede anderslautende Meinung verboten. Die meisten Geistlichen, auch Ayatollah Khomeini, waren ihm in dieser Haltung widerspruchslos gefolgt, doch nun war sein Tod im Jahre 1961 neuerlicher Auslöser für die Frage geworden, wer in einem schiitischen Staat der legitime Herrscher sei.
Was Tabatabai als Antwort auf die Frage nach der legitimen Herrschaft formuliert, muss vor dem Hintergrund einer Monarchie gesehen werden, die sich konstitutionalistisch nennt und demokratisch zu sein behauptet: Es gibt in ihr einen Ministerpräsidenten, Wahlen und ein Parlament. Tabatabai scheint anzunehmen oder behauptet zumindest, dass dieser Staat dem entspreche, was im Westen Demokratie genannt wird. Das dürfte an der Unterstützung liegen, die der Schah durch den Westen erfährt. Weil also das iranische System eine Demokratie zu sein behauptet und dennoch tyrannisch ist, wendet sich Tabatabai von der Demokratie insgesamt ab. Tabatabai schreibt:
Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, dass wir die Herrschaft und die Vorschriften der Demokratie angenommen und in der Reihe der fortschrittlichen westlichen Länder Platz genommen haben. Doch wir sehen, wie sich unser Zustand Tag für Tag verschlechtert und schlimmer wird. Und von diesem Baum, der für die anderen voller Segen und voller Früchte ist, pflücken wir nur die Früchte des Unglücks und der Schande.
Zwar fordert Tabatabai statt der Demokratie nicht direkt die politische Führung durch die Rechtsgelehrten und erklärt nur, dass er die Demokratie als Regierungsform für diskreditiert halte. Aber er sagt andererseits deutlich, dass das Volk eine Art Oheim brauche, der sich kümmere wie ein Vormund um die Waisen. Der Vormund muss ein Rechtsgelehrter sein, weil nur ein solcher gerecht ist. Ihm kommt eine Führungsbefugnis, velayat, über das Volk zu, denn dies sei ein Gesetz des Islam.
Die Rezeption der westlichen Kulturkritik
Die grundsätzliche Frage, ob man dem Westen und damit seinem Regierungssystem nacheifern sollte oder sich auf eigenes besinnen, war in den sechziger Jahren nicht auf die Geistlichkeit beschränkt. Auch für die säkularen Intellektuellen war das wichtigste Thema die Auseinandersetzung mit dem Westen, mit seinen Ideen, seiner Kultur und ihren Auswirkungen auf Iran. Die säkularen Intellektuellen jener Jahre waren zugleich vom Westen inspiriert, standen ihm aber auch kritisch gegenüber. Nach Hiroshima und Vietnam, Algerien, dem Kalten Krieg und dem sowjetischen Expansionismus hatten Liberalismus und Sozialismus als Ideen ihre Anziehungskraft verloren, und viele iranische Denker stimmten in die Kritik ein, die im Westen Intellektuelle wie Albert Camus, Erich Fromm, Herbert Marcuse und Jean-Paul Sartre formulierten.
Das galt vor allem für Jalal Al-e Ahmad (1923-1969), der einige dieser Autoren ins Persische übersetzte. Im Jahre 1962 veröffentlichte Al-e Ahmad den Essay Gharbzadegi, Das Vom-Westen-Besessensein bzw. wörtlich Das Vom-Westen-Geschlagensein. Hier schrieb er:
Ich sage gharbzadegi, das Vom-Westen-Befallensein, wie von der Cholera befallen sein (vaba zadegi). Oder wenn das nicht gefällt, wie ein Sonnenstich (garma zadegi) oder wie eine Frostbeule (sarma zadegi). Oder nein. Es ist mindestens so wie Wanzenbefall (senzadegi). Habt ihr gesehen, wie sie Weizen verderben? Von innen. Mit heiler Hülle steht der Weizen, aber er ist nur Hülle. Wie die Hülle, die vom Schmetterling am Baum bleibt. Jedenfalls ist die Rede von einer Krankheit.
Wenn es einen einzigen wirklich einflussreichen Text in der modernen iranischen Geschichte gegeben hat, dann sei es dieser, heißt es gemeinhin in der iranistischen Forschung. Gharbzadegi gilt als das "heilige Buch" mehrerer Generationen. Dieser Essay stellte für über zwei Jahrzehnte das Vokabular iranischer Sozialkritik bereit und formulierte die Essenz der anti-westlichen Disposition des Diskurses. Al-e Ahmads Thesen waren für alle Intellektuellen prägend, und vermutlich gab es am Vorabend der Revolution niemanden, der an Al-e Ahmads Analyse der iranischen Gesellschaft gezweifelt hätte.
Al-e Ahmad behauptete, dass die Krankheit Irans in der gedankenlosen Übernahme westlicher Verhaltensweisen und Ideen bestehe. Zwar griff er damit die Demokratie nicht direkt an, aber er entdeckte den Islam als einzig authentische Komponente iranischer Kultur wieder. Al-e Ahmad erläuterte einem erstaunten, säkularen Publikum die potentielle Macht und Kraft der Religion und erklärte die Geistlichkeit zum bedeutendsten Teil der authentischen Identität: Die Geistlichen seien die einzigen, die sich dem negativen Einfluss des Westens entzögen, und es sei der Islam gewesen, der verhindert habe, dass der Westen Iran christianisierte, kolonialisierte und ausbeutete. Al-e Ahmad machte als der wichtigste säkulare Intellektuelle der Sechziger den Islam zum Thema – und er bereitete damit dem größten und wirkungsmächtigsten Demokratiekritiker der Siebziger den Weg.[embed:render:embedded:node:16895]
Fortschritt durch Revolution
Ali Shari'ati (1933-1977) beeinflusste die Generation, die später eine Revolution machen sollte, um den westlichen Einfluss abzuschütteln, in kaum zu überschätzender Weise. Einer seiner einflussreichsten Texte und der erwähnte Aufsatz von Tabatabai haben zusammen mit der berühmt gewordenen Vorlesung Ayatollah Khomeinis über die islamische Regierung exakt dieselbe Stoßrichtung: Sie alle kritisieren den Westen im Allgemeinen, sind deshalb gegen die Demokratie und stattdessen für eine islamische Regierung. Außer Acht sei hier gelassen, wie naiv und unkritisch die drei Autoren die von ihnen als islamisch bezeichnete Regierung sehen oder wie fehlerhaft ihre Definition der westlichen Demokratie ist. Es geht darum festzuhalten, dass der Westen und mit ihm der Demokratiegedanke von diesen drei Denkern so heftig attackiert und der weise Führer dagegen so hoch gelobt wurde, dass die Hinwendung einer ganzen Generation von Studenten zum Islamismus quasi unausweichlich war. Sie alle waren durch diese Denker intellektuell sozialisiert worden, und als Ali Shari'ati schrieb, der Westen behaupte zwar, die Demokratie sei diejenige Staatsform, welche die Menschenrechte am meisten achte, doch er wolle die Menschenrechte nur für sich selber, folgten ihm Hunderttausende. Shari‛ati schrieb:
Wir verdanken den Kolonialismus, der Massenmord an Völkern, Vernichtung der Kulturen, Reichtümer, Geschichten und Zivilisationen der nicht-europäischen Menschen mit sich brachte, den Regierungen, die demokratisch gewählt wurden, Regierungen, die an Liberalismus glaubten. Diese Verbrechen wurden nicht von Priestern, Inquisitoren und Cäsaren begangen, sondern im Namen der Demokratie und des westlichen Liberalismus.
Doch nicht nur das Verhalten der Demokraten spricht für Shari'ati gegen die Demokratie. Eine weitere Frage, die er stellte, war, ob die Demokratie an jedem Ort, in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit im Interesse der zurückgebliebenen Massen ist. Shari‛atis Einwände richteten sich vor allem gegen die Demokratie als Regierungsform für Iran. Man könne mit ihr nicht das erreichen, was er für das Wichtigste hält: Fortschritt. Shari'ati wollte revolutionäre Veränderung, hielt es aber für undenkbar, dass die iranische Bevölkerung die Regierung wählt, die diese herbeiführt, nämlich eine, wie Shari‛ati schrieb, imamitische Führung. Sogar deren totalitäre Politik hält Shari'ati für vertretbar, weil sie sonst gegen die Wagenburg der beharrenden Kräfte keine Chance hätte.
Der nächste Denker, der dazu beitrug, dass sich nach der Revolution von 1978/79 eine Ein-Mann-Führung gegenüber der Demokratie durchsetzte, war natürlich Ayatollah Khomeini (1902-1989). Khomeinis Kritik an der Schah-Regierung betraf in den sechziger Jahren zunächst die zunehmende staatliche Kontrolle vor allem in der Rechtsprechung, die Säkularisierung insgesamt und die damit einhergehende Schwächung der islamischen Institutionen, die staatliche Repression und den Einfluss der USA auf die Politik.
Wegen dieser Kritik ins Exil nach Najaf geschickt, hielt Khomeini im Winter 1971 eine Vorlesungsreihe, die niedergeschrieben und unter dem Titel Hokumat-e eslami, "Die islamische Regierung", veröffentlicht wurde. Sie enthält Khomeinis Grundgedanken über die Weisungen des Islam, zum islamischen Staat, zur Notwendigkeit, einen solchen Staat zu schaffen, und zu seiner Zielsetzung. In weiten Teilen liest sich die Vorlesung allerdings wie eine anti-imperialistische Kampfschrift: Die einzig wahre iranische Identität sei die islamische, deshalb könne nur die Rückbesinnung auf den Islam das Land vor dem Untergang retten. Deshalb attackiert Khomeini die Geistlichen, die sich von der Politik fernhalten. Laut Khomeini werde heute in den theologischen Hochschulen ein falscher, weil unpolitischer Islam unterrichtet. Die Geistlichen hätten eine kolonialistische Haltung angenommen und würden inzwischen selber glauben, was die Ausbeuter, Unterdrücker und Kolonialisten ihnen weismachen wollten: Dass man Islam und Staat und Politik trennen sollte. Dagegen behauptet Khomeini, es sei seit Jahrhunderten unter den Geistlichen Konsens, dass die Geistlichen die Aufgaben des Propheten und der Imame zu übernehmen hätten. Dies begründet er folgendermaßen:
Erstens: Es ist historisch belegt, dass der Prophet einen Staat begründet hat. […] Zweitens: Er hat auf Befehl Gottes für die Zeit nach seinem Ableben einen Herrscher bestimmt. Wenn Gott, der Erhabene, für die Gesellschaft nach dem Propheten einen Herrscher bestimmt, bedeutet das, dass der Staat auch nach dem Ableben des Propheten notwendig ist. Und da der Prophet die Anweisung Gottes testamentarisch mitteilt, erklärt er damit die Notwendigkeit der Gründung eines Staates.
Ein weiteres Argument Khomeinis ist die Tatsache, dass Gott ein Gesetz, zum Beispiel das Strafgesetz, offenbart hat. Dieses muss folglich auch angewendet werden. Damit lässt Khomeini allerdings bewusst außer Acht, dass die Durchführung des Strafgesetzes nach Ansicht der meisten zu den Prärogativen des entrückten zwölften Imams zählt, und deshalb gemäß der traditionellen schiitischen Sicht in der Zeit der großen Verborgenheit ausgesetzt ist. Khomeini postuliert mit einer Sicherheit, die keinen Widerspruch zulässt:
Keiner kann sagen, dass es nicht mehr notwendig ist, […] die Steuern, die Kopfsteuer, den Fünft und die Almosensteuer zu zahlen oder einzunehmen, und dass das Strafrecht, das Blutgeld und das Recht auf Vergeltung ausgesetzt werden.
Wichtiger als diese umstrittene Argumentationsführung aber war, dass Khomeini sich perfekt als Besetzung der Rolle anbot, die Shari‛ati beschrieben hatte. Jeder, der Shari'atis Aussagen über die imamitische Führung hörte und las, dachte in den siebziger Jahren an Khomeini – den aufrührerischen Geistlichen, der vom Irak aus gegen den Schah wetterte. Shari‛ati verschaffte Khomeini enorm viele Anhänger, vermutlich mehr als sein eigenes Werk über den islamischen Staat, das kaum jemand kannte und kaum jemand verstand und niemand ernst nahm. Shari‛ati dagegen galt als weltläufig, denn er hatte in Paris im Fach Soziologie promoviert. Er war ein mitreißender Redner, ein Charismatiker, belesen und gut aussehend. Tausende hingen an seinen Lippen, wenn er in den siebziger Jahren im Teheraner Versammlungsort Hosseini-ye ershad sprach.
Dabei favorisierte Shari'ati selbst mitnichten die velayat-e faqih, die Führung durch einen Rechtsgelehrten, wie Khomeini sie beschrieben hatte. Shari‛ati greift die Idee nicht auf; es lässt sich nicht einmal sagen, ob er Kenntnis von der Vorlesung Khomeinis hatte. Zudem schwebte Shari‛ati mit Sicherheit kein Geistlicher als Prototyp des Führers vor, denn er stand der Geistlichkeit sehr kritisch gegenüber. Dessen ungeachtet bleibt: Das Konzept Demokratie ließ sich nicht in den iranischen Kontext übersetzen: weder praktisch noch theoretisch. Erfolgreicher war in den siebziger Jahren im vorrevolutionären Iran die Idee, die in Konkurrenz zur Idee der Demokratie antrat, der Gedanke eines – wenn man so will – Philosophenstaates. Das Ergebnis war 1979 die Etablierung des Systems der sogenannten velayat-e faqih, der Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten.
Iran heute
Iran nennt sich seit der Revolution von 1978/79 "Islamische Republik Iran". Tatsächlich hat das iranische, in der Welt vom Staatsaufbau her einzigartige, System republikanische Elemente, wenn diese auch durchgängig von den theokratischen ausgehebelt werden. Khomeini hatte sich im Vorfeld der Abstimmung über die zukünftige Regierungsform explizit gegen den Begriff "Demokratische Islamische Republik" gewandt; er hatte erklärt, die Nation wolle eine islamische Republik, nicht nur eine Republik, nicht eine demokratische Republik, nicht eine islamische demokratische Republik. Man solle den Begriff "demokratisch" nicht benutzen, denn das sei eine westliche Begrifflichkeit. Dass auch Republik eine westliche Begrifflichkeit ist, wurde von Khomeini dabei geflissentlich übergangen.
Zwar ist Iran, seit Khomeini 1979 seine Ablehnung der Demokratie bekundete, nicht demokratischer geworden, aber der Diskurs über die Demokratie hat sich in den letzten Jahren vollständig gewandelt. Ein Beispiel hierfür ist Mohammad Mojtahed Shabestari (geb. 1936). Shabestari ist heute einer der wichtigsten Denker Irans. Auch er wurde intellektuell durch Shari'ati, Tabatabai und Khomeini sozialisiert, hat sich aber inzwischen von ihren Ansichten emanzipiert. Shabestari hat ein sehr eindeutiges Plädoyer für die Demokratie vorgelegt. Er befürwortet die Demokratie aus mehreren Gründen: So widerspreche sie nicht dem Willen des Schöpfers – was Khomeini bestritten hätte.
Das zentrale Argument Shabestaris ist jedoch, dass die Demokratie verwirkliche, was bereits Imam 'Ali, der erste Imam der Schiiten, in seinem Regierungsauftrag von der idealen Regierung forderte. 'Ali, der Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammad, ernannte in seiner Amtszeit als Kalif Malik al-Ashtar zu seinem Statthalter in Ägypten und gab ihm einen Regierungsauftrag mit auf den Weg. Zwar bezweifelt die westliche Islamwissenschaft die Authentizität dieses Dokuments, doch das ist für die Frage seiner Wirkmächtigkeit unerheblich. Denn dessen ungeachtet nimmt der Regierungsauftrag in der schiitischen Staatsphilosophie eine ganz zentrale Position ein. 'Ali erklärt darin seinem Statthalter, wie dieser herrschen soll, um sich Gottes Wohlgefallen sicher zu sein. Der Regierungsauftrag gilt deshalb als normativ für good governance in der Schia.
Weil der Regierungsauftrag von den meisten Schiiten als normativ angesehen wird, spielt Shabestari mit seinem Argument auf einer wohlbekannten Klaviatur. Der Inhalt des Regierungsauftrags gibt Shabestaris Behauptung durchaus Recht, dass die Herrschaft in erster Linie eines sein muss, nämlich gerecht. Detaillierte oder konkrete inhaltliche Anweisungen wie die von Khomeini behauptete Notwendigkeit, die im Koran erwähnten Strafgesetze auch anzuwenden, finden sich dagegen in diesem Dokument nicht. Auch das betont Shabestari, und es ist tatsächlich insofern bedeutsam, als 'Ali den Schiiten als der wichtigste Koraninterpret überhaupt gilt. Wenn 'Ali, der erste Imam der Schiiten, seinem Statthalter nicht die Anweisung gibt, beispielsweise das ius talionis oder die hadd-Strafen anzuwenden, hat er den Koran offensichtlich nicht so verstanden als müsse dies geschehen. Stattdessen schreibt 'Ali seinem Statthalter:
Oh Malik, sei gerecht gegenüber Gott und dem Volk. Wer immer die Diener Gottes unterdrückt, macht sich Gott zum Feind und ebenso jene, die er unterdrückt. Das Schlimmste, was einem Volke widerfahren kann und was den Zorn Gottes und seine Vergeltung unwiderruflich hervorruft, sind Unterdrückung und Tyrannei über die Geschöpfe Gottes. Davor möge sich der Herrscher hüten, denn der barmherzige Gott hört die Rufe der Unterdrückten.
Empirisch gesehen, so Shabestari, erfülle die Demokratie, die als diejenige Regierungsform zu gelten hat, welche die Unterdrückung und Tyrannei am wirksamsten verhindert, das wesentlichste von Imam 'Ali festgelegte Kriterium für good governance. Für Shabestari ist maßgebend, und damit steht er im Übrigen ganz in der Tradition der konstitutionalistischen Bewegung der Jahre 1906 bis 1911, dass die Demokratie eine Herrschaftsform ist, die Tyrannei verhindert – und Gerechtigkeit schafft.
Ähnlich sieht dies Abdolkarim Soroush (geb. 1945), der wohl bedeutendste Intellektuelle Irans. Anfang der neunziger Jahre wandte sich Soroush, der auf dieselbe Sozialisation zurückblickt wie Shabestari, vom Islamismus ab und begann, die Idee einer sogenannten hokumat-e demukratik-e dini, einer religiös-demokratischen Regierung, zu propagieren. Seiner Meinung nach kann eine Regierung sowohl religiös als auch demokratisch sein, denn religiöse Vorschriften, die der Demokratie widersprächen, könnten einer neuen Interpretation unterzogen werden. Hierfür hat Soroush in zahlreichen seiner Schriften plädiert und sie mit der Theorie von der sogenannten "Theoretischen Verengung und Erweiterung der Scharia" argumentativ untermauert.
Die religiöse Demokratie, die Soroush vorschwebt, unterscheidet sich dabei nicht von einer herkömmlichen westlichen Demokratie, und seine Akzeptanz der Menschenrechte ist keine bedingte, sondern eine absolute. Das ist schon insofern bemerkenswert, als noch Ayatollah Khomeini die Menschenrechte als eine Sammlung korrupter Normen bezeichnete, die von den Zionisten ausgedacht worden seien, um alle wahren Religionen zu zerstören. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde ganz in diesem Sinne von Iran, aber auch von Sudan, Pakistan und Saudi-Arabien wegen der fehlenden Einbeziehung des kulturellen und religiösen Bezugs der nichtwestlichen Länder kritisiert. Es wurden Stimmen laut, denen sie als eine säkulare Interpretation der judäo-christlichen Tradition galt, die von Muslimen nicht ohne Bruch des islamischen Rechts befolgt werden könne.
Religion als Gewissen der Gesellschaft
Soroush dagegen argumentiert, es gebe prinzipiell auch außer- oder meta-religiöse Werte und Rechte. Diese würden nicht durch die Religion begründet, widersprächen ihr aber auch nicht. Grundsätzlich könne kein vernünftiges Gebot oder Recht der Religion widersprechen – und schon gar nicht dem schiitischen Islam, der besonders vernunftorientiert sei. Um ein Beispiel zu geben, wie Soroush das meint: Während es bei den Sunniten heißt, Lügen ist schlecht, weil die Religion dies sagt, meinen die Schiiten – in der Tradition der Mutaziliten, der großen Rationalisten des Islam –, weil Lügen schlecht ist, sagt dies auch die Religion aus. Aus ebendiesem Grund, befindet Soroush, müssten Schiiten die Menschenrechte akzeptieren, weil sie nämlich schlicht und ergreifend eines sind, vernünftig.
Soroush hinterfragt damit auch die Behauptung Khomeinis, das islamische Recht müsse angewendet werden. Anders als Khomeini ist ihm wichtiger, dass die Seele der Regierung religiös ist. Sein Argument ist: Nicht eine Gesellschaft, in der das islamische Recht angewendet wird, ist religiös, sondern eine Gesellschaft, in der die Menschen sich freiwillig zum Glauben bekennen. Allein durch die Anwendung der Scharia schaffe man keine "religiöse Gesellschaft", sondern nur "eine nach dem islamischen Recht lebende". Wichtiger als die Anwendung des islamischen Gesetzes ist für Soroush aber, dass einer religiösen Handlung auch ein frommer Antrieb zugrunde liegt. Diese Frömmigkeit sei aber nicht erzwingbar.
Heuchelei und Verstellung sind die größeren Sünden, nicht Alkoholgenuss und Glücksspiel. Aber in der Regierung des islamischen Rechts wird der äußerlichen Handlung mehr Bedeutung beigemessen und nicht der Aneignung des Herzens.
Soroushs Ideal ist ein religiöser Staat, in dem der Glaube herrscht, aber nicht als gesetzgeberische oder politische Instanz, sondern als Geist und Gewissen der Gesellschaft. Ihr Ziel ist Frömmigkeit, die aber nur durch Freiheit verwirklicht werden kann. Freiheit ist in Soroushs Utopie vom islamischen Staat eine notwendige, gottgefällige Vorbedingung für frei gewählte Religiosität und damit ein Argument für die Überlegenheit der demokratischen Ordnung. Zwischen Soroushs religiös-demokratischer Regierung und einer normalen demokratischen Regierung gibt es dabei keinen formalen Unterschied. Soroush schreibt:
Tatsächlich muss man nicht erwarten, dass eine religiöse Regierung sich dem Wesen nach von einer nicht-religiösen unterscheidet. Es ist ja auch nicht so, dass auf dieser Welt die vernünftigen Menschen auf zwei Beinen laufen und die religiösen auf dem Kopfe. Was soll schlecht daran sein, wenn die Völker anderer Gesellschaften in der Frage der Regierung dieselben Methoden akzeptiert haben, auf die wir durch unsere Definition der religiösen Regierung gestoßen sind?
Hier wird eine traditionelle Norm in ein modernes Prinzip bzw. eine moderne Norm übersetzt. Als vernacularization hat dies die Ethnologin Sally Engle Merry bezeichnet. Oder als framing. Diese Art der Übersetzung scheint sehr hilfreich und kann nicht als apologetisch zurückgewiesen werden: Das framing der Demokratie als ein islamisches Schlüsselkonzept der Gerechtigkeit mobilisiert die Gesellschaft, dieses soziale und politische Ziel anzustreben. Noch aus einem anderen Grund ist framing notwendig. Nur wenn Ideen wie die Demokratie wirklich angeeignet werden – die Philosophin Seyla Benhabib hat diesen Prozess Iteration genannt –, verliert sich der Verdacht eines westlichen Paternalismus.
Wie sehr sich die Haltung zur Demokratie verändert hat, zeigt sich nicht nur an den Positionen progressiver Denker wie Shabestari und Soroush, die in Iran nouandishan-e eslami, wörtlich "Islamische Neudenker", "Islamic Newthinkers", genannt werden. Es zeigt sich auch an der Reaktion der Nicht-Demokraten. Der gegenwärtige Parlamentspräsident Ali Larijani (geb. 1958) beispielsweise bezieht sich auf das Lincoln’sche Diktum, Demokratie sei die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk. In dem Sinne, sagt er, sei auch das iranische System, die velayat-e faqih, eine Demokratie, schließlich sei auch die velayat-e faqih "für das Volk", und die anderen beiden Komponenten seien weniger wichtig und vernachlässigenswert, argumentiert er. Genauso argumentiert auch Revolutionsführer Khamenei (geb. 1939).
Demokratie als Maßstab
Entscheidend ist nicht, wie unsinnig diese Aussage ist. Wichtig ist vielmehr: Offenbar ist die Demokratie inzwischen so sehr zur Norm und zum allgemeinen Maßstab geworden, an dem man sich messen zu lassen bereit ist, dass diese beiden es vorziehen, das eigene System eher als Demokratie zu deklarieren als die Demokratie rundum abzulehnen – wie es noch vor einigen Jahrzehnten ausgesprochen selbstbewusst Khomeini getan hatte. Natürlich lässt ihre Demokratiedefinition zu wünschen übrig, aber dennoch bietet es den Demokratietheoretikern Soroush und Shabestari andere Ansatzpunkte, wenn auch die undemokratischen Herrscher beginnen, sich auf das Konzept Demokratie einzulassen.
Bedeutsam aber ist, dass Theoretiker wie Soroush und Shabestari der Demokratie eine argumentative Einbettung, ein inner-islamisches framing gegeben haben. Ob es tatsächlich ihr Verdienst ist, dass die iranische Bevölkerung heute demokratiebereiter scheint denn je (so der Eindruck, wenn man die Ereignisse der letzten Jahre betrachtet), ist eine andere Frage. Aber eine islamische Begründung für die Demokratie zu haben, kann sicher nicht schaden.
Der Text basiert auf der Antrittsvorlesung der Autorin an der Universität Zürich im Mai 2011 und wurde auf Deutsch zuerst in der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2011 publiziert.
Katajun Amirpur ist die erste deutsche Professorin auf einem Lehrstuhl für Islamische Studien und Theologie. Die 42-Jährige lehrt an der Hamburger Akademie der Weltreligionen.
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