Mit dem Rücken zur Wand

Die Bilder aus der irakischen Provinz Anbar haben die Welt aufgeschreckt. Vermummte Kämpfer der terroristischen Gruppierung ISIS patrouillieren in den Städten Ramadi und Falludscha und wollen sie einnehmen. Bagdads Zentralregierung droht die Kontrolle über die flächenmäßig größte Provinz des Landes zu verlieren. Einzelheiten von Birgit Svensson aus Falludscha

Von Birgit Svensson

Seit den heftigen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und den islamistischen Rebellen in der irakischen Unruheprovinz Anbar herrscht in Bagdad Krisenstimmung: Ministerpräsident Nuri al-Maliki alarmiert Washington und verlangt eine schnelle Lieferung der schon zugesagten "Hell-Fire"-Raketen und Drohnen. Und der ehemalige Sicherheitsberater Malikis, Muafak al-Rubaie, beschwört die Einheit der Iraker im Kampf gegen die Terroristen. Falludscha, der Albtraum der Amerikaner, droht nun auch zum Horror für die irakische Regierung zu werden. Doch der Konflikt ist hausgemacht.

Die Fahnen stechen sofort ins Auge. Es sind die Fahnen von Saddam Hussein. Gleich nach dem letzten Kontrollpunkt an der Einfahrt nach Falludscha wehen sie stolz am Straßenrand bis zum Demonstrationsplatz an der Hauptstraße.

Während auf den 80 Kilometern von Bagdad kommend schwarze Fahnen mit religiösen schiitischen Schriftzügen die Stützpunkte der Armee markieren, hat seit Beginn der Protestbewegung Ende 2012 kein Soldat mehr seinen Fuß in die mehrheitlich von Sunniten bewohnte Stadt gesetzt. Und das soll auch so bleiben.

Zwar hat die Armee in den letzten Tagen einen Belagerungsring um die Stadt gezogen, aber eingedrungen ist sie nicht. Die würden gelyncht, sind sich die Protestler einig, die sich an einem Morgen Anfang Dezember 2013 auf dem Platz versammelt haben. "Die Leute von Falludscha haben kein Vertrauen in die Armee." Die Fahne Saddams mit den drei Sternen der Baath-Partei ist zum Symbol des Widerstands gegen die Zentralregierung in Bagdad geworden.

Der "Imam ohne Moschee"

Der ermordete Gründer der Protestbewegung in Falludscha, Scheich Khaled Hamood al-Jumaili; Foto: Birgit Svensson
„Al-Maliki ist der neue Saddam!“, so Scheich Khaled Hamood al-Jumaili, der vor kurzem ermordet wurde, als er sich im Industriegebiet Falludschas mit Mitgliedern von al-Qaida traf, um sie zum Verlassen der Stadt aufzufordern.

"Al-Maliki ist der neue Saddam!" Scheich Khaled Hamood al-Jumaili sieht grimmig und verbittert aus, als er das sagt. Sein Hass auf den Premier in Bagdad ist aus jedem seiner Worte heraus zu hören. "Je schwächer er und seine Regierung im inneren werden, desto mehr muss er Stärke nach außen zeigen", kommentiert der Scheich die Situation.

Es habe Tausende von Verhaftungen gegeben. Auch Frauen und Kinder hätten sie mitgenommen. Daraufhin hat der "Imam ohne Moschee", wie sie den sunnitischen Prediger in Falludscha nennen, die Protestbewegung gegründet. Seit über einem Jahr kommen die Menschen täglich zu den Zelten auf dem Platz, unterschreiben Petitionen, machen Lobbyarbeit für ihre Forderungen, hören den Reden zu und schreien sich den Frust aus der Seele.

Sie wollen die Freilassung der Gefangenen, mehr politische Mitsprache, eine Chance im neuen Irak. Scheich Jumaili ist zum führenden Kopf im Kampf der Sunniten gegen den schiitischen Premier geworden. Doch anders als in den Bürgerkriegsjahren 2006/07, kann der jetzige Konflikt im Irak nicht auf die ethnische und religiöse Schiene geschoben werden.

"Es ist ein Kampf der Benachteiligten gegen die Bevorzugten", meint der Scheich. "Eigentlich ist es ein Kampf gegen Nuri al-Maliki". Dieser würde die Iraker spalten, anstatt sie zu versöhnen. Wie Saddam, so würde auch Maliki nur ihm loyal Gesinnte begünstigen. "Und das sind meistens Schiiten."

Inzwischen ist Khaled Hamood al-Jumaili ermordet worden. Unbekannte, bewaffnete Männer hätten ihm aufgelauert, als er sich im Industriegebiet Falludschas mit Mitgliedern von al-Qaida traf, um sie zum Verlassen der Stadt aufzufordern, berichtet ein enger Vertrauter des Scheichs. "Sein Protest war gegen al-Maliki und al-Qaida gleichermaßen gerichtet", gibt er ihm als Vermächtnis mit. Ein Tatverdächtiger sei inzwischen verhaftet worden. Seitdem überschlagen sich die Ereignisse in Anbar.

Die blutigsten Kämpfe seit dem Abzug der US-Truppen

Angefangen haben die blutigsten Kämpfe seit dem Abzug der US-Truppen, als al-Maliki Ende Dezember der irakischen Armee den Befehl gab, das Protestlager in Ramadi, Anbars Provinzhauptstadt, zu räumen. Seit fast vier Jahren bekleidet der Premier auch den Posten des Verteidigungs- und Innenministers und hat so direkten Zugriff auf die Sicherheitskräfte.

Ministerpräsident Nuri al-Maliki; Foto: Getty Images
Der irakische Ministerpräsident als Feindbild der Sunniten: Die Kämpfe in Anbar werden genährt von der Wut der Sunniten über die schiitisch dominierte Regierung von Nuri al-Maliki, von der sie sich benachteiligt fühlen. Zudem sehen sich viele Sunniten durch die Sicherheitskräfte drangsaliert, die von der schiitischen Bevölkerungsmehrheit dominiert sind.

Aus der Luft wurden Fahrzeuge angegriffen, die angeblich schwere Waffen geladen hatten und Terroristen gehörten. Dass es sich um Kämpfer der ISIS handelt, wird von den Einwohnern nicht bestätigt. Wohl aber, dass die ehemaligen al-Qaida-Terroristen, die schon einmal eine Hochburg in Anbar unterhielten, zurückgekehrt seien.

Die Kämpfe in Ramadi griffen schließlich auf Falludscha über. Die Regierung in Bagdad spricht von über 250 Toten, darunter 25 Kämpfer von "al-Qaida nahen Gruppierungen". In einer Audio-Botschaft appelliert ISIS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani an die Sunniten, weiter gegen ihre schiitische Regierung zu kämpfen: "Legt eure Waffen nicht nieder, denn die Schiiten werden euch sonst versklaven."

Premier al-Maliki rief die Bevölkerung auf, die beiden Städte zu verlassen. Der Gouverneur von Kerbela, die für Schiiten heilige Stadt, lud die "sunnitischen Brüder und Schwestern" ein, bei ihm Zuflucht zu finden. Al-Malikis Heimatort liegt nicht weit von Kerbela entfernt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind bereits über 5.000 Familien allein aus Falludscha geflohen.

Prekäre Versorgungslage

Die Situation dort sei besonders prekär, sagt der UN-Sondergesandte für den Irak, Nickolay Mladenov. Durch den Belagerungsring der Armee würden „Nahrungsmittel knapp“. Bei der Wasser- und der medizinischen Versorgung seien ebenfalls schon Engpässe festzustellen.

Anscheinend weiß al-Maliki um die schlechte Stimmung gegen ihn in Falludscha. Die angekündigte militärische Intervention der Armee hat er jedenfalls erst einmal aufgeschoben. Stattdessen sollen die Stammesführer Geld und Waffen bekommen, um selbst gegen ISIS, die neue al-Qaida, vorgehen zu können. Die Armee werde nur eingreifen, wenn die Sicherheitskräfte von Falludscha Hilfe anfordern, heißt es jetzt aus dem Büro des Premierministers.

Erste Kämpfe gab es bereits in den beiden Bezirken al-Askari und al-Shuhada, unweit des Demonstrationsplatzes: Stammeskämpfer trafen dort auf Terroristen. „Doch wir richten auch unsere Waffen gegen die Armee, sollten die Soldaten in die Stadt einmarschieren“, stellt Scheich Rafa al-Jumaili, einer der Anführer der Stämme in Falludscha klar. Die Einwohner von Falludscha wollen sich nicht dazu benutzen lassen, die Reihen hinter dem umstrittenen Regierungschef in Bagdad zu schließen.

Birgit Svensson

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de