Ein Tiefpunkt türkischer Außenpolitik?

Griechenland, türkischer Staatspräsident Erdogan zu Besuch, 2017; Foto: picture-alliance/dpa/AP/Presidency Presse Service/K.Ozer
Griechenland, türkischer Staatspräsident Erdogan zu Besuch, 2017; Foto: picture-alliance/dpa/AP/Presidency Presse Service/K.Ozer

Der Machtwechsel in den USA wirkt sich auch auf den Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland aus. Seitdem die USA auf die griechische Karte setzen, hat sich die strategische Gemengelage im östlichen Mittelmeer zum Nachteil der Türkei verändert, berichtet Ronald Meinardus aus Istanbul.

Von Ronald Meinardus

Die Weltpolitik ist wieder einmal im Wandel begriffen. Die neuen Impulse – auch dies eine Wiederholung – kommen aus Amerika. Die Auswirkungen des Machtwechsels in den USA zeigen sich nicht nur im transatlantischen Verhältnis und einer neuen Tonalität des Westens gegenüber China und Russland, sondern auch bei regionalen Konflikten. Das angespannte türkisch-griechische Verhältnis und der Streit im östlichen Mittelmeer bieten hierfür gutes Anschauungsmaterial.

"Das Eis ist gebrochen“, sagte ein griechischer Regierungssprecher nach dem Gipfeltreffen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit dem Athener Regierungschef Kyriakos Mitsotakis. Das Treffen am Rande des NATO-Gipfels am 14. Juni war die dritte Begegnung der Politiker seit dem Amtsantritt von Mitsotakis in 2019.



Kurz vor dem letzten Treffen der beiden Männer im Dezember jenes Jahres hatte Ankara mit der libyschen Einheitsregierung (GNA) unter Fayiz as-Sarradsch eine Vereinbarung über die Abgrenzung der Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) getroffen – und damit Öl ins Feuer des Verhältnisses zu Griechenland gegossen.

Als "ungültig“ und "geographisch absurd“ hat Athen das „Memorandum of Understanding“ (MoU), zwischen der Türkei und Libyen bezeichnet, das eine Grenzziehung quer durch das östliche Mittelmeer vorsieht und die Existenz namhafter griechischer Inseln ignoriert.



Auch die Europäische Union und die Bundesregierung erkennen das in Libyen nicht ratifizierte, in der Türkei als großer außenpolitischer Erfolg gefeierte Dokument nicht an. In einer Bewertung stellt der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages fest, das MoU verstoße "gegen das völkergewohnheitsrechtliche Seerecht und erscheint im Ergebnis als unzulässiger Vertrag zulasten Dritter“.

Neues Epizentrum des Konflikts

Ankaras Intervention in Libyen mit ihrer namhaften militärpolitischen Komponente ist in hohem Maße von der strategischen Zielsetzung geleitet, die türkische Position im Gasstreit im östlichen Mittelmeer zu stärken – in einer Region mithin, die sich in den zurückliegenden Jahren zum Epizentrum des türkisch-griechischen Konfliktes entwickelt hat. Lagen Athen und Ankara seit Jahrzehnten über diverse Streitpunkte im Ägäischen Meer, die Behandlung der jeweiligen Minderheiten und nicht zuletzt den politischen Dauerkonflikt Zypern über Kreuz, steht der Zwist über die maritimen Hoheitszonen im östlichen Mittelmeer jetzt an erster Stelle. Geographisch geht es dabei um die Gewässer zwischen Kreta und Zypern – und die Abgrenzung der jeweiligen Wirtschaftszonen dort.

Um Haaresbreite wäre es im Sommer 2020 in den umstrittenen Seegebieten zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den entfremdeten NATO-Partnern gekommen. Es war vor allem die politische Intervention der deutschen Bundesregierung, die zu einer Beruhigung der Lage beigetragen hat. Auch die Europäische Union ist und bleibt an vorderster Front involviert. Inzwischen vergeht kein Treffen der Staats- und Regierungschefs ohne eindringliche Mahnung an die türkische Adresse, Ankara möge sich im östlichen Mittelmeer zurückhalten.



Türkisches Wohlverhalten im Streit mit den Griechen – man kann es auch Stillhalten nennen – ist heute eine "conditio sine qua non“ für die Fortentwicklung der türkischen EU-Beziehungen und die Umsetzung der viel zitierten "positiven Agenda“, die die Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel bei ihrem Besuch in Ankara präsentierten.

Der türkische Außenminister Cavusoglu (l.) und sein griechischer Amtskollege Dendias; Foto: Costas Baltas/REUTERS
Treffen des türkischen Außenministers Cavusoglu (l.) mit seinem griechischen Amtskollege Dendias im Mai in Athen. Im Dauerstreit zwischen den beiden NATO-Partnern hat Griechenland seit dem Machtwechsel in den USA die besseren Karten. "Athen ist es gelungen, eine starke diplomatische Front aufzubauen und im Streit mit Ankara wichtigen Beistand zu mobilisieren,“ schreibt Ronald Meinardus. "Ein neuer Fokus dieser Türkei-politisch motivierten Manöver ist die arabische Welt, wo Athen neuerdings mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Ägypten und Israel den Schulterschluss übt.“

"Wir kommen jetzt aus der gefährlichsten Situation für unsere Beziehungen heraus“, sagt Mustafa Aydin von der Kadir Has Universität in Istanbul zum Ausgang des türkisch-griechischen Treffens in Brüssel. Das wichtigste Signal, das von dem Spitzentreffen ausgeht ist, dass beide Seiten sich einig sind, die Zuspitzung von 2020 solle vermieden werden.  

"Wir sind jeder Zeit offen für eine positive Agenda,“ sagt der griechische Regierungschef, "aber in einer abgestuften, verhältnismäßigen und umkehrbaren Art und Weise und unter der Voraussetzung, dass die gegenwärtige Deeskalation Bestand hat, die Türkei konstruktiv am Dialog teilnimmt und die Bedingungen der EU respektiert“.

Es ist auffällig, dass Mitsotakis bei dieser – und anderen – Äußerungen zum Thema die entsprechenden Formulierungen aus den Schlussdokumenten des letzten EU-Gipfels im Wortlaut wiederholt.

Die Synchronisierung der Sicht Griechenlands mit der Türkei-Politik der EU ist in politisch-diplomatischer Sicht die folgenschwerste Entwicklung in den türkisch-griechischen Beziehungen der letzten Jahre – allemal für die Türkei. Athen ist es gelungen, eine starke diplomatische Front aufzubauen und im Streit mit Ankara wichtigen Beistand zu mobilisieren. Ein neuer Fokus dieser Türkei-politisch motivierten Manöver ist die arabische Welt, wo Athen neuerdings mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Saudi-Arabien, Ägypten und Israel den Schulterschluss übt.

Joe Biden setzt auf die griechische Karte

Aus griechischer Perspektive kann die Wahl Joe Bidens nur als Glücksfall bezeichnet werden. Die Unterstützung der neuen amerikanischen Administration für die griechische Seite gelang nicht zuletzt auch dank der soliden Unterstützung einer gut aufgestellten griechisch-amerikanischen Diaspora im Weißen Haus. Wurde der Wahlausgang in Amerika in der griechischen Welt gefeiert, hat die türkische Seite aus ihrer Vorliebe für Donald Trump nie einen Hehl gemacht. In der Innen- wie in der Außenpolitik ließ Trump Präsident Erdogan weitgehend ungestört gewähren und praktizierte in den türkisch-griechischen Fragen eine Politik der Äquidistanz.

Im Ergebnis war es diese Zurückhaltung, die den Spielraum für Ankaras revisionistische Politik geschaffen hat. Unter Biden – das ist schon jetzt deutlich – setzen die Amerikaner eindeutig auf die griechische Karte. "Griechenland ist der wichtigste militärische Partner der USA im östlichen Mittelmeer – es ist nicht länger die Türkei“, sagt der ehemalige US-Botschafter in Athen Nicholas Burns, der bei den US-Demokraten, der Partei des Präsidenten, als wichtiger außenpolitischer Vordenker gilt.


Washingtons demonstrative Hinwendung zu den Griechen geht einher mit einem im besten Fall als unterkühlt zu bezeichnenden Verhältnis zur Türkei. Dieser Umschwung hat die strategische Gemengelage im östlichen Mittelmeer nachhaltig verändert. Während Athen den Rückenwind aus Washington, Brüssel und wichtigen Teilen der arabischen Welt spürt, leidet Ankara – allemal im Westen – unter einer fortgeschrittenen politisch-diplomatischen Isolation, die Züge einer tiefgreifenden Entfremdung trägt.



Im Vorfeld des Treffens zwischen Biden und Erdogan beim NATO-Gipfel am 15. Juni, am selben Tag der türkisch-griechischen Begegnung, kommentierte Cengiz Candar, der türkische Präsident befinde sich "im schwächsten Moment seiner bald zwanzigjährigen Herrschaft“.

Nicht zuletzt die Beinahe-Eskalation im vergangenen Sommer hat dazu beigetragen, die türkisch-griechischen Streitfragen in der internationalen Agenda ganz nach vorne zu katapultieren. Die "Internationalisierung“, vor allem die "Europäisierung“ der bilateralen Probleme, ist Präsident Erdogan ein Dorn im Auge. Eingedenk seiner relativen Stärke würde er die Themen lieber im direkten – bilateralen – Austausch mit seinem griechischen Gegenüber behandeln.



In einigen – eher zweitrangigen - Fragen haben Athen und Ankara einen Verhandlungsprozess eingeleitet. Ende Mai verständigten sich die Regierungen, zu 25 ausgewählten Themen – so etwa den grenzübergreifenden Verkehr, Tourismus und Umweltschutz – Expertengespräche zu führen. Auf dieser Ebene der Experten ist durchaus mit Ergebnissen zu rechnen, auch ohne eine Beteiligung von dritter Seite. Lösungen für die großen Themen – etwa die Hoheitsfragen der Ägäis, die Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer oder die Zypern-Frage – liegen derweil in weiter Ferne, hüben wie drüben fehlt die Bereitschaft zu historischen Kompromissen.

“Auf beiden Seiten gibt es eine Lobby, die Spannungen und Eskalation will“, sagt Dimitrios Kairidis, der für die regierende Nea Dimokratia (ND) im Athener Parlament sitzt und sich für eine Aussöhnung zwischen Griechen und Türken einsetzt. "Das beste was wir machen können, ist den Konflikt einzufrieren.“  

Ronald Meinardus  

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