"Dieser Konflikt ist viel, viel größer"
Griechenland und die Türkei haben erneut ihre Flotten mobilisiert, der Konflikt zwischen den beiden NATO-Staaten spitzt sich damit wie bereits vor wenigen Wochen erneut zu. Athen empfindet es als Provokation, dass Ankara erneut ein Forschungsschiff entsandt hat, um das Seegebiet südlich der griechischen Insel Kasteloriso zu erforschen.
Es geht um mehr als Erdgasvorkommen
Dieses und weitere Gebiete südlich anderer griechischer Inseln beansprucht Athen als sogenannte "Ausschließliche Wirtschaftszone" für sich. Erst in der vergangenen Woche unterzeichnete Griechenland ein Abkommen mit Ägypten, in dem beide Länder ihre jeweiligen Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer festlegen.
Diese Vereinbarung wiederum bezeichnet die türkische Regierung als "Piraten-Abkommen" und nahm es zum Anlass ihre seismischen Untersuchungen wieder aufzunehmen, die sie nach Vermittlung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und der EU eingestellt hatte.
Bei dem Konflikt gehe es jedoch um mehr als um Erdgasvorkommen und Wirtschaftszonen, betonte Nahostexperte Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sondern auch um einen grundsätzlicheren Konflikt zwischen der Türkei und Ägypten - der unter anderem auch im Bürgerkriegsland Libyen ausgetragen werde.
Fast 15 Jahre lang haben Griechenland und Ägypten über die Aufteilung der jeweiligen Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) verhandelt, jetzt ging es auf einmal sehr schnell. Letzten Donnerstag haben die Außenminister beider Staaten in Kairo ein Abkommen unterschrieben. Weshalb die Eile?
Stephan Roll: Das Abkommen, das jetzt unterschrieben wurde, steht in direktem Zusammenhang mit dem AWZ-Abkommen, das die Türkei und Libyen im November 2019 unterschrieben haben. Griechenland und Ägypten sahen darin eine massive Verletzung ihrer Interessen. Ich weiß nicht, inwieweit Athen und Kairo das Abkommen perfekt ausgehandelt haben. Letztlich ging es aber darum, die Türkei in die Schranken zu weisen.
In der Tat ist das griechisch-ägyptische Abkommen nur ein Teilabkommen. Die vereinbarte Aufteilung der AWZ berücksichtigt noch nicht die Seegebiete östlich der griechischen Insel Rhodos bis zur östlichsten griechischen Insel Kastelorizo. Diese Verhandlungen dauern noch an. Worauf ist das zurückzuführen?
Roll: Es kam vor allem darauf an, sehr, sehr schnell ein Signal Richtung Ankara zu schicken, dass man es nicht hinnimmt, wenn die Türkei die Seegrenzen neu setzt. Das könnte auch erklären, warum man jetzt das Abkommen unterschrieben hat und man Details noch weiter verhandeln will.
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Kairo fühlt sich massiv durch die Türkei bedroht
Nicht nur zwischen Griechenland und der Türkei, auch zwischen Ägypten und der Türkei gibt es Spannungen. Worum geht es dabei?
Roll: Sicherlich geht es erst einmal um Gasvorkommen. Für Ägypten ist es sehr wichtig, sie zu erschließen. Die ägyptische Energiestrategie zielt auf Gasexporte im größeren Stil. Letztendlich aber ist dieser Konflikt mit der Türkei viel, viel größer. Er geht zurück auf den Militärputsch 2013 in Ägypten, der sich gegen die damals regierenden Muslimbrüder wandte. Kairo unterstellt der Türkei, dass es die Muslimbruderschaft unterstützt, was teilweise richtig ist. Viele Muslimbrüderkader sind in der Türkei im Exil. Die ägyptische Führung fühlt sich massiv durch die Türkei bedroht, man unterstellt ihr, sie plane den Gegenputsch.
Der bestehende Konflikt hat durch das türkisch-libysche AWZ-Abkommen und das Engagement der Türkei in Libyen eine neue Dynamik gewonnen. Für Kairo ist es eine durchaus neue Situation, dass die Türkei in Libyen sehr aktiv unterwegs ist, dass sie sogar Söldner ins Land gebracht hat, die auf der Seite der Regierung von Tripolis gegen General Haftar kämpfen, der von Ägypten unterstützt wird. Für Kairo ist es sehr bedrohlich, dass Ankara direkt im eigenen Hinterhof plötzlich mitmischt.
Welche Positionen vertreten die anderen arabischen Staaten bezüglich der Aufteilung der AWZ im östlichen Mittelmeer?
Roll: Sofern sie keine Anrainer sind, ist es ihnen erst einmal egal. Sie sehen eher den größeren Konflikt. Katar zum Beispiel steht klar auf Seiten von Ankara. Die Türkei hat eine eigene Militärpräsenz im Land und außerdem unterstützt Katar auch die Muslimbruderschaft. Die Unterstützer Ägyptens, allen voran Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, haben einen kritischen Kurs gegenüber der Türkei. Die nordafrikanischen Staaten dagegen verhalten sich weitgehend neutral, ergreifen keine direkte Position und versuchen letztlich mit beiden Seiten gute Beziehungen zu unterhalten.
"Im Moment sind das noch Drohgebärden"
Die AWZ, die Ägypten und Griechenland vereinbart haben, überlappen sich teilweise mit den Wirtschaftszonen, die die Türkei und die libysche Regierung für sich beanspruchen. Führt das zwangsläufig zu einem bewaffneten Konflikt?
Roll: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es deswegen zu einem bewaffneten Konflikt kommen wird. Weder die Türkei noch Griechenland, und Ägypten schon gar nicht, sind auf eine direkte Konfrontation aus, zumal der Ausgang offen wäre.
Auch sind Europäische Union und NATO überhaupt nicht daran interessiert, dass Griechenland und die Türkei aneinandergeraten. Es gab ja in der Vergangenheit immer wieder Eskalationsmomente, die aber eingefangen wurden. Im Moment sind das noch Drohgebärden. Aber man weiß in der Region nie. Durch Zufall kann sich etwas verselbständigen. Da fallen irgendwo Schüsse und schon entwickelt so ein Vorfall eine Eigendynamik.
Als Reaktion auf die türkische Einmischung in Libyen hat das ägyptische Parlament Präsident Abdel Fattah al-Sisi grünes Licht für den Einmarsch von Truppen in Libyen gegeben. Ist das nicht ernst zu nehmen?
Roll: Doch, das ist ernst zu nehmen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Ägypten im Libyenkonflikt interveniert und Truppen jenseits der Grenze stationiert. Es wird aber eher darum gehen, bestehende Frontlinien zu halten. Es handelt sich aber nicht um eine expansive Strategie. Man will nicht bis nach Tripolis marschieren und eine direkte Konfrontation mit der Türkei riskieren. Ägypten will die eigenen Verbündeten, die Truppen um General Haftar, unterstützen.
Kein starker Vermittler in Sicht
Wer könnte im Streit um Seerechtsgebiete und im Libyenkonflikt vermitteln? Die USA?
Roll: Die USA haben hinsichtlich der Konflikte im östlichen Mittelmeer noch nicht entschieden, auf welche Seite sie sich stellen sollen: im Libyenkonflikt auf die Seite der Türkei und gegen Ägypten und Russland oder umgekehrt? Darüber hinaus gibt es eine neue Entwicklung. Das Verhältnis der USA zu Ägypten ist nicht mehr so unbelastet, wie es einmal früher war. Mittlerweile gibt es da Brüche. Ägypten verhält sich in vielerlei Hinsicht ähnlich wie die Türkei. Kairo hat wie Ankara gegen den Willen der USA russische Waffensysteme gekauft. Jeder spielt sein eigenes Spiel und hält sich nicht an traditionelle Bündnisstrukturen.
Die EU scheint als Vermittler auszufallen, da sie keine einheitliche Haltung zur Türkei hat. Frankreich zum Beispiel hat sich ganz klar gegen Ankara positioniert. Könnte Deutschland diese Vermittlerrolle einnehmen? Wäre es für alle Beteiligten akzeptabel?
Roll: Akzeptabel schon, weil die Deutschen erkennbar keine Eigeninteressen haben. Die Frage ist aber, ob Deutschland genügend Gewicht hätte, um in dieser Region Ergebnisse herbeizuführen. Da habe ich durchaus Zweifel. Nehmen wir den Berlin-Prozess, den Deutschland auf den Weg gebracht hat, um den Libyenkonflikt zu lösen. Es gab kein Follow-up. Deutschland konnte nicht auf die Konfliktparteien einwirken, damit sie sich an die Vereinbarung halten. Deutschland ist nicht potent genug. Momentan kann es nur kurzfristig bei einer akuten Situation helfen, wie das Telefonat von Kanzlerin Merkel mit dem türkischen Präsidenten Erdogan, vor wenigen Wochen. Es trug dazu bei, eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen türkischen und griechischen Kriegsschiffen in der Ägäis abzuwenden.
Israel hält sich zurück
Bei dem Konflikt um die Zugehörigkeit von Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer ist Israel erstaunlich still. Immerhin hat es ein AWZ-Abkommen mit Zypern abgeschlossen und es hat sich augenscheinlich mit dem Libanon und Ägypten arrangiert, wem welche Seegebiete zustehen. Darüber hinaus lässt Ankara keine Gelegenheit aus, um gegen Israel zu polemisieren. Warum hält es sich aus dem aktuellen Streit heraus?
Roll: Israel ist in einer schwierigen Situation. Tatsächlich ist Ägypten zu einem immer besseren Partner geworden. Das betrifft aber nicht die ägyptische Bevölkerung, sondern die ägyptische Regierung, den Geheimdienst und den Militärapparat. Auf langer Sicht ist es völlig unklar, wohin sich Ägypten entwickeln wird. Auch Kairos Kauf von russischen Kampfjets vor einigen Wochen ist den Israelis nicht geheuer.
Das interessantere Land für Israel in der Region ist sicherlich die Türkei. Es hat wirtschaftlich mehr zu bieten und es ist deshalb für die israelische Wirtschaft um vieles wichtiger. Eigentlich hat Israel kein Interesse daran, dass diese Beziehung immer weiter den Bach runter geht. Vor allem aber hat Israel gegenwärtig erhebliche innenpolitische Probleme. Da dürfte für die Regierung dieser schwelende Konflikt im Mittelmeer eher in den Hintergrund gerückt sein.
Interview: Panagiotis Kouparanis
© Deutsche Welle 2020
Stephan Roll ist Leiter der Forschungsgruppe Naher/ Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik, dem wichtigsten deutschen Thinktank für internationale Politik und Sicherheit. Zu Rolls Schwerpunkten gehören Ägypten, Saudi-Arabien, Eliten und soziale Mobilisierung in der arabischen Welt.