Ein Staat in Auflösung?
Im Vorfeld eines wichtigen Fußballspiels twitterte ein türkischer Zuschauer, er hoffe, dass für die Zeit des Matches keine neuen Korruptionsvorwürfe auftauchen würden, weil er das Spiel in Ruhe anschauen wolle.
So geht es derzeit wohl nicht nur dem türkischen Fußballfan, sondern vielen Menschen am Bosporus. Sie sind fassungslos angesichts der offenbar unaufhörlichen Flut neuer Enthüllungen und Telefonmitschnitte, die im Internet hochgeladen wurden und auf Korruption in höchsten Regierungskreisen hindeuten.
"Ich dachte, der Premierminister hätte das unter Kontrolle, aber diese letzten Informationen – wenn sie sich als korrekt erweisen – sind von gewaltigem Ausmaß", meint Soli Ozel, Professor für Internationale Beziehungen und Politikwissenschaft an Istanbuls Kadir Has Universität und Kolumnist der Tageszeitung "Haber Turk".
"Auf Null stellen"
Was zu Beginn der ersten Aufnahme angeblich zu hören ist, ist ein Gespräch zwischen dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinem Sohn Bilal, in dem es um das Beiseiteschaffen großer Geldmengen geht. Das folgenreiche Gespräch sollte kurze Zeit später einen neuen Begriff im Türkischen kreieren, nämlich das "Auf Null stellen".
Und tatsächlich fragte der Premier mehrfach nach, ob denn das Geld "auf Null gestellt" worden sei. Im zuletzt hochgeladenen Mitschnitt sollen Erdoğans Schwiegersohn, ein prominenter Geschäftsmann und dessen Frau zu hören sein, die über den Kauf eines Aktenvernichters diskutieren, um sich letzten Endes für das teuerste Modell zu entscheiden.
Erdoğan hatte mehrfach behauptet, dass diese Aufnahmen böswillig zusammengeschnitten oder nichts als Fälschungen seien. Während einer Parteiveranstaltung am vergangenen Donnerstag (27.02.2014) beschuldigte er die eigenen Polizeikräfte, hinter dem Komplott zu stehen und fragte diese im barschen Ton, für welches Land sie denn eigentlich arbeiten würden.
Die Aufnahmen bilden den bisherigen Gipfel der Eskalation in einem immer schärfer geführten Kampf zwischen der regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und den Anhängern des Islamgelehrten Fethullah Gülen, der im selbstgewählten Exil in den USA lebt.
Machtkampf hinter den Kulissen
"Das war de facto eine Koalition – eine Koalition, die auseinanderbrach, weil man sich nicht über die Aufteilung der Macht einigen konnte, und darüber, wer den größeren Anteil an den erreichten Pfründen bekommen sollte", meint dazu Kadri Gursel von der Zeitung "Milliyet" und der Webseite "Al Monitor".
Schon seit den 1980er Jahren wird von den Anhängern Gülens, den sogenannten "Cemaat", gesagt, dass sie in der Polizei wie in der Justiz stark vertreten seien. So sollen sie auch eine Schlüsselrolle gespielt haben, als es darum ging, das politisch machtvolle säkulare Militär mit einer ganzen Serie von Verschwörungsprozessen, die in hunderten von Verurteilungen gipfelten, schließlich niederzuringen.
Im letzten Dezember begannen die Staatsanwälte Ermittlungen in einer ganzen Reihe von Korruptionsfällen aufzunehmen, von denen höchste Regierungsstellen und Dutzende Personen betroffen waren, unter ihnen die Söhne dreier Minister und der Direktor einer staatlichen Bank.
Recep Tayyip Erdoğan wertete diese Ermittlungen als versuchten Staatstreichs. Hunderte von Staatsanwälten und Polizisten, die mit den Ermittlungen zu tun hatten, wurden daraufhin von der Regierung versetzt, was die Untersuchungen faktisch lahmlegte.
"Es geht eigentlich gar nicht um Korruption, sondern es handelt sich vielmehr um einen Machtkampf in der Türkei", meint Osman Can, ehemaliger Richter und Mitglied des Vorstandes der AKP. "Der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte wird von den Anhängern Gülens kontrolliert. Und jeder weiß das. Wir kennen alle ihre Namen. Aus diesem Grund geht es letztlich um die Demokratie."
Die Justiz in den Fängen der politischen Akteure
Der Hohe Rat kontrolliert das Justizwesen des Landes, ernennt Richter und Staatsanwälte, fördert die "richtigen" Leute und sichert sich damit deren Gefolgschaft. In einer kontroversen Entscheidung griff die Regierung vor kurzem die Unabhängigkeit der Justiz an und stellte sie unter strengere Kontrolle des Justizministers. Die umstrittene Gesetzgebung löste einen Proteststurm bei Vertretern von Menschenrechtsgruppen, politischen Beobachtern und der Europäischen Union aus.
"Für einen demokratischen Staat ist es von immenser Bedeutung, eine unabhängige Justiz zu haben und so etwas haben wir zurzeit nicht – und es wird immer schlimmer", warnt Riza Turmen, ehemaliger Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und Abgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Die Gesetzgebung folgt der Verabschiedung eines ähnlich strittigen Gesetzes, das eine strengere Kontrolle über das Internet vorsieht, was der Regierung die Macht verleiht, Webseiten auch ohne richterliche Anordnung zu sperren.
Nun denkt die Regierung über eine neue Gesetzesinitiative nach, die die Befugnisse des türkischen Geheimdienstes MIT ausweiten würde. Unter dem vorgeschlagenen Gesetz wäre es einzig dem Premier vorbehalten, Untersuchungen und strafrechtliche Schritte innerhalb des Geheimdienstes anzuordnen.
Demnach müsste jeder, der Informationen zu geheimdienstlichen Aktivitäten preisgibt, mit einer neunjährigen Haftstrafe rechnen. "Das Fehlen jedweder Rechenschaftspflicht ist eines der großen Probleme dieses Gesetzvorhabens", warnt denn auch Juraprofessor Istar Gozaydin von der Dogus Universität in Istanbul. "Das MIT würde dadurch praktisch allmächtig."
Das MIT wird allgemein als diejenige Institution unter den türkischen Sicherheitsorganen angesehen, der Erdoğan vertraut. Bei den Untersuchungen im Fall der Gülen-Anhänger innerhalb der türkischen Polizei und Justiz zeichnete sich das MIT besonders aus. Und derzeit spricht viel dafür, dass Massenverhaftungen von Gülen-Anhängern unmittelbar bevorstehen.
Fehlende institutionelle Integrität
Tatsächlich gibt es in der Türkei inzwischen die weit verbreitete Befürchtung eines "juristischen Bürgerkrieges". "Wir beobachten derzeit praktisch die Auflösung, die Zersetzung des türkischen Staates, so wie wir ihn kennen", beobachtet Ozel. "Seine Institutionen besitzen keinerlei institutionelle Integrität mehr. Seine Regeln und Gesetze werden nicht mehr beachtet. Bis zu den Kommunalwahlen im März steht uns noch eine schwierige Zeit bevor."
"Am 30. März finden in der Türkei Kommunalwahlen statt", verkündete Erdoğan während seines jüngsten Deutschlandbesuchs. "Die entscheidende Frage lautet dann: Wenn die Menschen sich für uns als führende Partei entscheiden, bedeutet es, dass die Regierung aufrichtig ist." Trotz der politischen Bedeutung der Wahlen wurden bislang jedoch nur wenige Umfrageergebnisse veröffentlicht. Ein Medien-Insider, der ungenannt bleiben möchte, bemerkte dazu: "Jeder fürchtet sich davor, die Regierung womöglich durch negative Umfrage-Ergebnisse zu verärgern."
Und doch bleibt es unklar, welche Auswirkungen die Korruptionsvorwürfe – und vor allem die durchgesickerten Telefonmitschnitte – auf die AKP-Wähler letztlich haben werden. "Theoretisch könnten sie zu einer großen Gefahr für die Regierung werden, aber ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt von den Wählern wahrgenommen wird", meint die Kolumnistin Asli Aydintasbas. "Im Radio ist äußerst selten von wirklichen Anschuldigungen die Rede. Der wichtigste Oppositionspolitiker spielte die Mitschnitte sogar im Parlament ab, aber die meisten Sender unterbrachen genau in diesem Moment ihre Übertragungen."
Die Wirtschaft ist wahrscheinlich das Pfund, mit dem Erdoğan noch am meisten wuchern kann. Während seiner nunmehr zehnjährigen Regierungszeit erlebte die Türkei eine Phase zuvor nicht gekannten Wachstums, was mit spektakulären Wahlergebnissen der AKP belohnt wurde.
Doch inzwischen beginnt die Wirtschaft im Land deutlich zu schwächeln. Und die politischen Skandale beeinflussen in negativer Weise auch zunehmend die Wirtschaft des Landes. "Der Geschäfts- und Konsumklima-Index zeigt für den Monat Januar bereits deutlich schlechtere Zahlen", erklärt Atilla Yesilada, Analyst bei "Global Source Partners". "Wir beobachten eine Art Vertrauenskrise, die vor allem auf den Machtkampf in Ankara zurückzuführen ist. Hinzu kommt ein massiver Zinsschock. Die fast unvermeidliche Schlussfolgerung hieraus ist, dass der Türkei eine relativ tiefe Rezession bevorsteht."
Aber wenn es um den Wahlkampf geht, macht Erdoğan so schnell niemand etwas vor, seit Monaten spricht er immer wieder vor Tausenden begeisterter Anhänger überall im Land. Diese Anstrengungen werden, wenn der Wahltermin näher rückt, sicher noch zunehmen. Und tatsächlich stand bisher wohl bei keiner anderen Wahl so viel auf dem Spiel: "Diese Kommunalwahlen sind wichtiger als alle Wahlen, die ich in meinem ganzen Leben erlebt habe", meint denn auch Soli Ozel.
Dorian Jones
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de