Der heimliche Wunsch nach dem Ausnahmezustand

Regierungserklärung von Kanzler Olaf Scholz im Bundestag zur Ukraine-Krise am 27. Februar; Foto: Michael Sohn/AP/picture-alliance
Regierungserklärung von Kanzler Olaf Scholz im Bundestag zur Ukraine-Krise am 27. Februar; Foto: Michael Sohn/AP/picture-alliance

Der russische Angriff auf die Ukraine hat Deutschland überrascht. Die "Zeitenwende" lenkt den Fokus der Politik auf das Militärische. Das weckt schale Erinnerungen an die westliche Antwort auf die Anschläge vom 11. September 2001. Ein Essay von Stefan Buchen

Essay von Stefan Buchen

"Ein Angriff auf die Zivilisation, auf die Freiheit und auf die Offenheit unserer Gesellschaften," kommentierte Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU). "Wir haben es mit einem totalitären Anspruch der Unfreiheit, der sich gegen uns alle richtet und der die Grundwerte der demokratischen und der freiheitlichen Gesellschaften infrage stellt, zu tun. (…) Wir stehen vor einer wahrhaft historischen Herausforderung. Die Freiheit muss jetzt neu verteidigt werden. (…) Ein Land wie Deutschland, zweitgrößter NATO-Partner, bevölkerungsreichstes Land der Europäischen Union, in der geopolitischen Mitte Europas gelegen, muss auch seine internationale Verantwortung wahrnehmen. (…) Wenn der amerikanische Präsident im Kongress ein Maßnahmenpaket in der Größenordnung von 20 Milliarden Dollar beantragt und innerhalb weniger Stunden 40 Milliarden Dollar bewilligt bekommt, dann ist dies ein deutliches Signal auch an die Finanzpolitiker der Länder der freien Welt, ihrerseits neue Prioritäten zu setzen. (…) Wir bieten Ihnen, Herr Bundeskanzler, dabei eine nationale Allianz der Entschlossenheit an."

Die Worte von Friedrich Merz mögen klingen wie eine Reaktion auf den Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine. Darüber spricht der Oppositionsführer seit einigen Tagen ganz ähnlich. Tatsächlich sind die Zitate des CDU-Politikers mehr als zwanzig Jahre alt. Sie stammen von seinen Auftritten im Bundestag am 12. und 19. September 2001. Auch damals stand Merz an der Spitze der Opposition gegen eine SPD-geführte Bundesregierung. 

In seinen Reden beschwor er die Entschlossenheit der "freien Welt", gegen die islamistischen Terroristen zu Feld zu ziehen, die mit ihren Flugzeuganschlägen in New York und Washington Tod, Zerstörung und Schrecken gesät hatten. Gleichzeitig präsentierte er sich als verlässlicher Wächter über den Kanzler, falls dieser in der Verteidigung von Demokratie und Freiheit nicht die nötige Härte zeigen sollte.

Der Kanzler hieß Gerhard Schröder, und damals musste sich um dessen Entschlossenheit niemand sorgen. Schröder schwor die Deutschen nach der "Kriegserklärung an die zivilisierte Völkergemeinschaft" auf eine lang andauernde Auseinandersetzung mit dem Feind ein. Es gehe darum, "unsere Art zu leben" zu verteidigen. Er habe, so Schröder in seiner Regierungserklärung vom 12.9.2001, unter anderem mit dem russischen Präsidenten Putin telefoniert. Man sei sich "in der Bewertung einig, dass diese Terrorakte eine Kriegserklärung an die freie Welt bedeuten."

Regierung und Medien sprechen von "Zeitenwende"

Dass Wladimir Putin von der westlichen Völkergemeinschaft nicht mehr als Verbündeter bei der Verteidigung der freien Welt oder gar als Teil derselben bewertet wird, dazu gleich mehr. Im Vordergrund soll zunächst jener Versuch stehen, eine freiheitlich-demokratische Wertegemeinschaft zu beschwören, der im Herbst 2001 mit heute seltsam vertraut klingenden Formeln und Begriffen unternommen wurde.

Staatliche Verteilung von Brot an die Bevölkerung in Kabul; Foto: Reuters/O.Sobhani
Schon vergessen? Gerade erst ist der Westen in Afghanistan gescheitert. Nach der Machtübernahme der Taliban ist das Land in eine verheerende humanitäre Krise geraten. Nach Angaben der UN waren bereits im November letzten Jahres 20 Prozent der rund 38 Millionen Afghanen dem Hunger nahe, insbesondere Kinder sind gefährdet. "Das Debakel am Hindukusch, mit der Rückkehr der Taliban an die Macht nach einem Zyklus von 20 Jahren, ist noch so frisch, dass man erstaunt sein könnte über manche Phrase, die jetzt im Namen des Kampfs für westliche Werte wieder gedroschen wird“, schreibt Stefan Buchen.

"Eine neue strategische Zeitrechnung beginnt", schrieb etwa ein Kolumnist der "Welt". "Ob aber der nunmehr eröffnete lange Krieg, der auch Cyberwar umfassen wird, zu Sieg führt oder Niederlage oder in Kampf ohne Ende, das wird in diesen Tagen vorbereitet - und damit die Zukunft der Freiheit und des Wohlstands in der westlichen Welt," heißt es in dem am 13.09.2001 erschienenen Text. "Es ist, jeder spürt es, die Epoche des permanenten Ernstfalls," fährt der Autor fort. "Dann wird alles Ausnahmezustand."

So offen brach der Wunsch durch, über den Ausnahmezustand zu entscheiden, dass man ihn beinah nicht mehr als heimlich bezeichnen kann. Mehr Geld für die Bundeswehr, mehr Befugnisse für die Geheimdienste: Die tonangebenden Akteure erweckten den Eindruck, als hätten sie auf die "Zeitenwende" gewartet, um lange gehegte Träume endlich wahr werden zu lassen.

Was aus der "Entschlossenheit" wurde, ist reichlich bekannt. Auf Einmärsche in fernen Ländern folgten Angriffskriege im Namen der Freiheit. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten setzten auf einen Dominoeffekt. Der gewaltsame Sturz islamistischer Herrscher und blutlechzender arabischer Diktatoren sollte eine Welle der Demokratisierung durch den Mittleren Osten und Nordafrika schicken und "unsere Art zu leben" in dieser rückständigen Weltregion verbreiten. Der Traum erfüllte sich nicht. Stattdessen schossen unter amerikanischem Kommando Foltergefängnisse aus dem Boden: im Irak, in den neu der NATO beigetretenen Staaten Osteuropas, in Guantanamo. Der Westen verriet seine Werte und nutzte sich so ab, dass in den USA Donald Trump Präsident werden konnte. Die vorläufig letzten Scherben des "Krieges gegen den Terror" haben Amerika, Deutschland und die Anderen im August in Afghanistan buchstäblich im Feld zurückgelassen.

Das Debakel vom Hindukusch - schon vergessen?

Das Debakel am Hindukusch, mit der Rückkehr der Taliban an die Macht nach einem Zyklus von 20 Jahren, ist noch so frisch, dass man erstaunt sein könnte über manche Phrase, die jetzt im Namen des Kampfs für westliche Werte wieder gedroschen wird.

Angesichts des russischen Einmarschs in der Ukraine ist nun wieder zu hören, dass "wir unsere Art zu leben" verteidigen müssen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat den Kampf für Demokratie und Freiheit mit militärischen Mitteln ausgerufen. Deutsche Waffen werden in die Ukraine geliefert. Er will die Bundeswehr mit einem "Sondervermögen" von 100 Milliarden Euro aufrüsten und die jährlichen Militärausgaben auf mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anheben.

 

Der russische Überfall markiert eine Zeitenwende. Es ist unsere Pflicht, die Ukraine nach Kräften zu unterstützen bei der Verteidigung gegen die Invasionsarmee von #Putin. Deshalb liefern wir 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Stinger-Raketen an unsere Freunde in der #Ukraine.

— Bundeskanzler Olaf Scholz (@Bundeskanzler) February 26, 2022

 

Im Konflikt mit Putin will Scholz als robuster Vertreter der "freien Welt" gelten. Wie im Fall der islamistischen Attentäter von 09/11 schreibt der Bundeskanzler dem Feind ein ideologisches Motiv zu. "Ein russisches Imperium" wolle Putin errichten, so Scholz. Das erinnert an das Gerede von den radikalen Islamisten, die die Weltherrschaft anstreben.

Auf die Frage, welchen Stellenwert der letzte Feldzug des Westens, der vor mehr als zwanzig Jahren begann und erst im vergangenen August einen absoluten Tiefpunkt erreichte, in seinen Überlegungen einnimmt und welche Schlüsse er aus dessen Scheitern zieht, ist Scholz bislang nicht eingegangen. Er scheint die Frage zu ignorieren oder für nicht relevant zu halten. Allein darin zeigt sich schon eine sträfliche Selbstgefälligkeit.

Strategisch geht es um das grundsätzliche Problem der richtigen Antwort auf politisch motivierte Großverbrechen, welche die Einen töten und die Anderen schockieren. Eine einheitliche Antwort im Hinblick auf den tausendfachen Mord von New York und Washington und den verbrecherischen Krieg Russlands in der Ukraine kann es nicht geben. Dafür unterscheiden sich die Gewaltakte zu stark. 2001 war ein einmaliges Attentat nichtstaatlicher Akteure. 2022 geschieht ein Angriffskrieg durch den größten Flächenstaat der Erde, der Mitglied im UN-Sicherheitsrat ist.

Dass es im Umgang mit dem Terrorismus von al-Qaida an strategischer Geduld gefehlt hat, scheint klar. Im Umgang mit Putin und Russland müssen sich die westlichen Akteure fragen lassen, wie es überhaupt so weit kommen konnte und welche konkreten Fehler die Außenpolitik Europas und Amerikas sich hat zu Schulden kommen lassen, im Großen seit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks und im Kleinen seit dem russischen Aufmarsch an den Grenzen zur Ukraine im vergangenen Herbst.

Nimmt die Nato die Eskalation in Kauf?

Die Floskel der "Ge- und Entschlossenheit" kann den Verdacht nicht ausräumen, dass der Westen Gelegenheiten ungenutzt ließ, die Eskalation zu verhindern. Die westliche Diplomatie ist eines kolossalen Scheiterns verdächtig. Die gegenwärtige Kampf- und Aufrüstungsrhetorik schürt zudem den Verdacht, dass die NATO-Mitgliedstaaten weitere, noch tödlichere Eskalationsspiralen billigend in Kauf nehmen.

 Wachturm im Gefangenenlager auf dem US-Marinestützpunkt Guantanamo Bay in Kuba (Archivbild); Foto: US Navy/Spc Cody Black/REUTERS
Wachturm in Guantanamo Bay. Das Gefangenenlager von Guantanamo steht für den Verrat von westlichen Werten im "Krieg gegen den Terror“. Nach den Anschlägen vom 9/11 beschwor der Westen seine "Entschlossenheit“. Was daraus wurde "ist reichlich bekannt. Auf Einmärsche in fernen Ländern folgten Angriffskriege im Namen der Freiheit,“ schreibt Stefan Buchen. "Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten setzten auf einen Dominoeffekt. Der gewaltsame Sturz islamistischer Herrscher und blutlechzender arabischer Diktatoren sollte eine Welle der Demokratisierung durch den Mittleren Osten und Nordafrika schicken und 'unsere Art zu leben‘ in dieser rückständigen Weltregion verbreiten. Der Traum erfüllte sich nicht. Stattdessen schossen unter amerikanischem Kommando Foltergefängnisse aus dem Boden: im Irak, in den neu der NATO beigetretenen Staaten Osteuropas, in Guantanamo.“



Bei allen Unterschieden zwischen beiden Ereignissen: Eine gewisse Anmaßung und Selbstgewissheit des Westens, das Gute zu verkörpern und das Richtige zu tun, könnten heute wie damals auf riskante Abwege führen.

Der Bundeskanzler hat eine "Zeitenwende" verkündet. Der vielfach geäußerten Behauptung, dass Olaf Scholz nun staatsmännisch Orientierung gebe, kann nicht ohne weiteres gefolgt werden. "Wir tun das, was notwendig ist," ist einer seiner Leitsätze.

Vor einem Jahr war es notwendig, die Energiepartnerschaft mit Russland voranzutreiben und die von den Vereinigten Staaten angedrohte Sanktionierung der Gas-Pipeline Nord Stream 2 als völkerrechtswidrig zurückzuweisen. Heute ist es notwendig, das Aus der Pipeline durch amerikanische Sanktionen nicht nur hinzunehmen, sondern durch eine eigene Erklärung, das Projekt zu stoppen, den Eindruck zu erwecken, man habe es selbst in der Hand. Vor kurzem war es notwendig, den Militärhaushalt nicht ausufern zu lassen. F-35-Kampfjets in den USA zu kaufen, war eher nicht notwendig. Jetzt erscheint es durchaus notwendig.

Und natürlich ist es notwendig, nun Flüssiggasterminals für den Import von Rohstoff nichtrussischer Herkunft zu errichten, was vorher nicht unbedingt nötig war. Die "Zeitenwende" könnte auch auf die Wendigkeit von Olaf Scholz hindeuten. Die SPD - und das ist eher eine Kontinuität als eine Wende - ist jedenfalls im Ausnahmezustand bereit, die nötigen Haushaltsmittel für das Militär bereitzustellen.

Der ironische, der kriegerischen Zeitgeschichte Israels entlehnte Ausdruck "Ruhe, es wird geschossen" (hebräisch: "sheket, yorim") verweist auf die Pflicht, gerade jetzt, im Krieg, nicht ruhig zu sein, sondern kritische Fragen zu stellen. Kann es vielleicht sein, dass mancher Akteur nun die Gelegenheit gekommen sieht, endlich das zu verwirklichen, was er schon immer vorhatte? Unstrittig ist, dass die nun getroffenen Entscheidungen drastische Folgen haben werden. Manche, so lehrt die Geschichte, werden unbeabsichtigt sein.

In seiner Wende kann der Bundeskanzler auf effektive Schützenhilfe zählen. Die großen Medien unterstützen seine jüngsten Entscheidungen. Leider, schreibt der außenpolitische Kommentator der Süddeutschen Zeitung, treffe die Zuspitzung rund um die Ukraine auf eine "weitgehend unvorbereitete Bevölkerung". Den Deutschen fehle das Handwerkszeug, um mit militärischer Bedrohung umzugehen. Daraus resultiere eine gefährliche "Schwäche". Diese Passage war wie gemacht für Friedrich Merz. Der heutige wie damalige Oppositionsführer zitierte sie in der historischen Bundestagsdebatte am 27. Februar, die sich mit dem russischen Einmarsch befasste. Es klang ein bisschen wie im Wiederholungszwang. Als hätte Merz sagen wollen: Mit dem nötigen Drill wird die schlaffe Bevölkerung sich schon an den Ausnahmezustand gewöhnen.

Stefan Buchen

© Qantara.de 2022

Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin Panorama.