Wie Bücher tragende Esel
Seit Monaten halten uns die Enthüllungen des ehemaligen US-amerikanischen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden in Atem. Wir lernen, dass wir in einer überwachten Gesellschaft leben, in der Geheimdienste mit Hilfe von Internetunternehmen wie Google und Facebook jede unserer digitalen Spuren registrieren. Die Sicherheitsbehörden speichern, mit wem wir wann kommunizieren und können alles mitlesen, wenn sie nur wollen.
Wir diskutieren, wie gläsern und ausgeliefert wir sind. Ob die Kanzlerin ihren Amtseid verletzt hat, weil sie uns nicht genug vor der Überwachung schützt . Und ob wir uns nicht vielleicht doch beruhigt zurücklehnen können, weil der Bundesinnenminister uns versichert, all dies diene nur unserer Sicherheit, auf die wir ein "Supergrundrecht" hätten.
Nicht sonderlich interessiert uns hingegen der historische Kontext, in dem all das geschehen ist, was Edward Snowden enthüllt hat. Dabei ist es wichtig, sich klar zu machen, dass ohne die Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 wir den Überwachungsstaat in der gegenwärtigen Form nicht bekommen hätten.
Die dunkle Seite des Doppellebens
Der US-Geheimdienst National Security Agency (NSA) handelt nach der Grundannahme, jedes Individuum auf der Erde sei ein potentieller Terrorist. War nicht Todespilot Muhammad Atta vor 9/11 ein fleißiger Student, der unter der Leitung eines Hamburger Architekturprofessors eine Diplomarbeit über die Sanierung der Altstadt von Aleppo schrieb? Und war sein Komplize Ziyad Jarrah nicht ein netter Kerl, der eine Medizinstudentin zur Freundin hatte und auf Partys ging? Waren uns ihre geheimen Pläne, die dunkle Seite ihres Doppellebens, nicht auf fatale Weise entgangen?
Der Fortschritt der digitalen Technik und die soziale Vernetzung im Internet hätten auch ohne die al-Qaida-Attentate ihren Lauf genommen. Aber die massenhafte Ausspähung mit Software wie "Prism", "Tempora" und "XKeyscore" können westliche Geheimdienste nur dadurch rechtfertigen, dass jeder ein potentieller Terrorist ist. Akribisch zählt der Bundesinnenminister auf, wieviele Terroranschläge durch die Überwachung bereits verhindert worden seien. Schön für ihn, dass niemand seine Behauptungen überprüfen kann.
Der Überwachungsstaat, in dem jede Email mitgelesen und jeder Telefonanruf mitgehört werden kann, in dem staatliche Späher anhand der "Metadatenanalyse" in Sekundenschnelle ein soziales und psychologisches Profil jeder Netzpersönlichkeit erstellen können, ist eine Folge des 11. September.
Von Krise zu Krise
Es ist daher Zeit, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, wie wirkunsvoll die Attacke war, wie sehr sie unsere Gesellschaft verändert hat und welchen Einfluss sie auf die politischen Beschlüsse unserer gewählten Entscheidungsträger und die Ausrichtung der ihnen "nachgeordneten" Sicherheitsbehörden ausübt.
Wir wollen eigentlich den Terror bekämpfen und "unsere Art zu leben" verteidigen. Tatsächlich haben wir weit übers Ziel hinausgeschossen und sind vor lauter Misstrauen und Verunsicherung in einen Kampf mit uns selbst eingetreten, in dem wir – "unsere Werte" verratend – von Krise zu Krise stolpern.
Als die Vereinigten Staaten Anfang 2002 in einer Sitzung der NATO-Staaten in Brüssel "neue Befugnisse" für die NSA einholten, leiteten sie die von Snowden enthüllte Überreaktion im Bereich der Kommunikationsüberwachung ein. Auf anderen Gebieten war diese Überreaktion – für die Öffentlichkeit etwas sichtbarer – bereits in vollem Gange.
Die USA zogen mit ihren Verbündeten in den Krieg in Afghanistan und im Irak. Begründet wurden die Kriege mit der Notwendigkeit, die dort lauernden terroristischen Gefahren auszumerzen, der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen zu begegnen und dem guten Plan, in diesen rückständigen Winkeln der Welt die Demokratie einzuführen.
Das Ergebnis ist bekannt. Und "freie Wahlen" in einer Trümmerkulisse sind inzwischen zum ironiebeladenen Sinnbild für die missglückten Interventionen der USA und des Westens geworden. Die Ironie wird aber längst nicht von allen verstanden, ganz bestimmt nicht vom französischen Präsidenten. Er hat nach dem Feldzug in Mali als erste Maßnahme des Neuanfangs im zerrissenen Krisenstaat "demokratische Wahlen" abhalten lassen.
An Obamas peinlich-verlogener Antwort auf den Chemiewaffeneinsatz in Syrien wiederum kann man die schwerwiegenden Folgen der Post-9/11-Militärinterventionen ablesen. 2003 hatten die USA – mit deutscher Hilfe - den Einmarsch in den Irak mit der Lüge von biologischen Massenvernichtungswaffen in der Hand Saddams begründet. Dafür zahlt der zehn Jahre danach amtierende US-Präsident einen hohen Preis.
Verlust der moralischen Autorität
Obama ist der Gefangene der überzogenen "Haudrauf"-Politik unmittelbar nach dem 11. September. Er spürt, dass er keine moralische Autorität hat, robust auf die mutmaßlich vom syrischen Regime verübte massenmörderische Giftgasattacke zu reagieren. In einem Gestus kalter Vernunft, die aus moralischer Ohnmacht geboren wurde, erläutern jetzt Kongressabgeordnete in Washington, dass der Chemiewaffeneinsatz östlich von Damaskus die nationale Sicherheit der USA nicht gefährde und dass deshalb eine militärische Reaktion nicht notwendig sei.
Angesichts der jüngsten Geschichte mit ihrem "Krieg gegen den Terror in jedem Erdenwinkel" wohnt diesem Argument eine unübersehbare, entwaffnende Ironie inne. Nicht viele haben sie bemerkt.
Verstrickt hat sich der Westen auch auf dem Gebiet der Strafverfolgung der politischen Feinde. Die USA haben Geheimgefängnisse und das Guantanamo-Lager eingerichtet und bringen es nicht fertig, diese Wunde wieder zu schließen.
Sie schaffen es auch nicht, den noch lebenden hauptverantwortlichen Planern des 11. September, Khalid Sheikh Muhammad und Ramzi Binalshibh, den Prozess zu machen. Zu lang sind die Schatten, die Folter und Misshandlung der Gefangenen auf die Glaubwürdigkeit der Justiz werfen.
Und Deutschland? Wir praktizieren ein bisschen Guantanamo, indem wir dafür sorgen, dass deutsche Islamisten in marokkanischen oder syrischen Kerkern verschwinden. Und wir wundern uns, dass Leute, deren Telefonnummern "unsere Dienste" an die Amerikaner weitergegeben haben, in Waziristan wenig später von US-Drohnen erledigt werden.
Jenseits der Gefährdung unserer nationalen Sicherheit haben wir auch unsere "freie, marktorientierte" Art zu leben bedroht gesehen. Exzessiven Devisenhandel und unberechenbare Kreditderivate hätte es auch ohne die Angriffe vom 11. September gegeben und hätten irgendwann schwere Wirtschaftskrisen hervorgerufen.
Aber die Immobilienblase in den USA, die den Zusammenbruch der Finanzmärkte 2008 auslöste, wäre ohne die aggressive Niedrigzins- und Investitionsförderungspolitik nach 2001 nicht denkbar gewesen.
Man schaut ungläubig, wenn man überlegt, welche Pleiten unsere ausufernden Antworten auf 9/11 hervorgerufen haben. Und jetzt kommt Snowden, das Ausmaß einer weiteren Überreaktion offen zu legen.
Welche Folgen die durch das massenhafte Datenfischen verursachte Vertrauenskrise zwischen Bürgern und Regierungen haben wird, ist noch nicht absehbar.
Ganz sicher hat Snowden einen neuen Resonanzraum für Ironie eröffnet. Der Bundesinnenminister und der Chef des Kanzleramts erklären uns in Anlehnung an NSA-Chef Keith Alexander, wie wichtig für unsere Sicherheit die Aufklärung der weltweiten Datenströme sei.
In Anlehnung an eine sprachliche Figur aus dem Koran könnte man sagen, die Datenspäher wollten uns überzeugen, der Nutzen der Überwachung sei größer als der Schaden. Die “Aufklärung” verkommt so im Alten Europa, ihrer philosophischen Heimat, zu einem Arbeitsbegriff immer mächtiger werdender Geheimdienste.
Trösten können wir uns einstweilen mit der Hoffnung, dass die Datensauger und –speicherer den Überblick verlieren werden, weil sie die Menge trotz moderner Auswertungssoftware nicht mehr sinnvoll bewältigen können. Dann glichen unsere Geheimdienste am Ende dem – wie es im Koran heißt – berühmten “Bücher tragenden Esel”, der nicht verstand, was er eigentlich auf dem Rücken trägt.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2013
Stefan Buchen ist Fernsehjournalist und arbeitet für das ARD-Magazin Panorama.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de