Die neue Unübersichtlichkeit
Es ist vier Uhr nachts als wir in Sanaa ankommen. Um nicht aufzufallen geben uns unsere Huthi-Begleiter jemenitische Kopfbedeckungen für den Weg. Wir sind eine kleine Gruppe von Journalisten, die sich mit Huthi-Kämpfern auf eine nicht ungefährliche Reise begeben, um die schwierigen Machtstrukturen des Jemens zu erforschen.
Der Weg nach Saada, das Huthi-Zentrum im Norden des Landes, dauert fünf Stunden. Die jemenitische Hauptstadt und ihr Umland werden seit einigen Monaten von den Huthis kontrolliert. Im Westen werden sie gemeinhin als Schiiten abgestempelt, die, ähnlich wie im Irak, gegen sunnitische Stämme und Al-Qaida kämpfen. Doch das Wirken der Huthis ist weitaus komplexer.
Dafalah El-Shami ist einer unserer Begleiter. Er ist Huthi-Anführer und Sprecher der "Ansar Allah" (Anhänger Gottes), des militärischen Flügels der Huthis. Er ist ein freundlicher und ruhiger Mann, den man eher für einen Lehrer oder Händler halten könnte. Er erzählt uns, dass die Huthis eigentlich Zaiditen sind, ein Zweig der Schiiten.
"Wir sind alle Jemeniten"
Vor ungefähr zehn Jahren hatte das Oberhaupt der Zaiditen, Hussein Badreddin al-Houthi, gegen die korrupte Regierung von Ex-Präsident Ali Abdallah Saleh rebelliert. Seitdem haben Regierung und Huthis gegeneinander bis 2010 insgesamt sechs Kriege geführt. Doch dies hier sei kein konfessioneller Glaubenskrieg, beteuert er. "Inzwischen kämpfen sehr viele Sunniten auf unserer Seite. Wir sind alle Jemeniten", so Hussein Badreddin al-Houthi.
Rund hundert Kilometer vor Saada halten wir vor einer Raststätte an. Über den Eingang hängt ein Poster mit der Aufschrift "Märtyrer". In diesem Restaurant sollen Anhänger von Ali Mohsen al-Ahmar acht wehrlose Menschen erschossen haben. Danach seien die Huthis in Richtung Hauptstadt marschiert, um Al-Qaida zu vertreiben. Ahmar war einst einflussreicher Politiker, Geschäftsmann und langjähriger Verbündeter von Ex-Präsident Ali Abdallah Salih. Nach Ausbruch des Arabischen Frühlings 2011 erklärten sie sich jedoch gegenseitig den Krieg. Viele behaupten, seine Männer hätten damals das Haus von Salih beschossen und den langjährigen autoritären Machthaber dabei schwer verwundet.
Die Metropole Saada wirkt ärmlich und verwahrlost, so wie viele Städte im Jemen. Die zahllosen zerstörten Häuser weisen auf den schrecklichen Krieg, der unmittelbar in der ganzen Stadt ausgetragen wurde. Auf dem Waffenmarkt im Stadtzentrum sitzen Kat kauende Waffenhändler, die Handwaffen und Kalaschnikows verkaufen. Seitdem die Huthis Sanaa eingenommen haben, ist der Waffenverkauf zurückgegangen, sagt uns ein Waffenhändler. Das ist gut für die Sicherheitslage, aber schlecht fürs Geschäft.
Überall in der Stadt hängen Plakate der Huthis, die die amerikanische Regierung verteufeln und Israel den Tod wünschen. "Die Amerikaner werfen Bomben auf uns unter dem Vorwand der Terroristenbekämpfung, was nicht zutrifft", sagt Dafaala El-Shami. "Sie wollen nur das Land kontrollieren!" Auch das Nachbarland Saudi-Arabien ist verhasst. Immer wieder kam es zu Unruhen und zu gewaltsamen Übergriffen an der nördlichen Grenze des Jemen.
El-Shami führt uns durch das zerstörte Saada. Die Regierung hatte eigentlich versprochen, die Häuser wieder aufzubauen und hierfür einen eigenen Fonds zu gründen. Doch wohin die Gelder letztlich geflossen sind, weiß hier keiner.
Die Huthis sprechen immer wieder von der Korruption des Regimes und dass sie selbst keine politischen Ansichten haben. Sie haben die Regierung zu Fall gebracht und wollen an der neuen nicht teilhaben, sondern sie von außen kontrollieren. In der Tat werden sie dabei von verschiedenen Gruppen unterstützt. Selbst kritische Gegner, wie der "Allgemeine Volkskongress" von Ex-Präsident Salih, der sie lange bekämpft hat, sind ihnen fast schon freundlich gesonnen. Parteisprecher Abdu El-Gindi glaubt, dass Sanaa inzwischen sehr viel sicherer geworden ist, seitdem die Huthis eingezogen sind. Und wären sie nicht hier, hätte vermutlich Al-Qaida die Hauptstadt schon längst eingenommen, so El-Gindi.
Die Feinde von gestern als Verbündete von heute?
Es ist sehr schwierig, die neuen Machtstrukturen des Jemens zu überblicken. Nach kurzen Kämpfen mit der Regierung hatte sich die Armee im September 2014 ergeben. Tausende von Huthis waren auf Befehl ihres neuen Führers, Abdel Malek El-Huthi in Sanaa auf die Straßen gegangen, um gegen die Korruption der Regierung zu demonstrieren. Diese hatte sich im Vergleich zur Salih-Ära angeblich vervielfacht.
Doch wie Sanaa so schnell in ihre Hände fallen konnte, bleibt rätselhaft. Auch wenn Präsident Abd Rabbo Mansour Hadi von Verschwörung sprach, so munkeln viele, dass er mit den Huthis gemeinsame Sache gemacht hatte, um die Islamisten und den verhassten Ahmar, der schon einmal Saleh zu Fall brachte, los zu werden. Nur die Huthis verfügten über ausreichend Macht, ihn zu vertreiben.
Die Huthis hassen Ahmar und behaupten, er präsentiere den militärischen Flügel der Islamisten. Nach ihrer Machtübernahme ist er ins Ausland geflohen, viele seiner Geschäfte wurden von den Huthis übernommen.
Es spricht für die Huthis, dass sie bis jetzt immer nur in der Opposition waren. Auch an der neuen Regierungsbildung waren sie nicht beteiligt. Doch ihre Gegner trauen ihnen nicht recht. Es wollen alle nur ein Stück von der Torte, sagt uns Shamsan Noaman. Er gehört zu einer Gruppe von Aktivisten, die damals an der Revolution von 2011 beteiligt waren, als der arabische Raum im demokratischen Wandel begriffen zu sein schien. Doch diese Revolutionäre fühlen sich heute betrogen und von allen politischen Kräften verraten. Sie zählen neben Ahmar, den Islamisten und der Islah-Partei zu den wohl größten Verlierern, ähnlich wie die Muslimbrüder Ägyptens.
Wer regiert den Jemen?
Inzwischen haben sich Präsident Hadi und Ex-Präsident Salih überworfen, obwohl sie ursprünglich aus derselben Partei stammen. Der "Allgemeine Volkskongress" hat den Präsidenten aus der Partei ausgeschlossen, woraufhin dieser ihre Gelder sperren ließ. Sowohl Salih als auch Hadi sind den Huthis eher freundlich gesonnen, denn sie stellen derzeit die stärkste Gruppe im Jemen und kämpfen im Süden gegen Al-Qaida.
Es sieht ganz so aus, als ziehe sich der Krieg noch lange hin. Präsidentschaftswahlen sind unabsehbar. Der "Allgemeine Volkskongress" wirft Hadi vor, dass er die Macht nicht abgeben will. Sie fordern Neuwahlen. Ob Salih wieder kandidieren würde? Keineswegs, sagt sein ehemaliger Sprecher Gindi. Doch viele sehen in seinen Sohn Ahmed einen würdigen Nachfolger.
Der Jemen scheint auf einem Pulverfass zu sitzen, die Lage ist hoch explosiv. Nach der jüngsten Erstürmung des Präsidentenpalastes im Jemen hatten die Huthi-Rebellen von Präsident Abd Rabbo Mansour Hadi umgehend politische Reformen gefordert, andernfalls mit ernsten Konsequenzen gedroht.
Angesichts dieser neuen Unsicherheiten sehnen sich viele Jemeniten nach der Ära von Salih zurück. Zu seiner Zeit gab es mehr Stabilität als heute, so ihre Sicht der Dinge. Und inzwischen gibt es auch keine Touristen mehr im Land. Damit nicht genug: Der Süden will sich spalten, im Osten und Westen wird gekämpft. Keine guten Aussichten für das ärmste Land der arabischen Welt.
Sherif Abdel Samad
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