Was nach dem Regen kommt

Blick von der Biennale Terrasse auf den Seitenarm des Wadi Hanifa
Blick von der Terrasse der Biennale in Diriyah, einem Vorort von Riad, auf den Seitenarm des Wadi Hanifa. (Foto: Stefan Weidner)

Zum zweiten Mal findet in Riad eine Biennale für zeitgenössische Kunst statt. Sie steht für die neue saudische Politik der Öffnung und widmet sich thematisch Natur und Umwelt. Ein Bericht aus Riad.

Von Stefan Weidner

"Nach dem Regen“ lautet das Motto der zweiten "Diriyah Biennale für zeitgenössische Kunst“, die vom 19. Februar bis zum 24. Mai im gleichnamigen Vorort von Riad stattfindet. In Diriyah begann im 18. Jahrhundert der Aufstieg der Familie Saud, hier verbündete sie sich mit dem Islamgelehrten Ibn Abd al-Wahhab, dem Begründer des puritanisch-strenggläubigen Wahhabismus

Ausgerechnet hier wird ein großer Aufbruch zu kosmopolitischer Weltoffenheit inszeniert. Treibender Faktor ist die vielbeschworene Agenda 2030, die der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman ausgerufen hat. 

Während die neoliberale Schuldenbremse das Kulturleben in Deutschland in ein künstliches Koma versetzt, lässt in Saudi-Arabien die Agenda 2030 einen Regen von Investitionen über das Land niedergehen. Die Wirkung ist verblüffend; Saudi-Arabien ist im Rausch des positiven Denkens.  

Azra Aksamija: Abundance and Scarcity
"Eine Pergola aus Textilien der bosnischen Künstlerin Azra Akšamija (Bosnien, 1976) taucht den Weg entlang der Hallen in ein Spiel aus Licht und Schatten, so dass man des Auf- und Abgehens nicht müde wird", schreibt Stefan Weidner. (Azra Aksamija: Abundance and Scarcity; Foto: Stefan Weidner)

Die Biennale bietet das ideale Testgelände dafür: Sie ist öffentlich zugänglich, und doch zugleich exklusiv und elitär; global, und doch lokal eingehegt; progressiv, aber doch nicht revolutionär. Die Wasser- und Umweltproblematik ist als Leitmotiv der Ausstellung klug gewählt; sie ist inzwischen der einzige gemeinsame Nenner der Weltgemeinschaft. 

Ein weiteres Thema durchzieht die Ausstellung, wiewohl unausgesprochen: weibliche Selbstbehauptung. Als Leiterin konnte die renommierte deutsche Kuratorin Ute Meta Bauer gewonnenen werden. CEO der Biennale ist ebenfalls eine Frau, Aya Albakree, und rund die Hälfte der eingeladenen Künstler sind Frauen. Nimmt man Diriyah als Maßstab, werden die Frauen in Saudi-Arabien nicht unterdrückt, sondern gefördert, und zwar kräftiger als gegenwärtig in Deutschland.   

Deutsche Kuratorin

Ute Meta Bauer und ihre vier Co-Kuratoren haben eine hochästhetische Schau der globalen Gegenwartskunst zusammengestellt; ihr Reiz wird durch das ungewöhnliche Umfeld nur erhöht. In Diriyah befindet sich die renovierte einstige Residenz der Saudis, eine alte arabische Lehmbausiedlung, die Weltkulturerbestätte Al-Turaif. Von den Hallen der Biennale blickt man auf das in Trockenzeiten als Straße genutzte Flusstal des Wadi Hanifa.  

Der ins grelle Tageslicht getauchte Außenbereich wartet mit zwei Highlights auf: Eine Pergola aus Textilien von Azra Akšamija (Bosnien, 1976) taucht den Weg entlang der Hallen in ein Spiel aus Licht und Schatten, so dass man des Auf- und Abgehens nicht müde wird. Der junge, 1993 in Saudi-Arabien geborene, Mohammed Alfaradj gestaltet den Übergang zur Aussichtsplattform auf das Wadi mit fantasievollen Skulpturen aus getrockneten Palmwedeln und anderen aus Palmen gewonnenen Materialien: Sind es Skelette urzeitlicher Tiere? Fossilien geheimnisvoller Pflanzen? Oder ist das schlicht ein Ikebana der Wüste? 

 Taus Makhacheva : Charivari
Die überdimensionale, hochfiligrane Abstraktion einer Zirkusmanege unter dem Titel "Charivari“ von Taus Makhacheva (geb. 1983 in Moskau), die heute in Dubai lebt, erinnert an den performativen, spielerischen und ironischen Charakter der Kunst. (Taus Makhacheva: Charivari; Foto: Stefan Weidner)

Man könnte lange darüber meditieren, aber auch im Februar droht draußen ein Sonnenbrand, und die Pavillons wollen auch besichtigt werden. Ausgerechnet der erste ist der am wenigsten repräsentative: ein exterritoriales Gebiet ohne Bezug zum leitenden Umweltthema. 

Dennoch gefällt die überdimensionale, hochfiligrane Abstraktion einer Zirkusmanege unter dem Titel "Charivari“ von Taus Makhacheva (geb. 1983 in Moskau), die heute in Dubai lebt. Es ist eine Reminiszenz an den Staatszirkus von Baku, aber auch, so werden wir vom Begleittext aufgeklärt, an den performativen, spielerischen und ironischen Charakter der Kunst.  

Wasser und Wohnen

Erst die zweite Halle taucht ins Thema ein. Die stärksten Beiträge sind jedoch nicht die die Wasserthematik spiegelnden Installationen mit ihrer kühlen Gewächshaus- und Laborästhetik, wie zum Beispiel die aus recyceltem Material erbaute "OrtaWater“ Reinigungsanlage von Lucy + Jorge Orta, sondern Fotoserien. 

Wie die Serie des 1962 im Libanon geborenen Camille Zakharia, der heute in Bahrain lebt. In den improvisierten Hütten der bahrainischen Fischer, die Zakharia in seinen Bildern dokumentiert hat, verwischt die Grenze zwischen innen und außen. Fast ist es, als wären aber gar nicht die Fotografien das eigentliche Kunstwerk, sondern diese baumhausartigen Fantasiehütten selbst, die aus Sperrmüll über das Wasser gebaut sind, nur auf Stegen erreichbar. 

Ebenso verblüffend sind die von Zakharia entdeckten Neubauten und Einfamilienhäuser in Riad, die zwischen den weggefrästen Felsen der Stadt errichtet werden. "The Mountain My Neighbour“ ("Der Berg, mein Nachbar”) heißt die von der Biennale eigens in Auftrag gegebene Bilderserie, die das Nebeneinander von Natur und Kultur sinnfällig illustriert - und zugleich von ihrer wechselseitigen Verdrängung und Konkurrenz zeugt. 

Lucy + Jorge Orta: OrtaWater
Die Installation "OrtaWater" von Lucy und Jorge Orta macht mit ihrer kühlen Gewächshaus- und Laborästhetik aus recyceltem Material auf das Thema Wasser aufmerksam. (Foto: Stefan Weidner)

Vergessene Künstlerinnen

Die nächste Halle arbeitet die international übersehene jüngere Geschichte der Kunst im Nahen und Mittleren Osten auf. Dass Künstlerinnen besonders präsent sind, geht zweifellos auf eine gezielte Entscheidung der Kuratoren zurück; aber es ist eine gute.

Obwohl sie kaum je ohne Widerstände und Beschränkungen arbeiten konnten, haben diese Künstlerinnen aus dem Nahen und Mittleren Osten großartige Werke hervorgebracht. Und doch zu Lebzeiten nur selten internationale Anerkennung erfahren.  

Besonders beeindruckend sind die Werke von Lala Rukh (1948–2017) aus Pakistan, die immerhin kurz vor ihrem Tod 2017 noch auf die Documenta 14 eingeladen worden war und währenddessen starb. Ihre "Arbeiten auf Papier“ sind abstrakte, teils kaum noch erkennbare Bleistiftstriche, figurative Andeutungen weiblicher Körper. 

Es ist eine Kunst am Rand des Schweigens, beziehungsweise der Unsichtbarkeit. Sie bildet ein künstlerisch-ästhetisches Gegenstück zu Rukhs politischen Aktivitäten: Im Untergrund druckte sie verbotene Schriften der pakistanischen Frauenbewegung.   

Auch die Arbeiten etablierter saudischer Kunstschaffender haben ihren Reiz. Bei Nabila Al Bassam sehen wir Bauwerke und Landschaften, wie sie für Saudi-Arabien typisch sind, dargestellt auf einem Patchwork von Textilien, die in ihrer Wirkung an die von Tunesien inspirierten Werke von August Macke und Paul Klee erinnern. 

Sie halten die Schwebe zwischen Abstraktion und naiver Kunst und sind so der perfekte Spiegel für die Möglichkeiten und Grenzen der Kreativität saudischer Frauen vor der jüngsten gesellschaftlichen Öffnung.  

Freilich ist die Naivität ihrerseits bereits eine kunstfertige Inszenierung:  Al Bassam hat, wie so viele, in Beirut und den Vereinigten Staaten studiert. Mit ihrem künstlerischen Kosmopolitismus haben die älteren nahöstlichen Kunstschaffenden den Weg für die Jüngeren geebnet. Für diese ist ein Auslandsstudium selbstverständlich geworden. Sie zählen zu den entschiedensten Unterstützerinnen des gesellschaftlichen Wandels. 

 Nabila Al Bassam: Untitled
Bei der saudischen Künstlerin Nabila Al Bassam sehen wir Bauwerke und Landschaften, wie sie für Saudi-Arabien typisch sind, dargestellt auf einem Patchwork von Textilien, die in ihrer Wirkung an die von Tunesien inspirierten Werke von August Macke und Paul Klee erinnern. (Nabila Al Bassam: Untitled; Foto: Stefan Weidner)

Kunstwerke junger Künstlerinnen

Die folgenden beiden Hallen sind vor allem diesen jüngeren Künstlerinnen gewidmet. In tiefes Schwarz getaucht, wie bis vor kurzem die saudischen Frauen, warten die Hallen mit einer die einzelnen Werke perfekt in Szene setzenden Lichtregie auf. Unter dieser Beleuchtung wird fast alles zum Kunstwerk; zumal aber die Arbeit der 1990 in Beirut geborenen Dala Nasser mit dem Titel "Mineral Lick“ (frei in etwa: "Mineralische Zunge“), einem großen, gewandartig von der Decke hängenden Tuch, rostfarbig und grün-gelb schimmernd.  

Die Farben sind ein Produkt der Wasserverschmutzung durch alte Leitungen. Schön und bedrohlich zugleich wallt die vergiftete Zunge auf den Betrachter zu und droht ihn zu verschlingen. Die schiere Ästhetik der Umweltverschmutzung, die von Dala Nasser herausgearbeitet wird, verstört und erinnert an die großformatigen Fotografien kontaminierter Landschaften von Edward Burtynsky

Wie das Gegenstück zu "Mineral Lick“, wie der Wunsch nach Reinheit, wirken die vielen Hundert arabischen Seifen, die die 1993 in Jeddah geborene Sara Abdu zu turmartigen Strukturen wie Ziegel aufeinandergelegt hat und die sich infolge der Lichtinstallation auf dem Boden als leuchtende Flecken widerspiegeln. "Now that I have lost you in my dreams, where do we meet?“, heißt diese Arbeit ("Wo begegnen wir uns, jetzt, wo ich dich in meinen Träumen verloren habe“?).  

Die arabische Badekultur, aber auch die Tradition der Leichenwäsche, der Geruch der aus Olivenkernen hergestellten Seifen und die Verlusterfahrung, die den Titel der Arbeit prägt – dies alles wird von der Skulptur eingefangen. Sie scheint ebenso fragil wie mächtig, ebenso überirdisch wie unheimlich.  

Sara Abdu: Now that I have lost you in my dreams, where do we meet?
Die 1993 in Jeddah geborene Sara Abdu hat Seifen zu turmartigen Strukturen wie Ziegel aufeinandergelegt, die sich infolge der Lichtinstallation auf dem Boden als leuchtende Flecken widerspiegeln. „Now that I have lost you in my dreams, where do we meet?“, heißt diese Arbeit. (Foto: Stefan Weidner)

Politik ist so gut wie abwesend

Zu den wohltuenden Aspekten der Biennale zählt, dass Politik so gut wie abwesend ist. Der Grund ist natürlich, dass allzu politische Kunst in Saudi-Arabien unerwünscht ist. Aber das ist inzwischen bei den heiklen Themen auch in Deutschland der Fall, nur dass es hierzulande, anders als in Riad, niemand zugeben will. 

Da die Ausstellung lange vor dem 7. Oktober 2023 und dem Überraschungsangriff der Hamas konzipiert wurde, spielt nicht einmal der Gaza-Krieg eine Rolle. Ohnehin liefert er in Saudi-Arabien wenig Stoff zur Kontroverse. Die Sachlage wird unbefangen gesehen, die Barbarei als solche daher auch bekannt und benannt.  

Wer vom vielen Schauen in den abgedunkelten Hallen müde ist, kann sich in der über dem Wadi angelegten "Njokobok“ Bar des senegalesischen Kochs Youssou Diop entspannen. Die hochprozentigen Säfte und Tees aus Minze, Ingwer, Hagebutte, Basilikum und Kurkuma ersetzen wunderbar den Alkohol, der hier verboten ist, und während man auf den Barhockern sitzt und an den Säften nippt, entwickeln sich die Gespräche, etwa über die Mehrdeutigkeit des Titels der Ausstellung.  

Auf den Regen folgt in der Wüste die Blütezeit, und vordergründig meint "After the Rain“ nichts anderes. Denkt man weiter, verbirgt sich im Titel freilich auch die Umwelt-Apokalypse, so wie im berühmtesten Gedicht der arabischen Literatur, der "Mu’allaqa“ von Imru al-Qais aus vorislamischer Zeit (6. Jahrhundert). 

Die letzten Zeilen des Gedichts lauten: "Bei Kutaifa begann es zu regnen. Kinnhaken aus Wasser/ prasselten nieder, Bäume wurden entwurzelt, landeten kopfüber/ (…) Überall waren in der Nacht die Raubtiere ertrunken, lagen umher wie aus der Scholle gerissene Knollen.“ (Übersetzt von Stefan Weidner)

Nach dem Regen kann die Blüte kommen. Aber eben auch, wie in dem alten arabischen Gedicht, die Sintflut. 

Stefan Weidner 

© Qantara.de 2024