Wird Ägypten die Grenze für Palästinenser aus Gaza öffnen?
Viele Ägypter macht der Zeitpunkt misstrauisch. Vergangene Woche kündigte das israelische Militär an, es würde einen Angriff auf Rafah im Süden des Gazastreifens nahe der ägyptischen Grenze starten. Mehr als eine Million Palästinenser haben dort Zuflucht vor den Kämpfen zwischen dem israelischen Militär und der militant-islamistischen Terrororganisation Hamas gesucht.
Während immer mehr Menschen in Richtung Grenze gedrängt werden, macht sich die Sorge breit, dass Pläne israelischer Denkfabriken kurz vor der Umsetzung stehen. Diese wurden zu Beginn des aktuellen Konflikts an die Medien durchgestochen. Demnach hatte das Misgav Institute for National Security and Zionist Strategy ein Papier veröffentlicht, in dem der Konflikt als "eine einmalige und seltene Chance, den gesamten Gazastreifen zu räumen" bezeichnet wird.
Die ägyptische Regierung lehnt solche Pläne entschieden ab. Sie befürchtet, wenn Palästinenser den Gazastreifen verlassen, könnte ihnen eine Rückkehr für immer verwehrt werden.
Menschenrechtsorganisationen sprechen davon, eine solche "Zwangsumsiedlung" käme einem Kriegsverbrechen gleich.
In Kürze wird der Internationale Währungsfond (IWF) darüber entscheiden, ob Ägypten ein erweitertes Darlehen in Höhe zwischen sechs bis zwölf Milliarden US-Dollar (5,6 bis 11,2 Milliarden Euro) gewährt wird, um die schwer verschuldete Wirtschaft und die Währung des Landes zu stützen.
"Ist das Erpressung?" fragt die Al Modon, eine Online-Zeitung, die sich in libanesischer Hand befindet. In dem Artikel wird darüber spekuliert, ob die wichtigsten Anteilseigner des IWF in den USA und Europa Ägypten seine internationalen Schulden erlassen, wenn das Land vertriebene Palästinenser aufnimmt.
Geld an Ägypten für die Aufnahme von Palästinensern?
Der Zeitpunkt und frühere Berichte legen dies zumindest nahe. So wies ein Bericht in der britischen Financial Times darauf hin, dass israelische Politiker ihre europäischen Kollegen darum gebeten hatten, Druck auf Ägypten auszuüben, seine Grenzen zu öffnen.
Sogar einen Präzedenzfall gibt es: 1991 erließen die Vereinigten Staaten Ägypten Schulden in Höhe von etwa 10 Milliarden US-Dollar (9,3 Milliarden Euro), weil es sich bereit erklärt hatte, eine Koalition unter Führung der USA im Kampf gegen den Irak zu unterstützen.
Doch in diesem Fall verhalte es sich anders, sagt Riccardo Fabiani, Projektleiter für Nordafrika bei der International Crisis Group, einer regierungsunabhängigen Organisation, zur Deutschen Welle (DW). "Leider macht dieses Gerücht schon seit einer Weile die Runde", klagt Fabiani. "Ob in den sozialen Medien oder auf der Straße, die Menschen behaupten, dass der Westen Ägypten Geld böte, um Flüchtlinge aufzunehmen."
Dabei handle es sich jedoch um ein schwerwiegendes Missverständnis, fügt Fabiani hinzu. "Der IWF, die EU und ganz allgemein der Westen, sind bereit, Ägypten Geld zu geben, weil sie sich Sorgen machen, dass der Konflikt im Gazastreifen das Land destabilisiert."
Ägypten leide neben der Inflation und der übermäßigen Staatsverschuldung auch unter dem Rückgang des Tourismus in der Region und der unsicheren Lage am Roten Meer, erläutert Fabiani.
"Mit 120 Millionen Einwohnern ist Ägypten einfach zu groß, um zu scheitern", meint Ashraf Hassan von der Denkfabrik Century International, die ihren Sitz in den USA hat. Für Ägypten ergebe ein solches Geschäft überhaupt keinen Sinn, fügt Hassan hinzu. "Ich denke, das Regime weiß, dass es keine wirtschaftlichen Anreize gibt, die die Gefahren für die Sicherheit und die Politik aufwiegen, die durch palästinensische Flüchtlinge verursacht werden könnten."
Dazu gehören mögliche Sicherheitsrisiken durch militante Palästinenser auf der ägyptischen Seite der Grenze - aber auch die Gefahr, sich dem Vorwurf auszusetzen, Israel bei der endgültigen Vertreibung der Einwohner von Gaza zu unterstützen.
Al-Sisi unter Druck
Noch wandelt die autoritäre ägyptische Regierung auf einem schmalen Grat zwischen der Stimmung im Volk - das überwiegend die palästinensische Sache unterstützt - und den langfristigen Sicherheitsvereinbarungen mit Israel.
Vergangene Woche zitierte die Nachrichtenagentur Associated Press anonyme Quellen mit der Aussage, Ägypten könne möglicherweise das wegweisende Friedensabkommen von Camp David aufkündigen, das beide Länder in den späten Siebzigern unterzeichneten, sollte Israel eine Militäraktion in Rafah starten. Der ägyptische Außenminister Samih Schukri dementierte dies jedoch.
"Eine Aussetzung oder Aufkündigung des Friedensvertrags ginge angesichts der geopolitischen und wirtschaftlichen Auswirkungen eindeutig zu weit", meint Fabiani. Er verweist darauf, dass der Friedensvertrag nicht nur die Sicherheitskooperation mit Israel umfasst, sondern auch US-Hilfsleistungen garantiert. "Gegenwärtig steht Ägypten zudem mit dem IWF und der EU in sehr heiklen Verhandlungen um mehr Geld. Das letzte, was das Land jetzt braucht, ist weitere Unruhe."
Wahrscheinlicher sei, dass Ägypten symbolische Wege suche, Israel unter Druck zu setzen, vermutet Fabiani. Eine Möglichkeit dazu bietet das Treffen zwischen dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi und seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan in dieser Woche.
"Das Treffen sendet eine Botschaft", betont Fabiani. "Ägypten zeigt damit der Welt und insbesondere Israel, dass es nicht alleine ist, und dass das Überschreiten von Ägyptens Grenze zu Rafah nicht nur für Ägypten ein Problem darstellt, sondern für alle."
Vorbereitungen für die Aufnahme von Flüchtlingen laufen
Sämtliche Fachleute, mit denen die DW sprach, sind sich darüber einig: was als nächstes an der Grenze zwischen Ägypten und Gaza geschieht, wird hauptsächlich von Israel abhängen. "Ägyptische Diplomaten […] halten es weiterhin für möglich, dass Israel heimlich plant, die Palästinenser weiter an die Grenze zu Ägypten zu drängen", heißt es in einem Briefing der International Crisis Group von Ende Januar. "Möglicherweise versuchen die Palästinenser auch aus eigenem Antrieb, in den Sinai zu gelangen, wenn israelische Aktionen Gaza unbewohnbar machen."
Dies wäre das schlimmste denkbare Szenario, meint Hassan von Century International. Denn das basiere dann nicht auf einer ausgehandelten Lösung, sondern würde Ägypten aufgezwungen.
"Doch im Moment gibt es nicht wirklich viele Optionen", bedauert Mirette Mabrouk, Gründungsdirektorin des Ägypten-Programms des in Washington ansässigen Middle East Institute. "Wenn Palästinenser die Grenze überqueren, wird Ägypten sie aufnehmen. Sie werden nicht anfangen, auf verzweifelte Frauen und Kinder zu schießen."
Tatsächlich bereiteten sich die Behörden im Norden des Sinai schon seit Monaten darauf vor und hielten Notunterkünfte und medizinische Hilfsgüter bereit für den Fall, dass sie benötigt werden, berichtet Mabrouk der DW. Auch das Wall Street Journal schrieb bereits, Ägypten könne in der Grenzregion im Bedarfsfall bis zu 100.000 Menschen unterbringen.
"Es ist nicht so, dass Ägypten sie nicht aufnehmen könnte. Das Land beherbergt bereits Millionen von Flüchtlingen aus solchen Ländern wie Syrien und dem Sudan. Ägypten will einfach nicht an einer weiteren Nakba beteiligt sein", erläutert Mabrouk mit Verweis auf die etwa 700.000 Palästinenser, die während des arabisch-israelischen Krieges von 1948 fliehen mussten oder vertrieben wurden und nie in ihre Heimat zurückkehren konnten.
Möglicherweise ließe sich Ägypten auf den Kompromiss ein, mehrere tausend Palästinenser aufzunehmen, sagt Fabiani von der International Crisis Group.
"Das sähe besser aus, als sie an der Flucht nach Ägypten zu hindern. Und es würde der Regierung ermöglichen, vor der eigenen Bevölkerung das Gesicht zu wahren. Die hegt die viel Sympathien für die Palästinenser, möchte aber keine dauerhafte [Nakba-ähnliche] Vertreibung sehen."
Niemand könne vorhersagen, was in Rafah geschehe, sagt Mabrouk. "Alles hängt davon ab, was Israel als Nächstes tut. Und niemand zieht die israelische Regierung wirklich zur Verantwortung. Alle anderen reagieren nur."
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo
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