"Wir haben schon so lange nicht in Würde gelebt“
Frau Gaafar, die Handlung Ihres Romanes beginnt damit, dass ein Junge in einem sudanesischen Dorf ertrinkt. Der Roman wird anhand der Geschichte von drei Frauen erzählt, deren Leben miteinander verknüpft sind – Fatima, Sulafa und Nyamakeem. Wer sind diese Frauen und wofür stehen sie?
Reem Gaafar: Fatima ist eine Figur, die ich schon lange im Kopf hatte. Sie ist eine junge, wissbegierige Frau, die in einem kleinen Dorf im Nordsudan aufwächst, wo Frauen keinerlei Bildung erhalten. Ursprünglich sollte die Geschichte nur von ihr und dem ertrunkenen Jungen handeln – basierend auf einer wahren Begebenheit, die mir eine Freundin über den Sohn ihrer Verwandten erzählt hat, der unter Aufsicht seiner Großeltern starb.
Während des Schreibprozesses habe ich den Stoff um die Figuren Sulafa, die Mutter des ertrunkenen Jungen, und Nyamakeem, der aus dem Südsudan stammt, erweitert. Normalerweise habe ich eine bestimmte Idee oder ein bestimmtes Bild im Kopf, und die Gefühle, die damit verbunden sind, treiben dann das Schreiben voran.
Bei diesem Roman war mein Hauptgefühl Ungerechtigkeit im Allgemeinen und speziell Ungerechtigkeit aufgrund von ethnischer Herkunft und Gender. Jede der drei Frauen erlebt Ungerechtigkeit auf unterschiedliche Weise. Aber sie alle stehen stellvertretend für all das, was Frauen im Sudan und in der Region täglich erleben.
"Mein Schreibprozess ist chaotisch"
Ungerechtigkeit, ethnische Herkunft, Gender - obwohl diese Themen brandaktuell sind, spielt Ihr Roman von den 1930er Jahren bis in die späten 80er, also bis kurz vor Beginn der Diktatur von Omar al-Bashir. Warum?
Gaafar: Ursprünglich hatte ich diese Zeitspanne nicht im Sinn, aber schließlich bin ich in den 1980er Jahren gelandet. Je mehr die Figur Nyamakeem Teil der Geschichte wurde, desto weiter bin ich in die Vergangenheit zurückgereist.
Mein Schreibprozess ist chaotisch, er entspinnt sich entlang der Geschichte. Alle Ereignisse im Roman haben auf ihre Art zu der Situation beigetragen, in der wir Sudanesen heute sind – angefangen von der politischen und wirtschaftlichen Lage, in der wir uns seit Jahrzehnten befinden, bis hin zum aktuellen Krieg.
Wenn der Roman in einer anderen Zeit spielen würde, hätten sich die Erfahrungen der Frauen nicht sonderlich verändert, wenn der Roman in einer anderen Zeit spielen würde. Denn die Gesellschaft hat sich kaum verändert. Das ist etwas, was mich massiv stört. Jede Frau, jeder Einzelne muss sich für sein Handeln noch immer vor der eigenen Kernfamilie, der erweiterten Familie und schließlich der Gesellschaft rechtfertigen.
Ein Schlüsselmoment im Roman ist eine Geburtsszene, die Sie sehr detailliert beschreiben. Profitieren sie als Autorin von Ihrer Tätigkeit als Ärztin oder behindert der ständige Wechsel zwischen der faktenbasierten und der fiktionalen Welt Ihr Schaffen?
Gaafar: Viele Ärzte können klar trennen: Sie konzentrieren sich auf die Behandlung, haben Mitgefühl für ihre Patienten, aber lassen die Arbeit nicht an sich heran. Mir ist das nicht gelungen. Das, was mich beim Schreiben antreibt - meine Fantasie, meine Gefühlswelt - hat mir als Ärztin Probleme bereitet. Ich war ständig traurig und gestresst, vor allem, wenn ein Patient gestorben ist oder wenn ich das Gefühl hatte, nicht mein Bestes gegeben zu haben.
Aus diesem Grund bin ich aus der Klinik in den öffentlichen Gesundheitssektor gewechselt. Andererseits hilft mir das faktische Denken als Schriftstellerin: Obwohl mir die fiktionale Welt kreativen Spielraum lässt, ist alles, was ich schreibe, gut recherchiert. Falls Sie den letzten Entwurf von “A Mouth Full of Salt” zu Gesicht bekommen sollten, würden Ihnen die ganzen Fußnoten auffallen.
Literarische Vorbilder
Können Sie ein Beispiel für die Recherche zu Ihrem Roman geben?
Gaafar: Aufgrund der schwierigen Beziehungen zwischen dem Südsudan und dem Sudan habe ich lange gezögert, über den Südsudan zu schreiben. Ich hatte das Gefühl, dem nicht gerecht werden zu können, obwohl ich an der University of Juba im Südsudan studiert und viele südsudanesische Freunde habe.
Es fühlte sich einfach nach einer zu großen Verantwortung an und ich wollte nichts Oberflächliches schreiben. Also habe ich mich in die Recherche gestürzt. Kurz vor Veröffentlichung habe ich darauf bestanden, dass ein südsudanesischer Wissenschaftler mein Werk durchschaut. Schließlich hat sich Francis Deng des Romans angenommen und grünes Licht gegeben. Das war für mich aufgrund seines Alters und seiner politischen Erfahrung eine große Ehre.
Im Jahr 2023 haben Sie mit "A Mouth Full of Salt" den "Island Prize" gewonnen, der Schriftsteller aus Afrika und der afrikanischen Diaspora unterstützt, deren Werke noch nicht veröffentlicht wurden. Welche Schriftstellerinnen aus Afrika und dem Nahen Osten inspirieren Sie persönlich?
Meine größte Inspirationsquelle ist Leila Aboulela. Nicht nur, weil sie eine großartige Autorin und Halb-Sudanesin ist. Sondern weil ich mich als Sudanesin, die zwar sudanesisch aufgewachsen ist, aber kein Arabisch lesen kann, in Aboulelas englischsprachigen Werken wiederfinde.
Ich habe schon immer gerne gelesen und englischsprachige Literatur wie Charles Dickens oder Stephen King verschlungen. Aber als sogenanntes "Third Culture Kid" konnte ich mich mit ihren Geschichten nicht identifizieren.
Deshalb ist Repräsentation so wichtig. Aboulela ist es zudem gelungen, sowohl erfolgreiche Autorin als auch Ehefrau, Mutter und Akademikerin zu sein, was ich sehr inspirierend finde.
Abgesehen von ihr verfolge ich seit einiger Zeit Fatin Abbas, die mir als Sudanesin und als Autorin, die im Westen aufgewachsen ist, nahesteht. Dann wären da noch Stella Gaitano aus dem Südsudan und natürlich die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie.
Ein Patt zwischen Leben und Tod
Stella Gaitanos Debütroman "Edo‘s Souls“, der im Sudan und im Südsudan spielt, inszeniert einen epischen Kampf zwischen den Kräften des Lebens und dem Tod.
Sudans Revolution "hat mich sehr berührt"
Englischsprachige Literatur aus Afrika und der afrikanischen Diaspora konnte zuletzt weltweit ein großes Publikum für sich gewinnen. Wie denken Sie darüber?
Gaafar: Ich bin im Nahen Osten aufgewachsen und dort gab es praktisch keine Bücher afrikanischer Autoren zu kaufen, zumindest nicht in kommerziellen Buchläden. Selbst für mich als Afrikanerin gab es immer eine Kluft zwischen meinem Wissen über bestimmte afrikanische Länder und den Realitäten vor Ort. Das hat sich zuletzt etwas verändert und der Markt ist inklusiver geworden.
Gerade in der heutigen Zeit, in der Rassismus, Islamfeindlichkeit sowie Kriege und Konflikte zunehmen, ist es wichtig, mehr über die Menschen in anderen Ländern zu erfahren und nicht nur über Regierungen oder die Mächtigen, die diese Länder repräsentieren.
Ihr aktuelles Buchprojekt nimmt die sudanesische Revolution von 2018/19 und den Sturz von Diktator Omar al-Bashir in den Blick. Welchen Stellenwert haben diese Ereignisse in Ihrem Leben?
Gaafar: Die Charaktere dieses zweiten Buches begleiten mich schon länger, ich wusste nur nicht, in welcher Geschichte oder in welchem Zeitraum ich sie verorten sollte. Dann kam die Revolution und ich hatte einen Platz für sie gefunden. Ich schreibe über ganz normale Menschen, die gewöhnliche oder auch außergewöhnliche Dinge tun.
Und eines der außergewöhnlichsten Dinge, die ich in meinem Leben erlebt habe, ist die Revolution von 2018. Leider hatte ich den Sudan eine Woche vor ihrem Ausbruch verlassen. Aber ich habe fast jeden Tag bis zum Ende der Revolution über sie gebloggt.
Damals lebte ich in den Vereinigten Arabischen Emiraten und verfolgte die Proteste, die in der Regel jeden Montag und Donnerstag stattfanden, sah mir die Livestreams an und wartete danach darauf, dass die neusten Zahlen zu den Erschossenen veröffentlicht wurden, weil es eine so blutige Zeit war.
Nach jedem Protest habe ich gesagt: Das war jetzt der letzte Protest, die Menschen werden sich nicht noch einmal auf die Straße wagen. Aber sie taten es. Sie stellten sich ihrer Angst, obwohl sie nebenbei ihre Kinder zur Schule schicken und finanziell ums Überleben kämpfen mussten. Das hat mich sehr berührt.
"Das Leben von Schwarzen ist nichts wert"
Die Revolution war zwar erfolgreich, aber leider folgten eine turbulente Übergangszeit, ein Militärputsch und danach der immer noch andauernde Krieg. Wie schwierig ist es für Sie, die Veröffentlichung Ihres ersten Romans zu feiern, während sich der Krieg am 15. April zum ersten Mal jährt?
Gaafar: Ich versuche, meine Veröffentlichung zu feiern, denn ich schreibe, seit ich 13 Jahre alt bin und dieses Buch hat einen langen Weg hinter sich. Aber sobald ich durch die sozialen Medien scrolle, mir dort Tod und Zerstörung begegnen, ich von Familienmitgliedern lese, die nach vermissten Angehörigen suchen und Posts von Menschen sehe, die ohne Nahrungsmittel vom Rest der Welt abgeschnitten sind, fällt es mir sehr schwer, eine Ankündigung über mein Buch zu posten.
Einige betrachten einen solchen Post vielleicht als positive Nachricht und Ablenkung vom Krieg, andere könnte das verärgern. Andererseits möchte ich die Gelegenheit nutzen, um das Bewusstsein für die Lage im Sudan zu schärfen. Denn das ist das Einzige, was ich tun kann.
Aufmerksamkeit scheint dringend notwendig: Mehr als zehn Millionen Menschen wurden bislang innerhalb des Sudan vertrieben oder mussten in die Nachbarländer fliehen, ohne dass die internationale Gemeinschaft ihnen große Beachtung schenkt. Was wünschen Sie sich für die Menschen im Sudan?
Gaafar: Ich wünsche mir, dass sie einfach ein normales Leben führen können, wie andere Menschen auch - dass sie in ihren Häusern aufwachen, ihre Kinder zur Schule schicken, zur Universität gehen, ihre Rechnungen bezahlen, sich ordentlich ernähren und in Sicherheit leben können.
Wir haben schon so lange nicht in Würde gelebt. Die Sudanesen werden in nächster Zeit nicht in ihre Heimat zurückkehren können, was es sehr schwer macht, seine Zukunft zu planen. Außerdem empfinde ich es als ziemlich beleidigend, um Aufmerksamkeit betteln zu müssen.
Wir wussten bereits, dass das Leben von Schwarzen nichts wert ist, insbesondere das von Afrikanern. Aber wenn es einem so vor Augen geführt wird, ist das schon hart. Ich wünschte, die Menschen würden mehr über den Sudan erfahren, damit wir in unserem Elend gesehen und gehört werden. Und wenn mein Roman die Leute dazu bringt, mehr Fragen zu stellen, was in dem Land vor sich geht, dann wäre das großartig.
Das Interview führte Anna-Theresa Bachmann.
© Qantara.de 2024
Reem Gaafar ist in Neuseeland, Oman und im Sudan aufgewachsen und hat eine Zeit lang in den Vereinigten Arabischen Emiraten gelebt. Aktuell lebt sie mit ihrer Familie in Kanada. Ihr Debütroman “A Mouth Full of Salt” ist im April 2024 bei Saqi erschienen.