Wohlwollender Diktator oder schlafender Monarch?
Am 16. Mai 2014 erklärt Generalmajor Chalifa Haftar zum zweiten Mal seit Beginn des Jahres das amtierende Parlament, den "Allgemeinen Nationalkongress", für aufgelöst, und kündigt an, er werde unter der Aufsicht seiner "Libyschen Staatsarmee" (LSA) die Macht an die Verfassungsgebende Versammlung oder den Obersten Gerichtshof übertragen.
Doch wie bereits im Februar beeindruckt das zunächst wenig, denn die LSA ist keine Armee, sondern eine in den 1980er Jahren gegründete und später aufgelöste Kampftruppe. Dieses Mal hat sich der Militär im Ruhestand jedoch eine neue Strategie überlegt, um Verbündete und die Herzen der Libyer zu gewinnen.
Chaos als Normalzustand
Seit der Revolution haben sich vor allem im Osten des Landes extremistische Gruppierungen ausgebreitet, die Hass gegen den Westen und gewaltsamen Widerstand gegen die "aufgezwängte Demokratie" predigen. Ihnen erklärt Haftar den Krieg, mitsamt ihren "politischen Verbündeten", womit die Muslimbruderschaft und die islamistischen Kongressabgeordneten gemeint sind.Überraschend stellen sich die Luftwaffe und die Spezialeinheiten der Armee auf seine Seite und greifen prompt Milizenstützpunkte in Benghazi an. Dort verschanzen sich Revolutionsbrigaden, die sich seit drei Jahren weigern, ihre Waffen abzulegen, sowie die Terrororganisation "Ansar al-Sharia".
Während die Kämpfe in Benghazi das Geschäftsleben und den Flugverkehr lähmen, greifen in Tripolis anti-islamistische Milizen mit schwerem Geschütz das Parlament an, um dessen Auflösung zu erzwingen. Auch für sie ist es nicht die erste derartige Operation. Bereits im Februar hatten sie den Abgeordneten mit Verhaftung gedroht, würden diese nicht sofort zurücktreten. Daher kommt ihnen General Haftars Anti-Terror-Feldzug, auch "Operation Würde" genannt, gerade recht.
In Tripolis setzen daraufhin teils heftige Kämpfe zwischen anti- und pro-islamistischen Milizen ein, die alle offiziell dem Sicherheitsapparat angehören, tatsächlich jedoch ihre jeweiligen Eigeninteressen verfolgen. Der "Allgemeine Nationalkongress" ruft Milizen aus der Stadt Misrata zur Hilfe, obwohl diese erst im vergangenen Jahr nach blutigen Auseinandersetzungen mit Mühe zum Abzug gezwungen worden sind. Die Regierung befindet sich im Mittelpunkt des schwelenden Konflikts zwischen den beiden rivalisierenden politischen Lagern, die sich allgemein als islamistisch-revolutionär und säkular-nationalistisch kategorisieren lassen. Sie tut sich schwer damit, auf die Ereignisse angemessen zu reagieren.
Zeitgleich kämpfen nämlich zwei Männer um das Amt des Ministerpräsidenten: Verteidigungsminister Abdallah Thinni, der seit der Amtsenthebung des liberalen Ali Seidan im März vorübergehend die Regierung leitet, und Ahmed Maitieg, Wunschkandidat der Muslimbrüder aus Misrata, der am 4. Mai in einer umstrittenen parlamentarischen Abstimmung mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt wurde.
Libyens Innenpolitik als Seifenoper
Aus ihrem Hauptquartier vertrieben, halten die Kongressabgeordneten ihre Sitzungen in Hotels ab, deren Standort den Teilnehmern kurzfristig per SMS durchgegeben wird. Zunächst gibt der "Allgemeine Nationalkongress" den Drohungen der Milizen nach und setzt für den 25. Juni Neuwahlen an. Dies entspricht auch der Mehrheitsmeinung des Volkes, das von der bisherigen Regierungsarbeit zutiefst enttäuscht ist und diese so rasch wie möglich ersetzen will, wenn auch nur für eine weitere Übergangsphase.
Doch am Sonntagabend (25.05.2014) vereidigen 83 von 95 anwesenden Abgeordneten überraschend Maitieg und sein Kabinett, obgleich letzterer zuletzt beteuerte, er habe noch keine eigene Liste aufgestellt. Unterzeichnet wird der Beschluss vom Kongressvorsitzenden Nuri Busahmein, der seit Wochen nicht mehr öffentlich auftritt, weil er beschuldigt wird, Prostituierte in seinem Haus empfangen zu haben.
Der stellvertretende Kongressvorsitzender Azzeddin Awami erhebt Einspruch, denn weder er, noch andere liberale Abgeordnete seien von der Sitzung informiert gewesen. Auch sei das erforderliche Quorum nicht erreicht worden. Somit ist bis heute unklar, wer offiziell an der Spitze der Regierung steht. Haftars Vorschlag einer sofortigen Machtübertragung stößt derweil auf die Weigerung der von ihm auserkorenen Ersatz-Institutionen, von denen keine die Verantwortung des Parlaments übernehmen will.
Die libysche Innenpolitik ähnelt immer mehr einer Seifenoper. Akt zwei, Szene acht, Wiederholung in neuer Variante mit weiteren Nebendarstellern, damit der Zuschauer auch ja den Faden der Handlung verliert. Längst ihrer bizarren Lage in dem politischen Ränkespiel bewusst, reagieren viele Libyer nur noch mit Zynismus.
"Operation Würde" – wem gilt die Kampfansage?
In ihren Augen steht Libyen heute am Scheideweg. Für sie ist fraglich, ob sich der Verfall ihres Landes überhaupt noch aufhalten lässt. Die Machtkämpfe haben den Aufbau des Sicherheitsapparates massiv behindert, und alle Versuche, die Sicherheit des Landes aufrechtzuerhalten, sind bislang im Sande verlaufen.
Es ist ein Teufelskreis, denn die Bildung einer dem Staat verpflichten Armee setzt die Integration der revolutionären Kräfte voraus. Sie haben jedoch wenig Interesse daran, ihre Milizen aufzulösen, zumal viele weiterhin mit öffentlichen Geldern finanziert werden. Die Grauzone zwischen rechtmäßig agierenden Milizen und illegalen Milizionären ist groß und an ihren radikalsten Rändern finden sich gewaltbereite Gruppen wie dien "Ansar al-Sharia" und kleinere Ableger, wie die jüngst gegründete "Usud al-Tawhid" ("Löwen des Monotheismus") herausgebildet.
Um die Scharia in Staat und Gesellschaft durchzusetzen, haben diese Gruppierungen dem "ungläubigen" Staat den Krieg erklärt und nehmen bei ihren Attentaten den Tod von Zivilisten in Kauf. Zum Alltag gehört auch die Ermordung von Mitgliedern der Sicherheitskräfte, sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren, die offen Kritik an den Milizen üben.
Zuletzt traf es den Herausgeber einer Lokalzeitung in Benghazi, der am Vorabend im Fernsehen das islamistische Lager und die Nominierung Maitiegs kritisiert hatte. Zwar bekennt sich niemand zu den Verbrechen, doch die meisten Libyer sind überzeugt, dass dahinter in erster Linie islamistische Milizenchefs und Extremisten stehen. Sie fordern daher seit Langem ein hartes Durchgreifen der Regierung. Doch deren Hände sind aufgrund der politischen Vernetzung der Milizen gebunden.
"Bündnis mit dem Teufel"
Chalifa Haftars Feldzug ähnelt verdächtig der Machtergreifung durch Armeechef Abdelfattah al-Sisi im Nachbarland Ägypten. Auch er hat – aus der Sicht seiner Anhänger – einer von Islamisten unterwanderten Demokratie ein abruptes Ende bereitet und somit "für Ordnung gesorgt".
Von General Haftar halten die meisten Libyer allerdings nicht viel. Der einstige Kommandeur der Truppen Gaddafis im sogenannten "Toyota-Krieg", der letzten Phase der libyschen Intervention im Tschad 1987, wurde Kriegsgefangener, setzte sich jedoch kurz darauf in die USA ab, angeblich mit Hilfe der CIA, die mit der Hoffnung, das Gaddafi-Regime zu stürzen, seine "Libysche Nationalarmee" finanzierte.
Nach einem gescheiterten Staatstreich zog sich Haftar jedoch aus der Exilopposition zurück und tauchte erst im Jahr 2011 wieder als Führer der Bodentruppen auf der Seite der Rebellen auf. Der versuchte Aufstieg zum Oberbefehlshaber missglückte ihm jedoch. Seine geheimdienstlichen Verstrickungen weckten Misstrauen, unter den Rebellen hatte er sich zunehmend unbeliebt gemacht.
Auf der Suche nach dem starken Mann
Seither hat sich die Lage jedoch geändert, denn nun hofft die Bevölkerung vor allem auf einen starken Mann, der der täglichen Gewalt ein Ende setzen kann. "Demokratie ist zu einem Luxusgut geworden, das wir uns heute nicht leisten können. Um die Extremisten zu besiegen, verbünden wir uns mit dem Teufel", bedauert ein Aktivist und spricht damit vielen Libyern aus dem Herzen.
Problematisch dabei ist, dass Haftar mit seinem Feldzug keineswegs nur auf die Extremisten abzielt, sondern auf die gesamte islamistische Politikszene. Gegenüber ausländischen Medien hatte er bereits offen erklärt die Muslimbruderschaft ausmerzen zu wollen. Man munkelt, er habe sich dafür die Unterstützung Saudi-Arabiens und Ägyptens gesichert.
Der harte Ton kommt indes bei seinen inländischen Verbündeten gut an. Doch viel mehr als der Hass auf die neue islamistische Elite hält seine lose Koalition nicht zusammen. Um sie weiterhin für sich zu gewinnen, verspricht Haftar den Ex-Militärs eine starke Armee, den früheren Gaddafi-treuen Stämmen Versöhnung und Rückkehr der Exil-Libyer, den Liberalen Schutz der Bürgerrechte, und den Föderalisten signalisiert er Zugeständnisse für eine mögliche regionale Autonomie.
Divergierende Positionen
Doch schon jetzt zeigt sich, wie weit alle diese Akteure in ihren Positionen auseinander liegen. Mansour Salihin, einer der Anführer der militanten Föderalisten (die seit zehn Monaten Ölhäfen besetzt halten und sowohl das Parlament als auch den umstrittenen Maitieg ablehnen) erklärte unlängst, dass seine Gefolgsleute nichts von Demokratie hielten: "Was wir brauchen ist ein wohlwollender Diktator oder ein schlafender Monarch wie in den Golfstaaten. Westliche Demokratievorstellungen kann man hier nicht umsetzen."
Unter dem Motto "Ja zur Operation Würde" kam es letzten Freitag (23.05.2014) zu den wohl größten Demonstrationen, die Libyen seit dem Sturz Gaddafis erlebt hat. Doch das populäre Mandat, das Haftar daraus ableiten will, ist so eindeutig nicht. Nur wenige Demonstranten schwenkten sein Porträt, weitaus mehr forderten schlicht die Stärkung der Polizei und der Armee.
Noch hält man an dem Glauben fest, dass es einen Ausweg aus der politischen Krise gibt, ohne dabei die durch die Revolution errungenen Freiheiten aufs Spiel zu setzen. Ob sich diese Hoffnung tatsächlich erfüllt, wird sich in den kommenden Monaten zeigen, wenn – wie angekündigt – Neuwahlen stattfinden sollen.
Valerie Stocker
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de