Gegenpol zu den Königstreuen
Als Folge der Proteste der sogenannten "Bewegung des 20. Februar" wurde am 29. Juli 2011 eine neue Verfassung verabschiedet. Primäres Ziel war es, den Einfluss der Parteien zu stärken und gleichzeitig die Macht des Königs einzuschränken. So heißt es etwa in Artikel 7, dass die Parteien "darin konkurrieren, den Willen der Wähler auszudrücken und an der Ausübung der Macht beteiligt werden".
Im gleichen Artikel wird zudem angeführt, dass "die Organisation und das Funktionieren der politischen Parteien demokratischen Prinzipien folgen müssen", womit dem Umstand Rechnung getragen wurde, dass es diesen an innerparteilicher Demokratie mangelte, was nicht nur ihre Verbindung zur eigenen Basis, sondern auch zur Gesellschaft im Ganzen geschwächt hatte.
Diese konstitutionellen Veränderungen und auch das neue Interesse der Marokkaner an politischen Entscheidungsprozessen zielten darauf ab, die politische Verfasstheit des Maghrebstaates zu stärken. Nun aber zeigt sich, dass nur eine der Parteien hiervon profitiert hat, nämlich die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD), die sich immer mehr zur einflussreichsten politischen Kraft des Königreichs entwickelt.
Politischer Aktivismus und offene Diskussion
Die durch die Verfassungsreform herbeigeführten Veränderungen des politischen Systems Marokkos sind noch lange nicht abgeschlossen, doch sind zumindest die groben Umrisse dessen, was sich seit 2011 gewandelt hat, bereits gut zu erkennen. Das neue Klima aus politischem Aktivismus und offener Diskussion innerhalb der Öffentlichkeit ermutigte die Wählerschaft der Parteien sowie ihre lokalen Vertreter, darunter auch viele, die an den Demonstrationen am 20. Februar teilgenommen hatten, ihre Mitspracherechte in den jeweiligen Parteien einzufordern. Diese Forderungen brachten wiederum die Parteiführungen dazu, die Mitgliederzahl ihrer jeweiligen Führungsorganisationen zu erhöhen und die Kommunikation mit ihren lokalen Sektionen zu verbessern.
Große wie kleine Parteien haben so in den letzten drei Jahren versucht, ihrem Nachwuchs und ihren weiblichen Mitgliedern eine größere Rolle einzuräumen. Die PSU ("Parti Socialiste Unitaire") etwa wählte Nabila Mounib zu ihrer Generalsekretärin, eine der wenigen populären politischen Figuren, die die öffentlichen Proteste von Beginn an unterstützten.
Zur gleichen Zeit öffnete sich die PSU auch den Aktivisten aus der Protestbewegung, darunter mehrere Dutzend aus der "Bewegung des 20. Februar". Die PPS ("Parti du progrès et du socialisme") ernannte Rachid Roukbane zu ihrem Fraktionsführer, der eines der jüngsten Mitglieder des Parlaments ist. Die jüngeren Führungsfiguren in der islamistischen PJD profitierten ihrerseits von der neuen, sie begünstigenden Altersquote, die für Parlamentswahlen gilt. So konnten sie nach den letzten Wahlen eine größere Rolle innerhalb ihrer Fraktion im Abgeordnetenhaus spielen. Innerhalb des Parlaments wie außerparteilich konnten damit die jungen Abgeordneten der PJD ihr Profil schärfen.
Die PJD, dessen Generalsekretär Abdelilah Benkirane heute Premierminister ist, war in der besten Position, um die Früchte zu ernten, die dem veränderten Klima nach der Verfassungsreform erwuchsen. Zum ersten Mal seit 1960 scheint Marokko wirklich zwei deutlich getrennte politische Führer zu haben: ein Staatsoberhaupt und ein Regierungschef.
Neues Selbstbewusstsein
Die Führungsrolle, die der Premierminister übernommen hat, hilft der konservativen politischen Vorstellungswelt der Marokkaner – jahrzehntelang allein vom königlichen Palast aus kontrolliert – sich an eine nationale Identität zu gewöhnen, deren Rhetorik unabhängig vom Palast ist.
Als Premierminister ist es Benkirane möglich, von Zeit zu Zeit zu äußern, dass "sein Verhältnis zum König nicht immer perfekt ist", womit schon einer gewissen Disharmonie und Spannung Ausdruck gegeben wird. Diese Trennung hat der PJD und seiner Führungsspitze eine gewisse Immunität verliehen, kann sie sich doch auf diese Weise abheben von Entscheidungen des Königs, die negativ aufgenommen werden oder gar scheitern, sodass der Partei nicht nur ein längeres politisches Überleben, sondern auch so etwas wie ein institutioneller Bonus erwächst.
Doch abgesehen vom politischen Erfolg seiner Partei hat Benkirane die Fähigkeit, den Palast zuweilen zur Anerkennung des politischen Charakters der Regierung zu drängen und zum Respekt vor dem gesetzlichen Status des Premierministers.
Im letzten Juni etwa bestand er auf seinem Vorrecht, die Kommunalwahlen zu überwachen, obwohl es der Innenminister war, der mit den technischen Aspekten der Abstimmung und (in Absprache mit dem Generalsekretariat der Regierung) mit dem Entwurf der notwendigen gesetzgeberischen Grundlage der Wahlen betraut war. Weil aber das Innenministerium dem Monarchen direkt unterstellt ist, steht dieser Konflikt für den Wunsch der Partei, die Trennung der Gewalten innerhalb der Regierung festzuschreiben.
Den meisten anderen Parteien aber gelingt es nicht, von der sich verändernden politischen Atmosphäre zu profitieren. Anstatt ihren Vorteil aus dem neu erwachten öffentlichen Interesse an der Politik zu ziehen, entfernen sich die elitären Parteien immer mehr vom Wahlvolk, ganz im Gegensatz zu den erklärten Zielen des Artikels 7 der neuen Verfassung.
Gezähmte Opposition
Die Rolle der lokalen königstreuen politischen Würdenträger ist weiter gewachsen, indem diese auf kommunaler Ebene die Kontrolle über die einstigen Oppositionsparteien übernommen haben. Die Zahl dieser lokalen Amtsträger stieg innerhalb der Nationalkongresse der Parteien, was ihnen eine größere Verhandlungsmacht gegenüber potentiellen Parteiführern und den Politbüros verschaffte.
Die Kontrolle der lokalen Eliten über die meisten größeren Parteien, darunter die USFP ("Union socialiste des forces populaires") und die Unabhängigkeitspartei PI ("Istiqlal"), zügelte nicht nur ihre vormalige Kritik am Königspalast, sondern schwächte auch ihre inneren Strukturen und ihre Verbindungen zu den Gewerkschaften und den zivilgesellschaftlichen Organisationen, denen historisch eine Schlüsselrolle im marokkanischen Parteiensystem zufällt.
Um ihre sinkende Popularität aufzuhalten, geben sich einige Parteien einen religiösen Anstrich – während sie sich jedoch gleichzeitig vom politischen Islam fernzuhalten versuchen, auf das die PJD ein Monopol hat. Dieser religiöse Charakter zeigt sich insbesondere beim Versuch, engere Verbindungen zu den Sufis zu knüpfen.
Erst kürzlich kündigten zwei ehemalige Vorsitzende der USFP, Fathallah Oualalou und Mohamed El Yazghi, an, dem sufistischen Boutchichiya-Orden beizutreten. Auch wenn es bei diesem Beitritt zweier prominenter Figuren der größten Linkspartei Marokkos zu einem Sufi-Orden durchaus um persönliche Motive gehen mag, so spricht doch die Bekanntmachung dieses Schrittes für eine andere Absicht.
Politische Einflussnahme der Bruderschaft
Auch dass die Wahl ausgerechnet auf diese Bruderschaft fiel, wirft Fragen auf. Tatsächlich ist der Boutchichiya-Orden inzwischen so etwas wie das halb-offizielle religiöse Gesicht des gegenwärtigen politischen Systems, mit engen Verbindungen zu einer Reihe hochgestellter Amtsträger, deren Beitritt entweder dem Wunsch entsprang, ihre Karriere zu fördern oder ihre Loyalität gegenüber dem Regime unter Beweis zu stellen. Was den Führer der Bruderschaft, Scheich Hamza, betrifft, so macht dieser jedenfalls keinen Hehl aus der neuen politischen Rolle seines Ordens, wenn er, anlässlich des Beitritts von Oaulalou und El Yazghi äußerte: "Hätte die USFP ihre Pläne durch das göttliche Licht erleuchten lassen, so wäre ihnen eine führende Rolle gewiss gewesen."
In einem Artikel für die meistverkaufte marokkanische Zeitung Al-Massae erklärt der bekannte Politikexperte Mohammed Al-Sassi, dass die meisten der vormaligen Oppositionsparteien ihrer schwindenden Popularität begegnen wollen, indem sie sich „dieser einfachen Lösung“ bedienen und lokale Eliten inkorporieren, die zuvor den königstreuen Parteien angehörten. Dies gehe natürlich zu Lasten altgedienter Funktionäre, die nach und nach an Macht innerhalb ihrer Parteien verlieren würden.
Sicher kontrolliert die PJD nicht jede Entscheidung der Regierung. König Hassan II. hat in den 1960er und 1970er Jahren ein System geschaffen, in dem durch manipulierte Abstimmungen jederzeit sichergestellt werden kann, dass die königstreuen Parteien die Kontrolle über das Parlament behalten.
Doch wenn es der PJD bis zum Ende dieser Legislaturperiode gelingt, ihre organisatorische Unabhängigkeit ebenso zu wahren wie ihren Wählerstamm und die Immunität gegenüber dem Einfluss lokaler Würdenträger, könnte dies durchaus den Anfang vom Ende des traditionellen Parteiensystems in Marokko bedeuten.
Maâti Monjib
Aus dem Englischen von Daniel Kiecol
© Sada/carnegieendowment/Qantara.de 2014
Maâti Monjib ist marokkanischer Politikexperte und Historiker. 2009 erschien sein Buch "Islamists versus Secularists in Morocco". Er schreibt regelmäßig politische Aufsätze und Analysen für das arabisch- und englischsprachige Online-Magazin "Sada".