Der Anfang vom Ende der Muslimbrüder
Nachdem der demokratische Transitionsprozess in Marokko mit dem Ende der "Regierung des Wandels" vorerst gescheitert war, setzte die marokkanische Bevölkerung große Hoffnungen darauf, dass die PJD den Prozess erfolgreich zu Ende bringen würde. Angesichts des selbstzerstörerischen Kurses, dem sie sich ohne nennenswerte Gegenwehr preisgibt, läuft die Partei derzeit aber Gefahr, zu einem weiteren unbedeutenden Rädchen in der parteipolitischen Landschaft Marokkos degradiert zu werden.
Denn es scheint, als lieferten sich die marokkanischen Muslimbrüder unter dem Vorsitz von Saadeddine Othmani einen Wettlauf mit der Zeit, um sich noch vor den Parlamentswahlen 2021 vollumfänglich mit dem "tiefen Staat", dem sogenannten "Makhzen", zu arrangieren.
Ob freiwillig oder gezwungenermaßen, die moderaten Islamisten nickten verschiedene umstrittene Beschlüsse ab, die in ihrem Wahlprogramm gar nicht vorgesehen waren. Aus Angst, dass die moralische Verantwortlichkeit auf sie zurückfallen könnte, wagten es die meisten ihrer Vorgänger hingegen nicht einmal, derartige politische Entscheidungen auch nur in der Öffentlichkeit zu thematisieren.
Auf Kosten von Kleinunternehmern und Händlern
Das jüngste Beispiel für einen solchen Beschluss ist das vom Finanzministerium durchgesetzte steuerliche Maßnahmenpaket. Es umfasste unter anderem die Einführung eines elektronischen Abrechnungssystems und die Anwendung des einheitlichen Steuersatzes für Unternehmen auf den gesamten Handel. In Folge des Beschlusses kam es zudem vermehrt zur Kontrolle und Beschlagnahmung von Waren.
Aus Protest gegen die Maßnahmen organisierten Händler zusammen mit Laden- und Café-Inhabern einen bisher einmaligen Generalstreik, der den Handel in wirtschaftlichen Zentren Marokkos wie Agadir, Casablanca und Rabat lahmlegte.
Die Regierung rechtfertigte die Gesetzesänderung damit, dass sie Teil des Reformpakets zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung sei, das zudem eine bessere Kontrolle der Privatwirtschaft ermöglichen solle. Händler und Gewerbetreibende nehmen die Maßnahmen jedoch als Versuch wahr, ausgerechnet das schwächste Glied im Handel noch stärker zu belasten: kleine Unternehmer, die weder finanziell noch gesellschaftlich abgesichert sind.
Unabhängig davon, wie man zu den eigentlichen Maßnahmen und den sich daraus ergebenden parteipolitischen Spielchen steht, der Umgang der Regierung mit den Händlern zeigt, dass sie keiner vorausschauenden Idee folgt und die Betroffenen nicht ausreichend in die Entscheidungsfindungsprozesse miteinbezieht. Stattdessen begnügt sie sich mit Krisenmanagement und löscht die Brände erst, wenn sie schon ausgebrochen sind. Entsprechend groß ist jedes Mal der Schaden, ganz zu schweigen davon, dass dadurch auch das Vertrauen der Bürger in die staatlichen Institutionen immer stärker in Mitleidenschaft gezogen wird.
Überhastete politische Maßnahmen
Das Maßnahmenpaket ist ein weiterer Makel in der Bilanz der moderat-islamistischen Regierung. Es steht jedoch in einer langen Reihe überhasteter politischer Beschlüsse, die nicht mit der notwendigen Sorgfalt gefasst wurden.
Dort befindet es sich beispielsweise in Gesellschaft des Dekrets zur Beibehaltung der Sommerzeit, das nur wenige Stunden vor der Umstellung auf die gesetzlich vorgesehene und der westeuropäischen Zeit entsprechenden Ortszeit erlassen wurde. Auch der obligatorische Wehrdienst wurde wieder eingeführt, obwohl er weder in irgendeinem Parteien- noch im Regierungsprogramm, mit dem diese immerhin das Vertrauen der Parlamentarier gewinnen konnte, vorgesehen war.
Nachdem das Parlament in einer außerordentlichen Sitzung daran gescheitert ist, es zu verabschieden, wird sich vermutlich bald auch das sogenannte Rahmengesetz 51.17 für Erziehung und Bildung in die Liste der Regierungsfehler einreihen. Einige Paragraphen des Gesetzes zielen darauf ab, das seit der Kolonialzeit frei zugängliche öffentliche Bildungssystem zu einem kostenpflichtigen umzugestalten.
Zwar sind es Kinder wohlhabender Familien, denen Gebühren auferlegt werden sollen, bei der Fassung des Gesetzesentwurfs hat die Regierung jedoch geflissentlich ignoriert, dass diese ihre Bildung ganz grundsätzlich nicht an öffentlichen Schulen erhalten.
An der Realität vorbei
Mehr noch, selbst Teile der PJD sind gegen den Gesetzesentwurf der eigenen Regierung. Da jedoch dabei das identitätsstiftende Moment von Sprache ins Zentrum der Diskussion rückte, drängt sich der Gedanke auf, dass die Kritik in diesem Kontext eher einem identitätspolitischen Scharmützel diente, als der Auseinandersetzung mit realpolitischen Problemen.
Eine Gesetzesinitiative, die einen für die Marokkanerinnen und Marokkaner derart zentralen Bereich betrifft, bedarf außerdem eines gesamtgesellschaftlichen Dialogs zur Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Von den vorausgegangenen Kritikpunkten einmal abgesehen, macht die Regierung mit dem Rahmengesetz die rechtliche Lage auch komplizierter als sie sein müsste.
Es scheint wenig sinnvoll, ein einfaches Gesetz zu erlassen, das dann die Grundlage für zwei weitere, direkt aus der Verfassung abgeleitete Gesetze bilden soll, die ihrerseits vom Parlament verabschiedet werden müssen. Dabei handelt es sich um das Gesetz zu Tamazight, der Sprache der Amazigh, und das Gesetz zum Nationalrat der marokkanischen Sprachen und Kultur, die beide für die weitere Entwicklung des Bildungssystems von zentraler Bedeutung sind.
Zwar hatten einige Beschlüsse der Vorgängerregierung wohlmöglich weitaus größere Auswirkungen. Sie wurden jedoch von einem ständigen Austausch mit der Bevölkerung begleitet, der half, diese von den Maßnahmen zu überzeugen. Denn der ehemalige Regierungschef verstand es ausgezeichnet, weiten Teilen der normalen Bevölkerung mit einfachen Worten das Vorgehen der Regierung nahezubringen und nachvollziehbar zu machen.
Die Regierung war zudem stets bemüht, unter äußerst schwierigen Umständen einen Ausgleich zwischen den Interessen des Staatsapparates und der königlichen Entourage auf der einen und denen der Bevölkerung auf der anderen Seite zu finden: Politische Beschlüsse, die sich auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger auswirkten, fanden ein Gegengewicht in solchen, die Lobbyorganisationen und einflussreiche Nutznießer der Machtelite ins Visier nahmen.
Weite Teile der Bevölkerung waren so bereit, Einschnitte zu ertragen, denn sie hatten das Gefühl, dass alle Seiten Zugeständnisse machen mussten, um die gewünschten Reformeffekte zu erzielen.
Die Muslimbrüder als Teil des "tiefen Staates"?
Der derzeitige Regierungschef beschränkt sich hingegen auf das Umsetzen von Beschlüssen. Für die möglichen Auswirkungen klientelpolitischer Maßnahmen auf die Bevölkerung interessiert er sich dabei wenig. Dadurch hat sich die PJD zu einer Partei entwickelt, die vor allem für die Interessen der Machtelite im Staatsapparat eintritt.
Die Belange der Zivilbevölkerung, aus deren Reihen auch ein Großteil ihrer Führungsriege stammt, lässt sie hingegen links liegen. Und das, obwohl es gerade diese Menschen waren, die ihnen - den politischen Manövern des "tiefen Staates" zum Trotz - in drei aufeinanderfolgenden Wahlen ihre Stimme gaben.
Die moderaten Islamisten scheuten sich auch nicht, die Repressionen und Übergriffe von Seiten der Staatsmacht bei Protesten in den Regionen Rif und Jerada zu rechtfertigen. Sie gingen sogar so weit, die Berichte staatlicher Stellen in Frage zu stellen. So erging es beispielsweise dem "Nationalen Rat für Menschenrechte", der in seiner Untersuchung tatsächlich Übergriffe und Folter gegenüber Demonstranten festgestellt hatte.
Im Falle der politisch motivierten Anklage gegen den Journalisten Taoufik Bouachrine begnügte sich die Regierung im Gegensatz dazu mit dem Ruf nach einem fairen Prozess – ausgerechnet in einer Phase, in der sie es selbst mit den rechtsstaatlichen Prinzipien nicht immer ganz genau nahm. Bemerkenswert ist dies insbesondere, da Bouachrine die Partei in seiner Zeitung immer wieder gegen konzertierte Angriffe regimetreuer, aus dem Ausland unterstützter Medien verteidigt hatte.
Massiver Vertrauensverlust in die PJD
Auch die Initiative, aus Lehrern im öffentlichen Dienst gewöhnliche Angestellte zu machen, endete in einem Eklat. Zwar weist die PJD mittlerweile jegliche Verantwortung weit von sich, dennoch hatte sie sich bereits während ihrer ersten Legislaturperiode für diese Änderung stark gemacht und sie als strategisches Allheilmittel zur Lösung sämtlicher Probleme der marokkanischen Verwaltung verkauft.
Erst viel später machte sie einen Rückzieher und stellte die Schaffung von Angestelltenverhältnissen nur noch als Lösungsansatz für einige Bereiche des öffentlichen Dienstes dar. Und als schließlich das gesamte laufende Schuljahr in Gefahr war, versuchte sie das Thema gänzlich unter den Tisch fallen zu lassen.
Durch ihre Beteiligung an der "Regierung des Wandels" büßte einst die "Sozialistische Union der Volkskräfte" zur Jahrtausendwende massiv an Stimmen ein. Nun setzt die herrschende Elite Marokkos alles daran, der "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD) das gleiche Schicksal zuteilwerden zu lassen.
Denn viele Maßnahmen und Entscheidungen, die sie maßgeblich im Hintergrund vorantreibt, kosten die Partei viel Popularität in der Bevölkerung. Mit der Gefahr, dadurch langfristig ins politische Abseits gedrängt zu werden, beschäftigt sich die PJD Othmanis jedoch kaum. Aufgrund der regionalen Transformationen und den veränderten Machtverhältnissen innerhalb des herrschenden Regimes gilt ihre Aufmerksamkeit in allererster Linie den Parlamentswahlen 2021.
Es ist kurz gesagt der Anfang vom tragischen Ende der Partei der Muslimbrüder in Marokko. Das Ende einer politischen Kraft, auf die weite Teile der Bevölkerung große Hoffnungen setzte. Doch dann integrierte sie sich Stück für Stück in den Machtapparat, bis sie schließlich rechtfertigte, was nicht zu rechtfertigen ist. Jetzt ist sie selbst ein Teil des tiefen Staates geworden und übertrifft ihn sogar noch, wenn es darum geht, wie ein solcher zu handeln.
Mohamed Taifouri
© Qantara.de 2019
Übersetzt aus dem Arabischen von Thomas Heyne
Mohamed Taifouri ist marokkanischer Politikwissenschaftler und Publizist. Er schreibt für namhafte arabische Zeitungen.