"Ich will mein Land zurück oder ich gehe"
Intisar will nur noch weg – aus Bagdad, aus dem Irak. Sie sieht keine Perspektive mehr zwischen Euphrat und Tigris, keine Zukunft für sich, ihren Mann und ihre Tochter. "Es wurde immer nur noch schlimmer", fasst sie die Situation der vergangenen Jahre zusammen. "Und die Spirale nach unten nimmt kein Ende." Intisar heißt übersetzt "Sieg", doch von einem Sieg kann die 24-jährige Irakerin nur träumen.
Als die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Juni 2014 ihre Heimatstadt Tikrit überfiel, floh sie mit ihrer Familie nach Kirkuk und von dort nach Bagdad. Ihr Mann ist Polizist. Staatsdiener wie er wurden als Erste vom IS getötet. Systematisch durchkämmten die Gotteskrieger nach der Eroberung Tikrits jedes Haus, um nach Polizisten oder Armeeangehörigen zu suchen. Fanden sie einen, machten sie kurzen Prozess. Hunderte seien massakriert worden, berichtet Intisar.
Tikrit wurde zwar als einzige Großstadt zurückerobert, doch zurückkehren wollen Intisar und ihre Familie nicht. Zu tief sitzt die Angst, dass die brutalen Dschihadisten wiederkommen. Jetzt steht sie am Tahrir-Platz in Bagdad und will nach Deutschland.
Seit Wochen finden in der irakischen Hauptstadt Demonstrationen gegen die schiitisch dominierte Regierung statt: gegen eine mangelnde Stromversorgung, gegen Korruption, gegen unzulängliche öffentliche Dienstleistungen, für Reformen. Mal sind es Zehntausende, die am Freitag auf den Tahrir-Platz kommen, mal Hunderte. Aber der Protest reißt nicht ab. Sie wollen so lange weitermachen, bis sich wirklich etwas ändert, sagen die Demonstranten.
Seit vergangenem Freitag (11.9.2015) haben die Proteste eine neue Dimension erreicht. Transparente zeigen Bundeskanzlerin Angela Merkel, über ihr der irakische Außenminister Ibrahim al-Dschafari, dessen Konterfei rot durchgestrichen ist. Er hatte seine Landsleute zum Verbleib im Irak aufgerufen. Die Menge am Tahrir-Platz aber droht damit, nach Deutschland auszuwandern.
Geburtsstunde der Zivilgesellschaft
Angefangen hat das Aufbegehren im südirakischen Basra, als die Sommerhitze unerträglich und die Stromversorgung immer schlechter wurde. Trotz des Ölreichtums haben es die Verantwortlichen in den vergangenen zehn Jahren nicht geschafft, zumindest die Energieversorgung zu verbessern. Mit fast zwei Millionen Fass am Tag pumpt Basra so viel Öl wie keine andere Stadt im Irak. Und doch sind die knapp vier Millionen Einwohner oft ohne Strom, Müllberge türmen sich auf den Straßen, Abwasser laufen auf Plätzen zusammen und bilden Seen. Basra gilt als eine der korruptesten Städte des Landes.
Die Menschen haben erkannt, dass sich andere auf ihre Kosten die Taschen füllen. Jetzt protestieren die Einwohner nicht nur für mehr Strom, sondern inzwischen auch für bessere Arbeitsbedingungen, mehr Jobs und Aufstiegschancen für junge Leute, gegen Vetternwirtschaft. Ihr Protest weitete sich bis ins 500 Kilometer entfernte Bagdad aus, steckte auch Kerbela, Nadschaf und Diwanija an.
Es ist die Geburtsstunde der Zivilgesellschaft, wie sie im Irak bisher unbekannt war. Denn obwohl UN und USA nach dem Einmarsch der Amerikaner im Jahr 2003 Millionen von Dollar in den Aufbau zivilgesellschaftlicher Institutionen steckten, blieb der Erfolg aus. Zu starr waren die Strukturen der Diktatur in der irakischen Gesellschaft verankert. So sind die unzähligen Nichtregierungsorganisationen im Land stark klientelorientiert, von einer funktionierenden Zivilgesellschaft kann daher keine Rede sein. Das könnte sich jetzt ändern.
"Schukran Almanija"
Mit den pragmatischen Forderungen nach einer besseren öffentlichen Versorgung finden sich nun Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zusammen, die sich als Volksbewegung organisieren. Ein Hoffnungsschimmer für viele Verzweifelte, die schon aufgegeben hatten. "Ich will mein Land zurück oder ich gehe", rufen einige der Demonstranten in Bagdad und meinen dabei nicht die Rückeroberung der vom IS besetzten Gebiete, sondern die Bewältigung ihres Alltags. "Schukran Almanija" – danke, Deutschland.
Die wenigen in Bagdad verbliebenen Deutschen berichten von vermehrten Telefonanrufen irakischer Bekannter, die die unkomplizierte Aufnahme von Syrern und Irakern in Deutschland bejubeln.
Als Druckmittel auf die eigene Regierung gäbe die Botschaft aus Deutschland den Menschen eine Perspektive, doch noch einen Ausweg aus ihrem Dilemma zu finden. "Ich liebe den Irak", sagt Intisar verzweifelt und schluchzt, "aber der Irak mag uns nicht."
Birgit Svensson
© Qantara.de 2015