Perspektiven auf die Scharia

In seinem Buch "Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart" zeigt Mathias Rohe historische Dimension und Deutungsmuster des islamischen Rechts im globalen Zusammenhang auf.

Von Martina Sabra

Drakonische Körperstrafen wie Amputationen und Steinigungen, die Verfolgung Andersdenkender, die Unterdrückung von Mädchen und Frauen – an solch mittelalterlich anmutende Praktiken denken die meisten Menschen im Westen, wenn sie die Begriffe "islamisches Recht" oder "Scharia“ hören. Dass auf dem islamischen Recht eine weltumspannende Zivilisation begründet wurde, ist dagegen wenig präsent – ebenso wie die Tatsache, dass das islamische Recht historisch immer auch von Meinungsvielfalt und der Interaktion mit nichtreligiösen Wertesystemen geprägt war.

Dementsprechend groß ist gegenwärtig das Spektrum der Kräfte, die dem islamischen Recht mehr Geltung verschaffen wollen. Es reicht von extremistischen und rückschrittlichen Bewegungen wie den Taliban, über islamistische Parteien bis hin zu liberal-religiösen Feministinnen, die im islamischen Recht nach Anhaltspunkten suchen, um rechtliche Verbesserungen für Frauen zu erreichen.
Gefahr der Fehldeutungen

Bei all dem geht manches durcheinander. "Der Begriff Scharia wird auch von Muslimen oft unpräzise benutzt, stellt der Erlanger Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe fest. "Die enge, traditionelle Interpretation setzt die Scharia mit Körperstrafen und der Ungleichbehandlung von Frauen gleich. Der andere, sehr weit gefasste Begriff definiert Scharia als die religiösen Grundregeln des Islams, d.h. Beten, Fasten, Wallfahrt." Weder das eine noch das andere treffe die Sache im Kern, meint Rohe.

"Wenn man wirklich erfassen will, was die Scharia ist, muss man die historische Dimension des islamischen Rechts berücksichtigen." Was also ist die Scharia? Was bedeutet Fatwa? Kann es im Islam eine Gleichberechtigung der Geschlechter geben? Mathias Rohe diskutiert diese und andere Fragen mit detaillierten Verweisen auf die Quellen des islamischen Rechts, den Koran und die Sunna, das Korpus überlieferter Informationen über den Propheten Muhammad, den die Muslime als Vorbild für eine gottgerechte, ethische Lebensführung betrachten.

Regionaler Stellenwert des islamischen Rechts

Rohe schildert die Entstehung des islamischen Rechts mit ihren unterschiedlichen regionalen Rechtsschulen. Und er beschreibt ausführlich die wichtigsten Elemente des Familien-, Völker-, Straf- und Wirtschaftsrechts, wobei er die Unterschiede zwischen Sunniten, Schiiten und anderen Richtungen berücksichtigt. Welche Bedeutung hat das islamische Recht gegenwärtig für den Alltag von Muslimen? Die Antwort auf diese Frage fällt regional sehr unterschiedlich aus. So gilt in Saudi-Arabien der Koran offiziell immer noch als Verfassung, die Idee einer weltlichen Gerichtsbarkeit fasst erst allmählich Fuß, während in der Türkei Staat und Religion seit der Abschaffung des Kalifats 1924 radikal voneinander getrennt sind.

Jenseits dieser Extreme hat sich die Mehrheit der islamisch geprägten Länder im Zug der Entkolonialisierung einen Mittelweg beschritten. Während die jungen Nationalstaaten sich beim Straf- und Handelsrecht meist an europäisch inspirierten Codices orientierten, wurde das Personenstandsrecht in Ländern wie Ägypten, Marokko, Malaysia oder Indien konfessionell geregelt. Das heißt, dass z.B. ein Wohnungseinbruch genauso wie in Europa mit Gefängnis bestraft wird, während in persönlichen Angelegenheiten wie Heirat, Scheidung oder Erbe das Recht der jeweiligen Glaubensgemeinschaft gilt. Für Muslime bedeutet das, dass sie gemäß der jeweils geltenden Interpretation des islamischen Rechts heiraten, sich scheiden lassen und erben.

Konfessionelle "Rechtsspaltung"

Diese von Fachleuten so genannte konfessionelle "Rechtsspaltung" war kein großes Problem, solange nur wenige Muslime in nichtmuslimische Länder auswanderten. Mit der zunehmenden Migration stehen jedoch immer mehr Musliminnen und Muslime weltweit vor der Herausforderung, sich nicht nur in einer fremden Gesellschaft und Kultur, sondern auch in einem neuen Rechtssystem zurechtfinden zu müssen.

"In Deutschland stellt sich die Frage nicht ganz so drängend, weil hier die meisten MigrantInnen mit muslimischem Hintergrund aus der Türkei kommen, wo es ja auch kein konfessionelles Familienrecht gibt", erklärt Mathias Rohe. Anders stellt sich die Situation in Frankreich, England oder in den Niederlanden dar. "Dort haben viele Einwanderer ihre Wurzeln in Staaten mit einem konfessionell geprägten Personenstandsrecht, wie z.B. Marokko, Algerien, Pakistan oder Indien", erklärt Rohe. Die nationalen Wurzeln der Migranten-Communities in Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden sind für Mathias Rohe der Hauptgrund dafür, dass in diesen europäischen Nachbarländern häufiger über die offizielle Zulassung des Scharia-Rechts diskutiert wird als in Deutschland.

Scharia versus ziviles und bürgerliches Recht

Der Jura-Professor bezieht in dieser Frage deutlich Stellung: Er ist entschieden gegen die Zulassung von Scharia-Bestimmungen im zivilen und bürgerlichen Recht. ​​ "Ich würde sehr davor warnen, eine Rechtsentwicklung zurückzudrehen, die in Europa vor mehr als tausend Jahren begann, und die sehr zu begrüßen ist", sagt Rohe. "Wir hatten in Europa ja bis vor gut 100 Jahren auch noch Sonderrechte für religiöse Minderheiten. Das war keine Akzeptanz, sondern eine Diskriminierung – nach dem Motto: ‚Ihr Juden oder Muslime habt noch nicht den Zivilisationsstand von uns Christen erreicht!’

Muslime, die nach der Scharia rufen, sollten sich klarmachen, dass die Wahlfreiheit in Deutschland ein hohes Gut ist, und dass im Rahmen des geltenden Rechts ja durchaus Gestaltungsoptionen bestehen, die auch mit einem strengeren Religionsverständnis vereinbar sind." Mathias Rohe sieht die islamische Theologie in der Pflicht: "Den islamischen Theologen und Religionspädagogen kommt eine wichtige Rolle zu, wenn es um die Vereinbarkeit von islamischer religiöser Identität und den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats geht", sagt er.

Auch wenn die Frage nach Anwendung des islamischen Rechts in Deutschland nicht ganz so brennend zu sein scheint wie bei den europäischen Nachbarn: um die Beschäftigung mit der Geschichte und Gegenwart des islamischen Rechts kommt man, angesichts der immer stärkeren Präsenz des Islams im öffentlichen Leben, auch hierzulande nicht herum. Mathias Rohes zugleich faktenreiches und meinungsstarkes Buch kommt daher sowohl für Nichtmuslime als auch für Muslime in Deutschland zur rechten Zeit.

Martina Sabra

© Qantara.de 2009

Mathias Rohe, "Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart", 2009, 606 Seiten, C.H.Beck-Verlag Professor Mathias Rohe lehrt Rechtswissenschaften an der Universität Erlangen. Zuletzt erschien sein Buch "Der Islam - Alltagskonflikte und Lösungen" im Herder-Verlag.