Syriens furchtlose Dissidentin
"Wenn mir etwas passiert, bricht ein Sturm der Empörung los!" Als Razan Zeitouneh diesen Satz sagte, hatte sie jenes provokante Lächeln aufgesetzt, das sie so überzeugend beherrscht. Sie sollte Recht behalten. Denn seit dem 10. Dezember gelten die streitbare Menschenrechtsaktivistin, ihr Ehemann Wael Hamada sowie die beiden Bürgerrechtler Nazim Hamadi und Samira Khalil vom "Syrischen Zentrum zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen" als vermisst. Sowohl Medienvertreter als auch Politiker aus dem In- und Ausland sprachen von einem schweren Schlag gegen die Zivilgesellschaft und forderten die sofortige Freilassung der Entführten.
Zeitounehs Prophezeiung stammte aus dem Jahr 2010 – zu einer Zeit, als sie wohl kaum jene Gotteskrieger im Sinn hatte, die nun im Verdacht stehen, sie entführt zu haben. Vielmehr ging sie damals vom syrischen Geheimdienst aus. Dieser verhörte sie nahezu täglich in seiner Zentrale. Es waren endlose, quälende Schikanen, denen sie sich dort seit 2001 unterziehen musste, als sie in der Kanzlei des Menschenrechtsanwalts Haytham al-Maleh arbeitete und einen Menschenrechtsverein mitbegründet hatte.
2004 wurde sie dafür gar mit einem unbefristeten Ausreiseverbot bestraft. Doch Razan entfloh dem syrischen Gefängnis auf ihre Weise: Im anonymen Internet schuf sie den "Syria Human Rights Information Link" (SHRIL) – eine Datenbank, in der sie die Menschenrechtsverletzungen des Regimes dokumentierte. Akribisch genau, im Alleingang, unerschrocken und unermüdlich.
Zum Staatsfeind abgestempelt
Dann kam die "Arabellion", jener 17. Dezember 2010, der alles zu beenden schien: Mit jenem "Tsunami der Unterdrückten", der von Tunesien ausgehend auch Syrien erfasste, sah es fast so aus, als sei Razan am Ziel ihrer Träume für Freiheit und Gerechtigkeit angekommen.
Die Weltöffentlichkeit, die im Zuge der medienwirksam aufbereiteten "Arabellion" die friedliebenden, zivilgesellschaftlich orientierten Araber für sich entdeckt hatte, konzentrierte sich bald auch auf die Aktivistin Razan Zeitouneh. Zumal sie als weltoffene junge Frau eine sympathische Identifikationsfigur darstellte. Und eine nicht zu unterschätzende Gefahr für das Regime. Nur acht Tage nach Ausbruch des syrischen Aufstandes erklärte das Staatsfernsehen denn auch Razan Zeitouneh zur ausländischen Agentin und zur Staatsfeindin.
Für sie und ihren Mann bedeutete dies den Auftakt einer nicht enden wollenden Odyssee von einem Versteck zum nächsten. Endlich fanden sie ihr neues Zuhause in Douma, einer rund zehn Kilometer von Damaskus entfernten Kleinstadt.
Mit den dort seit Januar 2012 herrschenden Rebellen schien es zunächst keine Probleme zu geben. Zeitouneh war in ihrer Mitte relativ sicher vorm Zugriff durch das Regime. Außerdem konnten sich die Kämpfer der "Freien Syrischen Armee" mit der prominentesten Dissidentin des Landes schmücken: Anfang Oktober 2011 hatte Razan Zeitouneh den Anna-Politkowskaja-Preis erhalten, benannt nach der regierungskritischen russischen Journalistin, die 2006 ermordet wurde. Kurz darauf folgte der vom Europäischen Parlament verliehene Sacharow-Preis.
Schonungslose Aufklärung
Doch Douma und Ost-Ghouta zählen zu den Hochburgen des Widerstands und damit zu den Hauptanziehungspunkten für Salafisten, von denen man nicht weiß, gegen wen sich ihre Gewalt in erster Linie richtet: gegen die Truppen des syrischen Diktators oder gegen unbewaffnete Aktivisten. Gleichgültig und tatenlos stand Zeitouneh dieser Entwicklung nie gegenüber: Sie recherchierte und dokumentierte alle Verbrechen – auch die des bewaffneten Widerstands gegen das Assad-Regime.
"Wir dürfen nicht zu dem werden, was wir bekämpfen", lautete eine der Losungen, die sie mit den von ihr mitbegründeten lokalen Koordinierungskomitees im Dezember 2012 an die Bewaffneten richtete. Doch vergebens. Die Verbrechen an der Zivilbevölkerung nahmen fortan landesweit zu.
Nur zehn Tage vor ihrem eigenen Verschwinden, veröffentlichte Razan Zeitouneh einen Artikel über Entführungen von kritischen Journalisten durch al-Qaida-nahe Gruppierungen. Zwar handelte sich die furchtlose Aktivistin damit die Drohungen der Islamisten ein, weigerte sich jedoch ihr Land zu verlassen. "Ich möchte keinen Moment dieser Revolution verpassen", stellte sie bereits 2011 klar, als ihre einzige Sorge noch dem syrischen Geheimdienst galt.
Der Westen, die Islamisten und die Diktatur
Doch einen Zeitpunkt hätte Razan Zeitouneh wohl lieber doch verpasst: Als das Assad-Regime am 21. August 2013 die Region Ost-Ghouta mit chemischen Waffen angriff, bedeutete dies auch für die Aktivistin eine politische Zäsur.
"Als Menschenrechtsaktivistin, die immer an die humanitären Prinzipien der Vereinten Nationen geglaubt hat, könnte ich stundenlang über die Erschütterung und Demütigung sprechen, die ich aufgrund der UN-Resolution zur Abrüstung der syrischen Chemiewaffen empfand", schrieb sie in der Zeitung der Nichtregierungsorganisation "Adopt a Revolution". Und weiter: "Diese Resolution impliziert, dass der Täter, Baschar al-Assad, noch mindestens ein weiteres Jahr an der Macht bleibt – und das mit Duldung der internationalen Gemeinschaft!"
Der Westen, die Islamisten, die Diktatur: In den Augen Razan Zeitounehs haben sie alle dem syrischen Volksaufstand geschadet. Der Westen, weil er über großzügige Gesten und Preisvergaben an Friedensaktivisten hinaus nicht willens ist, dem syrischen Volk dabei zu helfen, das mörderische Assad-Regime loszuwerden. Die Islamisten, weil sie Schützenhilfe für das Regime leisten, Andersdenkende zu verfolgen. Und natürlich das Regime – als entschiedener Gegner einer demokratischen Öffnung und eigentlicher Verursacher des Volksaufstands in Syrien.
Albert Kadir
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de