Meinungsfreiheit in engen Grenzen
Zwar ist die Türkei bemüht, den Vorgaben der EU auch im Bereich der Menschenrechte zu entsprechen, jedoch hat sich aufgrund des traditionell autoritären Staatsverständnisses bislang kein Wandel vollzogen. Von Amke Dietert
Menschenrechtsverletzungen in der Türkei stehen spätestens seit dem Militärputsch von 1980 im Blickpunkt des öffentlichen Interesses in Deutschland und Westeuropa.
Menschenrechts-Organisationen sowie zwischenstaatliche Menschenrechtsgremien veröffentlichten zahlreiche Berichte über systematische schwere Folterungen, Verurteilungen auf Grund politischer Meinungsäußerungen sowie über die Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten.
Gegenstand politischer Auseinandersetzungen wurde die Menschenrechtssituation vor allem, als die Türkei seit den 1990er Jahren verstärkt darauf drang, die 1963 in Aussicht gestellte Perspektive auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu realisieren.
Menschenrechtsentwicklung auf dem Prüfstand
Seitdem die Türkei auf dem Europäischen Gipfel im Dezember 1999 in Helsinki offiziell zum EU-Beitrittskandidaten erklärt wurde, hat die EU-Kommission jährlich Berichte über die Menschenrechtsentwicklung in der Türkei erstellt, und in einem Dokument über die Beitrittspartnerschaft wurden die erforderlichen Reformen konkretisiert.
Diese umfassten u. a. die rechtliche Stärkung von Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, rechtliche und praktische Maßnahmen zur Bekämpfung der Folter, die Abschaffung der Todesstrafe, die Aufhebung aller rechtlichen Hindernisse für den Gebrauch anderer Muttersprachen türkischer Staatsbürger in Rundfunk und Fernsehen sowie Schulung von Vollzugsbeamten, Richtern und Staatsanwälten über menschenrechtliche Prinzipien.
Die Europäische Kommission hat in ihrem Bericht vom 6. Oktober 2004 der Türkei bescheinigt, sie habe auf gesetzlicher Ebene die politischen Kriterien der EU erfüllt, kritisierte aber die mangelhafte praktische Umsetzung.
Im gesetzlichen Bereich gab es in der Tat zahlreiche Verbesserungen – zum Beispiel wurde ein Strafrechtsartikel abgeschafft, nach dem zuvor jegliche Forderungen nach politischen oder kulturellen Rechten für die Kurden als "separatistische Propaganda" bestraft wurden, das Recht auf sofortigen Anwaltszugang zu allen Festgenommen in Polizeigewahrsam wurde festgeschrieben und die Strafverfolgung von Folterern erleichtert.
Dennoch gibt es nach wie vor Gesetze, die gewaltlose politische Aktivitäten und Meinungsäußerungen unter Strafe stellen. Auch das Folterverbot wird in der Praxis nicht durchgesetzt und wegen Folter angeklagte Polizisten gehen weiterhin ganz überwiegend straffrei aus.
Warnsignale für die Führung in Ankara
Die europäischen Regierungschefs folgten auf ihrem Gipfeltreffen am 17. Dezember 2004 der Empfehlung der Kommission, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen, die Entwicklungen im Bereich der Menschenrechte aber weiterhin intensiv zu beobachten.
Trotz dieser deutlichen Signale sind in der Türkei die Reformbemühungen im Bereich der Demokratisierung und der Menschenrechte seitdem jedoch zum Stillstand gekommen. Dementsprechend kritisch fielen auch die Fortschrittsberichte der EU-Kommission für die Jahre 2005 und 2006 aus.
Im Sommer 2005 wurde in den türkischen Medien eine Kampagne gegen die "von Europa aufgezwungenen" Gesetzesänderungen geführt, die angeblich die Sicherheitskräfte bei der Bekämpfung des Terrorismus behindern. Eine Folge dieser Stimmungsmache ist ein neues Antiterrorgesetz, das im Juli 2007 in Kraft trat.
Darin ist nicht nur die Definition terroristischer Straftaten sehr weit und ungenau gefasst, auch im Rahmen des vorausgegangenen Reformprozesses erreichte Verbesserungen im Schutz gegen Folter wurden teilweise wieder rückgängig gemacht: Beschuldigte können länger in Polizeihaft gehalten und der Kontakt zu einem Rechtsanwalt kann verzögert werden.
In den letzten Jahren war die Folter in der Türkei zwar noch immer weit verbreitet, es war aber ein kontinuierlicher Rückgang zumindest bei der Brutalität der angewandten Foltermethoden zu verzeichnen gewesen.
Die neuesten Berichte der "Türkischen Menschenrechtsstiftung" deuten allerdings auf eine gegenläufige Tendenz hin: Folter und Misshandlungen scheinen wieder verstärkt eine routinemäßige Praxis der Polizei zu sein und auch über schwere physische Folterungen wird wieder häufiger berichtet.
Tendenz zum Stillstand in der Reformpolitik
Besorgniserregend ist auch die wieder zunehmende Tendenz, dass Polizisten – vor allem in den kurdischen Gebieten – missliebige Personen verschleppen und misshandeln oder mit dem Tode bedrohen.
Die Tendenz zum Stillstand in der Reformpolitik wird begleitet von einem Erstarken nationalistischer Strömungen. Zu leiden haben darunter neben den Kurden zunehmend auch andere ethnische und religiöse Minderheiten.
Tragische Höhepunkte dieser Entwicklung waren der Bombenanschlag auf eine Istanbuler Synagoge im November 2003, die Ermordung eines katholischen Priesters in Trabzon im Februar 2006 und schließlich die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink am 19. Januar 2007.
Wer auch immer die einzelnen Täter waren und wer auch immer hinter ihnen stehen mag – der Boden für diese Taten wurde bereitet von einer offiziellen Staatspolitik, die Angehörige von Minderheiten als potentielle Verräter brandmarkt und die Forderung nach Rechten für Minderheiten strafrechtlich verfolgt.
Ein Instrument dafür ist der Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der die "Verunglimpfung des Türkentums" unter Strafe stellt. Internationale Bekanntheit erlangte dieser Artikel durch die Einleitung eines Strafverfahrens gegen die türkischen Literaturnobelpreisträge Orhan Pamuk, der sich zu dem Völkermord an den Armeniern und massenhaften Morden an Kurden geäußert hatte.
Aufsehen erregte auch ein Strafverfahren gegen zwei Mitglieder des Beirats für Menschenrechte des türkischen Ministerpräsidenten, die einen Bericht über die mangelnde Umsetzung von Minderheitenrechten in der Türkei vorgelegt hatten.
Auch Hrant Dink wurde aufgrund seiner Artikel über den Völkermord an den Armeniern mehrfach wegen "Verunglimpfung des Türkentum" angeklagt und verurteilt. Ebenso werden Mitglieder türkischer Menschenrechtsorganisationen mit politischen Prozessen überzogen. Kritik an Menschenrechtsverletzungen wird ihnen oft als strafbare "Beleidigung der Sicherheitskräfte" zum Vorwurf gemacht.
Vertrauensverlust in die EU weit verbreitet
Trotz positiver Ansätze in den letzten Jahren trüben die jüngsten Entwicklungen die Hoffnungen auf eine durchgreifende Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei. Die Bemühungen um eine EU-Mitgliedschaft scheinen ihre Funktion als Reformmotor eingebüßt zu haben.
Aktuelle Umfragen belegen, dass die meisten Menschen in der Türkei nicht daran glauben, dass die EU tatsächlich bereit sei, ihr Land in die Gemeinschaft aufzunehmen. Die erstarkten türkischen Nationalisten, auf deren Positionen die Regierung angesichts bevorstehender Wahlen Rücksicht nehmen muss, befürchten von einem EU-Beitritt sowieso den Ausverkauf türkisch-nationaler Interessen und haben andere politische Prioritäten.
Das Grundproblem ist – und das zeigen die aktuellen Entwicklungen sehr deutlich – dass die türkische Regierung zwar versucht hat, den Vorgaben der EU zumindest teilweise nachzugeben, dass es jedoch keinen Wandel in dem traditionell autoritären Staatsverständnis gegeben hat.
Politische Positionen und Forderungen, die einem eng festgelegten "Wohl des Staates" zuwider laufen, werden rigoros bekämpft, dem politischen Meinungsaustausch werden durch strafrechtliche Sanktionen enge Grenzen gesetzt.
Amke Dietert
© Qantara.de 2007
Die Autorin ist Türkei-Expertin der deutschen Sektion von amnesty international (ai).
Qantara.de
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