Die Einwanderung ins Auswandererland
Als die marokkanische Polizei kürzlich rund 800 afrikanische Flüchtlinge daran hinderte, in einem Massenansturm das Gebiet der spanischen Exklave Melilla zu erreichen, rückte diese EU-Außengrenze auf afrikanischem Boden für einen kurzen Moment in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. In regelmäßigen Abständen unternehmen Migranten aus Sahelstaaten und verschiedenen afrikanischen Ländern Versuche, die stark gesicherten Grenzen der beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zu überwinden.
Dies meist ohne Erfolg, da die Grenzbefestigungen seit einem regelrechten Ansturm im Jahr 2005 dreifach und zudem mit besonders gefährlichem Stacheldraht gesichert sind. Die jungen Migranten tragen dabei oft schwere Verletzungen davon. Flüchtlingsorganisationen prangern diese Form des dort verwendeten Stacheldrahts an, die unweigerlich zu Verletzungen führe.
Razzien gegen "Subsahariens"
Da es mittlerweile fast unmöglich ist, diese EU-Außengrenzen zu überwinden, versuchen immer wieder Migranten, mit einfachsten Schiffen und Gummibooten oder sogar schwimmend die beiden spanischen Exklaven zu erreichen. Bei einem solchen Versuch kamen im April 2013 mindestens elf Migranten ums Leben.
Nach Auskunft von Migranten- und Menschenrechtsorganisationen hausen in den teilweise bewaldeten Gebieten in der Umgebung der erwähnten spanischen Territorien auch im Winter dauernd mehrere hundert Migranten. Sie sind an diese Orte zurückgekehrt, obwohl marokkanische Sicherheitskräfte die primitiven Zeltlager schon mehrfach zerstört und ihre Bewohner vorübergehend festgenommen hatten.
Es handelt sich zumeist um junge Männer, die um jeden Preis nach Europa auswandern wollen und dazu auch bereit sind, schlimmstenfalls ihr Leben zu opfern. Die allermeisten der auf mindestens 15.000 Personen geschätzten Migranten aus afrikanischen Ländern haben sich allerdings in die Agglomerationen der großen Städte begeben – vor allem nach Tanger, Rabat und Casablanca – und bemühen sich dort mehr schlecht als recht zu überleben.
Doch auch in den großen Städten ist ihre Lage alles andere als einfach. Am 4. Dezember letzten Jahres kam in Boukhalef, einer tristen Vorstadt von Tanger, ein junger Mann aus Kamerun nach einer Polizeirazzia zu Tode. Noch ist unklar, was an diesem Tag in der vierstöckigen Liegenschaft, in der der Betreffende zusammen mit Dutzenden von anderen jungen Schwarzen wohnte, genau passierte; ein offizieller Untersuchungsbericht steht noch aus. Fest steht bloß, dass der junge Migrant aus dem vierten Stock des Mietshauses zu Tode stürzte. Dieser Todessturz, für den die in Boukhalef lebenden Migranten wie auch verschiedene Nichtregierungsorganisationen die Polizei verantwortlich machen, führte in der rund zehn Kilometer außerhalb von Tanger gelegenen Siedlung zu einem Protestmarsch zahlreicher "Subsahariens", wie Schwarzafrikaner in Marokko genannt werden.
Sie beklagten sich über die dauernden Polizeikontrollen und -razzien, über vielfältige Diskriminierungen und offenen Rassismus. Angesichts entsprechender Ängste ist wohl davon auszugehen, dass sich nur ein Bruchteil der in Tanger und Umgebung lebenden Schwarzafrikaner getraute, mit Forderungen an die Öffentlichkeit zu treten. Nur wenige Tage später fand als Reaktion ein Marsch empörter Bürger statt, welche die illegal anwesenden Schwarzen für viele Übel verantwortlich machten.
Der Tod des jungen Migranten war leider kein Einzelfall. Im Jahr 2013 kamen nach Aussage von Khadija Ainani, Vizepräsidentin der unabhängigen Menschenrechtsorganisation AMDH, in Marokko mindestens sechs dunkelhäutige Migranten bei gewalttätigen Übergriffen ums Leben. Diese sollen sowohl von Sicherheitskräften wie auch von marokkanischen Bürgern begangen worden sein. Im vergangenen Jahr fanden zudem wiederum kollektive Ausschaffungen beziehungsweise Aussetzungen von Migranten an der Grenze zu Algerien und Mauretanien statt. Über den Umfang dieser Ausschaffungen besteht keine Klarheit; von offizieller Seite waren dazu keine Angaben zu erhalten.
Erfolgreicher Druck der Uno
Seit langem kritisieren verschiedene marokkanische und internationale Nichtregierungsorganisationen – neben der bereits erwähnten AMDH auch etwa der Groupe antirassiste d'accompagnement et de défense des étrangers et migrants (Gadem) – schwere Missstände im Umgang mit Migranten und Flüchtlingen aus den Sahelstaaten und Ländern Subsahara-Afrikas. Neben kleinen punktuellen Erfolgen gelang es ihnen aber kaum, die breite marokkanische Öffentlichkeit oder die Entscheidungsträger der marokkanischen Politik zu erreichen. Nach langer, hartnäckiger Lobbyarbeit scheint ihnen nun aber ein Durchbruch gelungen zu sein.
Sie hätten die erwähnten Missstände vor der Uno in Genf dargelegt, erklärt Hicham Rachidi, Generalsekretär des Gadem. Dies zeigte Wirkung: Die Uno-Kommission, die den Umgang der Mitgliedsländer mit Arbeitsmigranten untersucht, kritisierte Marokko im vergangenen September ungewöhnlich hart.
Sie beklagte die Verhältnisse, unter denen die meisten Migranten in Marokko leben mussten, so etwa den fehlenden Zugang zu Gerichten, zu medizinischer Versorgung und zu schulischer Bildung für die Kinder von Migranten. Gleichzeitig rief sie die marokkanische Regierung auf, diskriminierende Praktiken und staatliche Gewalt gegenüber Flüchtlingen zu unterbinden, kollektive Ausschaffungen zu unterlassen und sich an internationale Verpflichtungen zu halten. Der Umstand, dass auch die staatliche Menschenrechtskommission kurz darauf gewisse Missstände kritisierte, dürfte der Kritik der Uno zusätzliches Gewicht verliehen haben.
Intervention des Königs
So oder so: König Mohammed VI. persönlich äußerte sich wenige Tage später zur Sache und forderte die Regierung auf, das Thema der klandestinen Migration "in einer umfassenden und humanistischen Perspektive" anzugehen und nach neuen Lösungen im Umgang mit den Migranten zu suchen. Auch wenn dabei – so ist anzunehmen – eher das Image von Marokko und nicht primär die prekäre Lage der Migranten im Vordergrund stand, so löste die königliche Intervention dennoch etwas aus.
Schon tags darauf kündigten mehrere Minister konkrete Schritte an, und rund zwei Monate später, im November 2013, gab Innenminister Mohamed Hassad eine Reihe neuer Maßnahmen bekannt. Im Vordergrund steht dabei, einer bestimmten Anzahl von Migranten ohne Aufenthaltsrecht eine Niederlassungsbewilligung zu erteilen. Sodann stellte Hassad die Eröffnung von Beratungs- und Informationsstellen für Migranten sowie die Schaffung einer nationalen Rekurskommission in Aussicht.
Die Umsetzung dieser Maßnahmen hat Anfang 2014 begonnen. Insgesamt sollen in einem ersten Schritt rund 850 Asylbewerber, die vom Uno-Flüchtlingshilfswerk anerkannt worden sind, Papiere erhalten. Ferner können auch Migranten, die eine Reihe von restriktiven Auflagen erfüllen, ein derartiges Gesuch stellen. Sie müssen etwa eine Ehe mit einem Marokkaner, einer Marokkanerin eingegangen sein, seit zwei Jahren über einen Arbeitsvertrag verfügen oder nachweislich seit mindestens fünf Jahren in Land leben. Neu soll schließlich auch ein Status für zukünftige Asylbewerber geschaffen werden.
Strikte Kriterien
Verschiedene Menschenrechtsorganisationen begrüßten diese neuen Maßnahmen als ersten, wichtigen Schritt. Gleichzeitig äußerten sie aber auch Kritik. "Die Maßnahmen sind ungenügend und betreffen nur einen kleinen Teil aller Migranten", erklärte etwa Khadija Ainani von der AMDH. Die behördlichen Kriterien führten dazu, dass die Migranten, die am stärksten des Schutzes bedürften – etwa Menschen ohne Arbeitsvertrag und in prekären Wohnverhältnissen – von den Neuerungen gar nicht profitieren könnten. Ainani macht zudem darauf aufmerksam, dass schätzungsweise die Hälfte aller in Marokko lebenden Migranten sich gar nicht im Land niederlassen wollen; diesen Menschen brächten die behördlichen Maßnahmen ohnehin nichts.
Deutlich optimistischer sieht Hicham Rachidi von Gadem die in Angriff genommenen Legalisierungen der Aufenthaltssituation. Zwar seien die Kriterien theoretisch sehr restriktiv, sagt Rachidi. Doch gebe es Hinweise darauf, dass die Verantwortlichen diese Bestimmungen großzügig auslegten. Im besten Fall könnten so Tausende von Migranten einen legalen Aufenthaltsstatus erhalten. Rachidi plädiert denn auch dafür, vorderhand zwei, drei Monate abzuwarten, um sich ein Urteil über die Initiative der Regierung machen zu können. Um auf die Behörden Druck auszuüben und um die Maßnahmen kritisch zu begleiten, haben verschiedene Flüchtlingsorganisationen zudem ein Koordinationskomitee mit den Namen "Papiers pour tous" gegründet.
Unterschiedlich ist auch die Einschätzung der bisherigen Auswirkungen der neuen Migrationspolitik. Während Rachidi seither eine Art Moratorium für Razzien und Rückführungen von schwarzen Migranten feststellt, erkennt Ainani einen tiefen Graben zwischen den behördlichen Erklärungen zur Besserstellung der Migranten und deren tatsächlicher Lage. Diese Sichtweise teilen auch andere Flüchtlingsorganisationen. In den Migrantenquartieren in Tanger habe sich kaum etwas geändert, erklärte etwa Mohammed Serifi, der sich für das Uno-Kinderhilfswerk Unicef um minderjährige Migranten kümmert, gegenüber der Zeitung "TelQuel". Es werde ein "doppelter Diskurs" geführt.
Hinweise, wonach die Behörden auf beiden Seiten der marokkanisch-algerischen Grenze in der Region von Oujda gegenwärtig den Bau neuer Grenzzäune planen, stützen diese Sicht. Von offizieller Seite waren dazu keine Informationen zu erhalten. Falls sich diese Meldungen bestätigen, bedeutete dies wohl, dass zwar eine gewisse Anzahl von irregulär in Marokko lebenden Migranten Aufenthaltspapiere erhalten werden, dass aber die Politik gegenüber denjenigen, die nach Europa gelangen wollen, fortgesetzt wird. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass Marokko genau diese Politik letztlich unter massivem Druck und im Interesse von Europa betreibt.
Beat Stauffer
© Neue Zürcher Zeitung 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de