Die Wiederbelebung des religiösen Denkens
"Ich habe die meiste Zeit meines Lebens damit verbracht, westliche Philosophie zu studieren. Diese Sichtweise ist mir jetzt fast zur Gewohnheit geworden. Bewusst wie auch unbewusst untersuche ich die Fakten des Islam aus diesem Blickwinkel. Als Folge davon habe ich mehrmals erfahren, dass ich mich zu dieser Problematik auf Urdu nicht adäquat ausdrücken kann."
Das spricht Bände. Kein Wunder also, wenn sich das Werk für uns so gut liest: Es ist unsere, die westliche Sicht auf den Islam, von der es sprachlich, begrifflich und denkerisch zutiefst geprägt ist.
Nach Studienjahren in Lahore, wo Muhammad Iqbal seinen Magister in Philosophie machte, kam er 1905 nach Europa und studierte in Cambridge, München und Heidelberg Rechtswissenschaften und Philosophie. In München promovierte im Fach Philosophie
1928 hielt Iqbal an den Universitäten von Madras, Hyderabad und Mysore sieben Vorträge über Gott und die Welt, die in dem Band "Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam" versammelt sind.
Ein geistiges Abenteuer
Dies ist kein verstaubtes Zeugnis einer längst vergangenen Epoche, es ist noch immer ein geistiges Abenteuer ersten Ranges und als solches allein das Verdienst eines Mannes, der die Erkenntnisse vieler Wissenstraditionen von Ibn Arabi und Fakhr ad-Din Rasi bis Einstein, Bergson und Freud souverän überschaute.
Dass der Westen den Osten überholt hatte, begriff er wie so viele Denker seiner Generation als Folge einer vielhundertjährigen "intellektuellen Erstarrung" des Islam. Darum gelte es, das religiöse Denken wieder zu beleben:
"Die Aufgabe, der der moderne Muslim gegenübersteht, ist unermesslich. Er muss das gesamte System des Islam neu denken, ohne völlig mit der Vergangenheit zu brechen". Eine wichtige Voraussetzung der Erneuerung sei dabei eine kritische Rezeption des modernen Wissens:
"Der einzige Weg, der uns offen steht, besteht darin, sich dem modernen Wissen mit Respekt, jedoch auch mit einer unabhängigen Haltung zu nähern und die Lehren des Islam im Lichte dieses Wissens zu würdigen."
Iqbal war über dem Studium westlicher Denker nicht zum religionsfernen Europäer geworden, so weit ging die Verwestlichung nicht. Wenn Iqbal die Rekonstruktion des religiösen Denkens fordert, dann meint er das auch so.
Die Muslime als Gründer der modernen Wissenschaft
Auf der einen Seite gelte es, die Rezeption der modernen Wissenschaft, sprich Naturwissenschaften, zu rechtfertigen. Das gelinge durch den Nachweis ihres islamischen Ursprungs:
Die empirische Haltung des Koran habe die Muslime zu Gründern der modernen Wissenschaft werden lassen, die Geburt des Islam sei die Geburt des induktiven Verstandes, eine intellektuelle Revolte gegen die spekulative Philosophie der Griechen.
Die experimentelle Methode der Araber sei dann in Europa rezipiert und weiterentwickelt worden.
Auf der anderen Seite ist für Iqbal die mystische Erfahrung Gottes so wirklich wie jede andere menschliche Erfahrung; und da die Sicht der Naturwissenschaften segmentär sei, nehme die Religion bei der Synthese aller menschlichen Erfahrungen einen zentralen Platz ein. Sie allein stelle einen intimen Kontakt her zur Realität, und zwar in einer als "Gebet" beschriebenen geistigen Haltung.
Die Dynamisierung des religiösen Denkens sei aber nicht nur eine Frage der Rezeption des modernen Wissens. Dreh- und Angelpunkt sei vielmehr ein dynamisches Welt- und Selbstverständnis des Islam, nach Iqbal das wieder zu entdeckende wahre Wesen des Islam im Widerstreit mit einem irrigen fatalistischen Begriff der göttlichen Vorbestimmung.
Das große Missverständnis des Schicksalbegriffs
Dazu entwirft er eine Theologie des schöpferischen Wandels: "Es ist die als organisches Ganzes betrachtete Zeit, die der Koran als taqdir oder als Schicksal beschreibt, ein Wort, das sowohl in als auch außerhalb der Welt des Islam so sehr missverstanden wurde.
Schicksal ist die Zeit, vor der Enthüllung ihrer Möglichkeiten gesehen […]. Das Schicksal eines Dinges ist nicht eine unbeugsame Vorherbestimmung, die von außen her einwirkt wie ein Zuchtmeister; es ist die innere Reichweite eines Dinges, seine verwirklichbaren Möglichkeiten […].Wenn die Zeit wirklich ist […], dann ist jeder Moment im Leben der Realität original und gebiert das, was absolut neu und unvorhersehbar ist."
Die Rechtsfindung zwischen Beständigkeit und Wandel
Auf dem tückischen Feld der Jurisprudenz identifiziert er wie Generationen von Reformmuslimen und Orientalisten den Idschtihad, das unabhängige Urteil oder die freie Rechtsfindung, als "Prinzip der Bewegung in der Struktur des Islam".
Um die Kategorien von Beständigkeit und Wandel zu versöhnen, brauche die islamische Gesellschaft einerseits ewige Prinzipien, "um ihr kollektives Leben zu regeln, denn das Ewige gibt uns Halt in der Welt des steten Wandels".
Da andererseits ewige Prinzipien lähmen könnten, wenn sie als Ausschluss jeglichen Wandels verstanden würden, brauche es den dynamisierenden Idschtihad.
Doch ausgerechnet die erzkonservativen Wahhabiten erklärt er zur modernen Bewegung, geprägt vom Geist der Freiheit des Idschtihad. Iqbal ist also kein liberaler Reformer, auch wenn er hierzulande gerne so verstanden wird, er ist ein konservativer Reformer, der sich um die "angemessenen Grenzen der Reformen" sorgt!
Gottesrecht als Quelle der Gesetzgebung
Genau das kennzeichnet auch seinen fein austarierten Entwurf einer "spirituellen Demokratie" als Alternative zu den nichtspirituellen Demokratien Europas, jenes "höchste Ziel des Islam" und sein Beitrag zum Fortschritt der Menschheit.
Denn wenn Iqbal die Autorität des Idschtihad auf eine gesetzgebende muslimische Versammlung überträgt, möchte er damit nicht nur die Beiträge einsichtiger Laien zu rechtlichen Diskussionen sichern.
Vielmehr gelte es auch, schwere Fehler bei der Auslegung der Gesetze zu vermeiden, und darum sollten die Rechtsgelehrten "einen wichtigen Bestandteil der gesetzgebenden muslimischen Versammlung bilden und zur freien Diskussion über Rechtsfragen beitragen und sie leiten".
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kontakt@qantara.de Das ist, unterm Strich, das, was konservative islamische Reformbewegungen fordern, wenn sie gegen den völligen Ausschluss von Gottesrecht von gesetzgebenden Verfahren Sturm laufen. Sie gelten als radikale Islamisten und Feinde der Demokratie, weil sie Gottesrecht, die hierzulande verteufelte Scharia, nicht einfach dem Mülleimer der Geschichte überantworten wollen und stattdessen auf Modernisierung durch Rechtsfortbildung setzen.
Auch Sir Muhammad Iqbal ist so ein "Islamist". Unser Verständnis des islamischen Aktivismus in allen seinen Ausformungen könnte gewaltige Fortschritte machen, wenn wir die Scheuklappen abnehmen und an religiösen Denkern auch das Religiöse ernst nehmen würden, statt sie auf unkritische (oder aber: nicht hinreichend gelehrige) Adepten des weltlichen Denkens Europas zu reduzieren.
Ludwig Ammann
© Qantara.de 2005
Muhammad Iqbal: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam. Aus dem Englischen von Axel Monte und Thomas Stemmer, Verlag Hans Schiler 2004
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