Eine kulturell fruchtbare Minderheit
Brasilianer rühmen sich gerne ihrer toleranten Vielfalt. "Todos irmaos", wir sind alle Brüder, sagt Sales Cordeiro während der Fahrt vom Busbahnhof ins Zentrum. Sales lebt seit 40 Jahren in Jundiaí und kam wie viele aus dem armen Nordosten in die Boomregion rund um São Paulo. "Die verschiedenen Religionsgemeinschaften leben friedlich miteinander, ob Katholiken, Evangelikale, Muslime oder Buddhisten, hier ist das kein Problem." Was den Islam anbetrifft, ist das Wissen aber durchaus begrenzt. Der Taxifahrer beantwortet die Richtungsangabe "Zur Moschee bitte" mit "Was sind das nochmal für Gläubige?". "Muslime". "Ahh, dann weiß ich, wo es ist".
Die Moschee ist schon von Weitem sichtbar mit ihrem großen Minarett und den Kuppeln. Sie liegt an einer vielbefahrenen Kreuzung, wo sie 1991 erbaut wurde. Gegenüber liegt eine evangelikale Kirche und gleich daneben der Volkswagen-Händler. Das Freitagsgebet wird gleich beginnen. Der Muezzin setzt zur Mihrab gewandt zum Gebetsruf an, der über Lautsprecher auch nach draußen transportiert wird. Im Moscheeraum sind etwa 30 Männer, oben in der Galerie noch fünf Frauen, bis zum Ende der Predigt wird diese Zahl auf 50 anwachsen. Die Moschee nimmt gut 300 Menschen auf. Viele kommen in der Mittagspause, es ist ein Kommen und Gehen.
Afrikanische Sklaven und Vertriebene aus Europa
Die ersten Muslime, die nach Brasilien kamen, waren Mauren, die Anfang des 16. Jahrhunderts aus Portugal vertrieben wurden. Die zweite Gruppe kam auch im 16. Jahrhundert nach Brasilien, wobei es sich fast ausschließlich um afrikanische Sklaven handelte, die mehrheitlich an der Küste in Salvador oder in Rio de Janeiro lebten.
Als schließlich 1865 der osmanische Schiffsimam Abdurrahman Efendi auf einem fehlgeleiteten osmanischen Kriegsschiff in Rio landete, wunderte er sich, dass es in Brasilien Muslime gab. Umgekehrt wunderten sich auch die brasilianischen Muslime, dass es weiße Muslime gab. Da diese Sklaven ihre Religion heimlich ausüben mussten, war das Wissen über den Islam äußerst begrenzt: "Die Frauen unterscheiden sich nicht von den Christinnen und laufen offen herum. Den Muslimen hier gilt Tabak als etwas Verbotenes, Alkohol aber als etwas Erlaubtes. Sie glauben, dass man nur nach Zahlung von Goldmünzen Muslim werden kann". Das sind einige der Anomalien, die Abdurrahman Efendi in einem Reisebericht festhielt.
Abdurrahman lebte drei Jahre in Rio, ein Jahr in Salvador und ein Jahr in Pernambuco. Seine Bilanz fiel ernüchternd aus: "Ich bin sehr müde vom traurigen Zustand der Muslime. Wenn dazu noch die Sehnsucht nach den Freunden kommt, ist man gezwungen, zurück zu kehren."
Assimilation arabischer Muslime
Seitdem hat sich Vieles geändert. Heute würde Abdurrahman Efendi wohl nicht mehr über den traurigen Zustand der brasilianischen Muslime klagen. Im Ersten Weltkrieg flohen Muslime in größerer Zahl aus den Gebieten des Osmanischen Reichs nach Brasilien, vor allem aus dem Libanon und Syrien.
Dies ist auch der Beginn der Geschichte der Muslime in Jundiaí: "Es gab hier schon vor über 90 Jahren muslimische Familien aus dem Libanon und Palästina", erläutert Imam Ahmad Amine El Orra nach der Freitagspredigt. "Die Nachkommen dieser Muslime bilden immer noch den Kern der lokalen Gemeinde, aber über 90 Prozent sind mittlerweile brasilianische Staatsbürger und nur noch knapp die Hälfte versteht überhaupt Arabisch." El Orra kam 1970 aus dem Libanon nach São Paulo. Er folgte seinen Brüdern, die schon früher ihr Glück in Brasilien versucht hatten. Seit 1981 ist er in der Gemeinde von Jundiaí aktiv, die damals noch eine Wohnung als Gebetsraum nutzte. Jetzt kommt er aber nur für die Freitagspredigt aus São Paulo, wo er den Rest der Woche lebt und arbeitet. El Orra hat keine formale islamisch-theologische Ausbildung. Seine Predigt beginnt er auf Arabisch, wechselt dann aber ins Portugiesische.
Verschwindend kleine Minderheit
Der Islam ist eine der am stärksten wachsenden Religionsgemeinschaften in Brasilien, auch wenn es bei den Zahlen große Diskrepanzen gibt. Laut offizieller Volkszählung lebten 1991 in Brasilien 22.450 Muslime, 2000 waren es 27.239. Im Jahr 2010 war die Zahl auf 35.167 gestiegen. Damit ist der Anteil der Muslime an der brasilianischen Bevölkerung weniger als 0,02 Prozent. Muslimische Verbände wie die Nationale Union der Muslimischen Vereinigungen (UNI) sprechen von 1,5 Millionen Muslimen. Es ist aber nicht klar, wie sie auf diese so viel höhere Zahl kommen. 1,5 Millionen wären aber auch noch nicht einmal ein Prozent.
Die Muslime sind somit eine winzige Minderheit in einem Land, das für Karneval, Freizügigkeit, leicht bekleidete Frauen und Hochprozentiges bekannt ist, auch wenn vieles davon mehr Projektion als Wirklichkeit ist. "Das ist schon schwierig", klagt der Imam. "Man kann das damit vergleichen, dass alle in eine Richtung schwimmen, nur die Muslime gegen den Strom. Der Islam ist in diesem Umfeld wie eine kleine saubere Pflanze, die es zu hegen und zu pflegen gilt, damit sie nicht zertreten wird und weiter wächst."
Mit der Zunahme der muslimischen Bevölkerung vermehren sich auch die Moscheen und Institute. Die erste Moschee wurde 1952 in São Paulo gegründet. Heute zählt die UNI 115 Moscheen, im Jahr 2005 noch waren es nur 70.
Untersuchungen der UNI zusammen mit Universitäten aus Rio und São Paulo belegen außerdem eine kontinuierliche "Brasilianisierung" des Islam. Waren in Rio de Janeiro 2003 noch 50 Prozent der Muslime Einwanderer aus dem Nahen Osten, sank deren Anteil 2014 auf lediglich 15 Prozent. Ähnlich sind die Zahlen in Salvador und São Bernardo do Campo. Daher wird es auch immer wichtiger, dass Imame des Portugiesischen mächtig sind. Laut UNI gab es 2004 lediglich fünf Imame, die Portugiesisch sprachen. 2014 wuchs deren Zahl auf immerhin 15, von denen sieben bereits in Brasilien geboren sind.
Auch die UNI ist eine neuere Entwicklung. Sie wurde vor acht Jahren im Stadtteil Brás in São Paulo gegründet, mit dem Ziel, die Muslime Brasiliens besser zu organisieren und den Austausch über die riesigen Distanzen zu verbessern.
Ekrem Güzeldere
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de