„Papa, mit 14 werde ich Muslim“

Ein kleiner schwarzer Sultan mit Pluderhosen und Turban ist der Auslöser einer kindlich-naiven Faszination für die arabische Welt, die das Leben eines Jungen im damaligen Königsberg prägen wird. Der Sarotti-Magier, das Logo einer deutschen Schokoladenmarke, ziert die Pralinen und Tafeln, die Joachim Dultz von seiner Tante bekommt, wenn er einen neuen Buchstaben gelernt hat. Früh lernt er lesen, und er liest viel – so erinnert sich Scheich Bashir, wie er sich heute nennt, an seine Kindheit im heutigen Kaliningrad.
Im Wohnzimmer seiner Bonner Wohnung erzählt Scheich Bashir, der diesen Monat 90 geworden ist, Episoden aus seinem ungewöhnlichen Leben. Krieg und Flucht hätten seine Kindheit besonders geprägt. „1945, da war ich 10 Jahre alt, mussten wir vor der Roten Armee fliehen. Wir, das waren oft nur Mütter mit ihren Kindern, ohne die Männer.“
Nach Kriegsende habe er viel über Hitler-Deutschland erfahren. „Ich wusste inzwischen, was Deutschland im Zweiten Weltkrieg angerichtet hatte. Egal wo, überall, wo der weiße Mann auftauchte, gab es Herrschaft, Ausbeutung. Ich wollte damit Schluss machen. Ich wollte nicht mehr Deutscher sein. Ich wollte nicht mehr weiß sein“, erinnert sich Scheich Bashir. Heute, nach all der Lebenserfahrung, sieht er es anders: „Ich glaube, das, was man ist, ist man. Man kann kein anderer werden.“
Auf der Suche nach Muslimen
Schon im Kindesalter interessiert er sich für den Islam. Als Zwölfjähriger lebt er bei seinem Vater, einem deutschen Offizier, in Hamburg. Zu dieser Zeit habe ihn ein Thema besonders beschäftigt. „Ich ging zu meinem Vater und sagte: ‚Papa, wenn ich mal 14 bin, dann werde ich Muslim.‘ Papa hat gesagt, das kommt überhaupt nicht in Frage, wenn du dabeibleibst, werde ich dich bitten, deinen Koffer zu packen. Das habe ich für mich so akzeptiert.“
Um die Konversion zum Islam vorzubereiten, habe er sich auf die Suche nach Muslimen gemacht. Doch Hamburg lag in Trümmern und er sei nicht fündig geworden: „Ich ging dann in meiner Not zum Hamburger Abendblatt und sagte am Schalter, ‚Ich muss einen Muslim finden, können Sie mir bitte helfen?‘“
Tage später bekam er eine Anschrift und einen Namen, so erinnert er sich heute. Über Umwege habe er dann eine muslimische Familie gefunden. Am 6. Juli 1950, seinem 14. Geburtstag, habe er den Islam angenommen. Jetzt heißt er Bashir Ahmad Dultz.
Erste Begegnungen mit anderen Muslimen gab es offenbar in einem Haus, das dem iranischen Ajatollah Kaschani gehört haben soll. Dort traf sich eine Gruppe von Muslimen wöchentlich.
Nach dem Rausschmiss durch den Vater wegen der Konversion habe ihn eine indische Familie aufgenommen. Nach seiner Lehre als Speditionskaufmann verlässt der 17-jährige Bashir Hamburg. Sein Ziel: ein Beduinenleben in der Wüste Libyens.
Das Land habe ihn, auch was das Reisen angeht, am meisten interessiert: „Ich bin per Anhalter durch Deutschland und Italien gefahren. Von Malta aus habe ich mich nachts von einem maltesischen Fischer an Bord nehmen lassen. Nach der Überfahrt schmiss der mich an den Strand, nachts, das war meine Ankunft in Libyen.“
Ein Leben unter Beduinen
Wenige Tage später wird Bashir von einem Libyer aufgenommen. „Ich hatte nichts außer der Kleidung am Leib.“ Dieser habe ihm Zugang zu einem Stamm von Kamelzüchtern vermittelt. „Dort wurde ich aufgenommen, obwohl das nicht einfach war.“
Bald habe er die Tochter einer beduinischen Familie geheiratet und sei mit ihr einige Jahre durch die Wüste gezogen. „Wir waren arm, wir hatten weder Schuhe noch Sandalen. Wir hatten nur eine dünne Unterhose, ein Hemd und ein Kopftuch.“
Nach fünf Jahren gingen sie nach Bengasi, er arbeitete als Übersetzer bei einer Botschaft. 1960 zieht es sie nach Tripolis. Im Laufe der Jahre ziehen sie fünf eigene und drei Waisenkinder groß.

Die Sufis verstehen
Wer die islamische Mystik verstehen will, muss zunächst mit einer Reihe von Missverständnissen aufräumen, wie Marian Brehmer in seinem Essay schreibt.
Auf religiöser Ebene findet Bashir Ahmad im Sufismus seine Bestimmung. Er sei Scheich Mohammed al-Faituri begegnet, einem bedeutenden Gelehrten der Sanusiya-Bruderschaft. „Später wurde ich von ihm zum Scheich berufen“, erzählt er. Seitdem nennt er sich Scheich Bashir.
Durch sein Wissen über den Koran und den Islam habe man ihn über Libyen hinaus gekannt. Der bosnische Politiker Alija Izetbegovic und der österreichische Islam-Gelehrte Muhammad Asad sowie Malcom X und der Boxweltmeister Mohammad Ali hätten ihn in seinem Dorf aufgesucht, erzählt der Scheich.
In der Todeszelle in Libyen
Mit der Machtübernahme Gaddafis in Libyen wird die Sanusiya-Bruderschaft 1969 verboten. Jahre später sei dies auch für ihn zum Verhängnis geworden, erzählt Scheich Bashir. Gaddafi habe ihn in Tripolis verhaften und ins Gefängnis werfen lassen.
„Es war ein Militärgefängnis, weil ich des Spionierens für Amerika und Deutschland angeklagt wurde. Die Grundlagen dafür waren, dass ich eine Bibliothek von über 10.000 Büchern auf Hebräisch, Arabisch, Englisch, Italienisch und Deutsch hatte. Bücher waren verdächtig.“
Zudem habe man ihm vorgeworfen, Gegner der Revolution zu sein, einen Berberaufstand gegen Gaddafi unterstützt zu haben sowie Freimaurerei zu betreiben. 1981 sei er fünffach zum Tode verurteilt worden. „Und dann kamen die richtigen Todeszellen, mit allem, was dazugehört. Keine Post, kein Arzt, kein Freigang.“

Die erkauften Loyalitäten des ''Bruder Oberst''
Als Muammar al-Gaddafi König Idris I. stürzte, war er keine 30 Jahre alt. Und doch gelang es ihm, sich fast 42 Jahre lang an der Macht zu halten und dabei zahllose Umsturzversuche und Anschläge zu überleben. Ein Rückblick.
Doch wieder wendet sich das Schicksal zum Guten: 1983 habe die Bundesrepublik erfolgreich mit Libyen verhandelt. „Ich wurde gegen einen libyschen Gefangenen ausgetauscht.“ Gaddafi habe allerdings zur Bedingung gemacht, dass seine Frau und die Kinder in Libyen bleiben und er den Wüstenstaat nie wieder betrete.
Am 8. Mai sei er dann ausgeflogen worden. Auf deutscher Seite sei FDP-Politiker Jürgen Möllemann involviert gewesen. „Möllemann meldete sich telefonisch, er wollte mir gratulieren, dass ich wieder in Deutschland bin“, erinnert sich der Scheich.
Rückkehr nach Deutschland
Mit der Rückkehr nach Deutschland beginnt für den tiefreligiösen Mann ein neues Kapitel. 1983 gründet er in Bonn den Sufi-Orden Tariqah As-Safinah, um den Austausch zwischen Muslimen und anderen Gläubigen sowie mit Atheisten und Humanisten zu fördern. Auch mit Juden oder Bahai pflegt er langjährige Freundschaften.
Für sein Engagement im interreligiösen Dialog wird Scheich Bashir im September 2008 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Triebfeder für seinen Einsatz ist der Koran und die Überzeugung, dass Gott die Vielfalt wolle, in Form von Völkern und Religionen.

Der Sufismus ist nicht nur muslimisch
Der Sufismus hat fließende Grenzen. Er ist, wie der Islam selbst, ohne seine spätantiken Wurzeln nicht denkbar. Seinerseits hat er wiederum den Hinduismus beeinflusst. Die sufische Lehre von der göttlichen Liebe existiert auch unabhängig vom Islam.
„Eine unserer Hauptaufgaben ist die Bemühung, dass Mann und Frau als gleichwertig betrachtet werden.“ Damit stoße er in Teilen der islamischen Community auch heute noch auf Kritik.
Als Gründungs- und Vorstandsmitglied etlicher Organisationen in Deutschland, etwa des Zentralrats der Muslime, hat Scheich Bashir den Aufbau islamischer Strukturen aktiv mitgeprägt. Wie Deutschland mit Zuwanderern – insbesondere mit Muslimen – umgehe, kritisiert er bei Vorträgen und zahlreichen Gesprächen immer wieder.
Privat beginnt für Scheich Bashir in Deutschland ein neues Leben. 1983 lernt er die konvertierte deutsche Muslima Chadigah Kissel kennen. In Absprache mit seiner libyschen Frau, die wegen Gaddafis Austauschbedingungen das Land nicht verlassen durfte, seien er und die Tanz- und Meditationslehrerin ein Paar geworden.
Was möglicherweise für beide Frauen nicht immer einfach war, habe bis zum Tod seiner ersten Frau funktioniert – vielleicht auch, weil Chadigah Kissel nach Tripolis reiste, „um alle auch einmal persönlich kennenzulernen“, wie sie es im Rahmen des Interviews mit Scheich Bashir erzählt.
Eine Rückkehr nach Libyen kam für Scheich Bashir auch nach dem Sturz Gaddafis 2011 nicht in Frage. Zu groß sei die Gefahr, da es noch immer Anhänger des Autokraten gebe, die ihm feindlich gesinnt seien, erklärt er.
Mit fast täglichen Telefonaten hält der deutsche Scheich aber Kontakt zu den Kindern und Enkelkindern. Zusammen mit Ehefrau Chadigah unterstütze er sie bis heute etwa durch finanzielle Zuwendungen, sagt er, „soweit es eben geht.“
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