Die Kataloge der Königin von Saba

Von Anna Amalia bis zur Nationalbibliothek: Franziska Augstein begleitet 22 muslimische Bibliothekare auf Studienfahrt durch das deutsche Büchereiwesen.

Bücher; Foto: dpa
Die 'International Federation of Library Associations and Institutions' hat 22 Bibliothekare und Regierungsvertreter aus aus 13 islamisch geprägten Ländern auf Bildungsreise nach Deutschland eingeladen.

​​Im Februar hat es in Thüringen geschneit. Die Bäume links und rechts der Autobahn sind bis aufs letzte Zweiglein schneebedeckt. Weiße Felder am Horizont gehen unsichtbar in den weiß-grauen Himmel über. Saad Azzahri freut sich an dem Anblick. "Meine Tochter würde sterben dafür, das sehen zu können", sagt der Saudi. Seine Tochter ist achtzehn Jahre alt und studiert in Riad Chemie. Von ihm aus dürfte sie aber auch in den USA studieren.

Saad Azzahri hat selbst eine amerikanische Universität besucht, in Indiana. Daher hat er sein Englisch. Bis vor kurzem war er Präsident der "Arabic Federation for Libraries and Information". Als Mitarbeiter einer Bibliothek des saudischen Ölministeriums kennt er sich aber auch auf Ölfeldern aus. Derzeit suchen Russen, Chinesen, Spanier und Italiener nach neuen Gasvorkommen. "Vielleicht finden sie Gas", sagt Azzahri, "Inschallah."

Entwicklungshilfe für die Bibliotheken

Dass er nun eine Woche lang Deutschland bereist, ist durch eine Organisation zustande gekommen, von der kaum ein Deutscher je gehört hat. IFLA – die "International Federation of Library Associations and Institutions" – ist ein weltweiter Bibliotheksverband, der Tausende Bibliotheken in rund 150 Ländern repräsentiert.

2007 übernahm die engagierte Deutsche Claudia Lux die jeweils auf drei Jahre befristete Führung des Verbandes und nutzte die Gelegenheit, drei Studienreisen für Bibliothekare und ihre Mitspieler in staatlichen Ministerien zu organisieren: 2007 lud IFLA Osteuropäer nach Deutschland ein, 2008 kamen Asiaten. Und nun werden zweiundzwanzig Gäste aus dreizehn Ländern der islamischen Welt auf Sightseeingtour durch neun deutsche Bibliotheken und Spezialsammlungen gelotst.

Man hat sich bemüht, aus einem Land jeweils einen Bibliothekar und einen Regierungsvertreter einzuladen in der Hoffnung, dass letztere sich nach der Heimkehr bei ihren Ministern für die Bibliotheken in ihrem Land verwenden werden.

Einschüchternde deutsche Bibliotheksperfektion

Brand in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in 2004; Foto: AP
Die Reisenden wurden durch neun deutsche Bibliotheken und Spezialsammlungen gelotst, unter anderen durch die 2004 zerstörte und kurze Zeit später wieder aufgebaute Anna Amalia Bibliothek.

​​Die Stimmung im Reisebus, der via Leipzig, Halle und Weimar nach Berlin fährt, ist gut. Es werden Geschichten erzählt. Die Gäste bevorzugen das Arabische, wobei sie sich Mühe geben, ihre regionalen Dialekte zu vermeiden; nur so können die Leute aus Asien und Nordafrika einander verstehen. Über ihre Bibliotheken reden sie nicht viel, vielleicht deswegen, weil die deutsche Bibliotheksperfektion bald einschüchternd ermüdend wird.

Es ist fast wie bei einem Schulausflug: Da wird von der Schule nicht so gern geredet. Die Schule ist das deutsche Bibliothekswesen, die Opulenz deutscher Regale, die Raffinesse der Systematisierung, Registrierung und Katalogisierung gewaltiger Buchbestände. Die muslimischen Bibliothekare spüren so etwas wie die Monotonie des Perfekten.

Einzig die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar zerreißt diese Monotonie: Es ist nicht die Pracht des Rokoko, die nun staunen macht, auch nicht die größte Faust-Sammlung der Welt und nicht die bedeutende Shakespeare-Sammlung – es ist der Brand. Von dem verheerenden Feuer, das die Bibliothek im September 2004 fast vernichtet hat, ist nur ein verkohlter Erinnerungsbalken zu sehen. Schon 2007 wurde die Sammlung wieder eingeweiht. Die islamischen Bibliothekare hören sich das an wie ein deutsches Märchen. So also kann ein Kulturschock aussehen. Vernichtung kennen die Gäste, solche Rettungsaktionen nicht.

Die zerstörten Bibliotheken im Gazastreifen

Sami Batrawi, der beim Kulturministerium der palästinensischen Autonomiebehörde für Bibliotheken zuständig ist, verwaltet unter anderem große Schutthaufen: Die öffentlichen Bibliotheken im Gazastreifen sind alle zerstört. Den übrigen palästinensischen Bibliotheken geht es auch nicht gut. Jeder Bucherwerb muss vom israelischen Militär genehmigt werden, sagt Batrawi, "da wird vollkommen willkürlich entschieden, manchmal dürfen wir gar kein Buch von unserer Liste kaufen, manchmal hundert".

Anna Amalia Bibliothek nach der Restauration; Foto: AP
Bibliotheken in der ganzen Welt haben gegen Brände und Verwüstungen zu kämpfen. Nur in wenigen Fällen gelingt eine Sanierungsaktion wie im Fall der aufwändig restaurierten Anna Amalia Bibliothek in Weimar.

​​Was kann eine Lobbyorganisation wie IFLA da tun? Man hofft, dass die internationale Anerkennung in der Heimat Wirkung zeigen möge. Der elektronische Zugriff auf digitalisiertes Material kann eine Bibliothek nicht ersetzen, aber bei einzelnen Projekten mag er hilfreich sein. Die Bibliothek der Martin-Luther-Universität in Halle koordiniert die virtuelle Fachbibliothek "Menalib", in der Schriften über den Vorderen Orient und Nordafrika digitalisiert gesammelt werden.

Sozialkritische Bilder nackter Knaben

Nach der Besichtigung des realen Magazins stellt der Saudi Saad Azzahri eine Frage: In Amerika habe er oft von Martin Luther King reden hören – hier in Deutschland sei ein Martin Luther offenbar sehr angesehen, er wüsste gern, wer das sei. Das lässt sich leicht beantworten. Schwieriger ist es, die ziemlich anzüglichen Darstellungen von nackten Knaben wegzuerklären, die die Wände eines Saales zieren, in dem die Gesellschaft über "Menalib" informiert wird. Dass Kinder mit Hacken und Hämmern arbeiten, mag ja angehen, aber warum müssen sie dabei nackt sein? Zwei Herren aus dem Jemen finden das befremdlich.

Weil sie nicht unhöflich sein wollen, sprechen sie die deutschen Gastgeber nicht darauf an. Aber der Leiter der marokkanischen Nationalbibliothek, Driss Khrouz, hört ihre arabischen Unmutsäußerungen.

Er, einziger Teilnehmer der Reisegesellschaft, der öffentlich Bier trinkt, meint nun, es mit zwei islamistischen Spießern zu tun zu haben, Typen von der Sorte, die er nicht ausstehen kann. Ob die beiden nicht bemerkt hätten, hält er ihnen vor, dass diese Bilder ein sozialkritisches Manifest gegen Kinderarbeit seien. Driss Khrouz hat ein paar Jahre lang das Weltsozialforum mitorganisiert. Mit dem Thema der Kinderarbeit hat er sich schon viel befasst. Fraglich ist allerdings, ob das auch von dem Hallenser Bergbaudirektor gesagt werden darf, der sich vor langer Zeit die Wände seines Büros bemalen ließ.

Anders als in den Autonomen Gebieten der Palästinenser und im Libanon, wo die Israelis 2006 die Nationalbibliothek beschossen, kann in Afghanistan von einem Bibliothekswesen nicht eigentlich gesprochen werden.

Die Bibliothek von Kabul

Massuma Jafari ist Anfang dreißig. Ihr Studium der Bibliothekswissenschaften absolvierte sie in Iran. Sie sticht aus der Reisegruppe heraus, weil sie stets ihr Haar verhüllt. In der Kälte des deutschen Februar zieht sie eine Pudelmütze über das Kopftuch. Sie ist schüchtern. Hätte nicht schon ihre Mutter mit Büchern zu tun gehabt, wäre sie wohl nicht Bibliothekarin geworden. Derzeit, erzählt sie, gebe es in ganz Afghanistan sieben ausgebildete Bibliothekare, fünf von denen leben im Ausland.

Die Taliban haben die Bibliotheken nicht komplett zerstört. Letzteres wird dadurch wettgemacht, dass ein effizientes Katalogisiersystem in Afghanistan nicht bekannt ist: Die größte Bibliothek befindet sich in Kabul. Sie umfasst etwa zwei- bis dreihunderttausend Bände. Das entspricht dem Umfang einer gut ausgestatteten Seminarbibliothek an einer deutschen Universität. Die Bücher in Kabul sind nicht verschlagwortet und tragen keine systematischen Signaturen, man hat sie grob nach Themen sortiert. Folglich ist es nachgerade unmöglich, ein bestimmtes Buch zu finden. Der jungen afghanischen Bibliothekarin kann IFLA helfen. Es fehlt nämlich an allem, auch an Selbstbewusstsein.

Wer sind die größten arabischen Sänger?

Universitätsbibliothek in Weimar; Foto: dpa
Die Universitätsbibliothek in Weimar: Das deutsche Bibliothekswesen ist hochgradig spezialisiert.

​​Im Bus geht es heiter zu. Der stets gutgelaunte Saudi rezitiert eines seiner Lieblingsgedichte. Es handelt von einem Mann, der an Liebeskummer stirbt. Es ist ein sehr trauriges Gedicht. Doch Saad Azzahri rezitiert die arabischen Verse so, dass alle Umsitzenden laut lachen. Dann entspinnt sich ein Disput: Wer sind die größten arabischen Sänger? Die Gäste aus Malaysia und Indonesien interessiert das nicht, die Leute aus dem Nahen Osten umso mehr. Nach einigen Debatten mit den Umsitzenden schreibt Azzahri mir, der mitreisenden Journalistin, die Namen der vier größten Sänger auf.

Am allergrößten, darin sind alle einig, ist die Ägypterin Umm Kalthoum. Sie lebte bis 1975 und soll nie geheiratet haben, damit der Dichter, der ihr verfallen war, nicht aufhören möge, neue Lieder für sie zu schreiben. Früher, sagt Azzahri, seien Schlager von mehr als einer Stunde Länge üblich gewesen. Mit solchen ist er groß geworden. Heute seien populäre Stücke zu Ende, kaum dass sie angefangen haben.

Der Prophet Suleiman und die Königin von Saba

In Weimar ist es bitterkalt, es schneit. Bei der Stadtführung retten sich die Teilnehmer schnell ins Warme des Theatercafés. Ellen Tise, die designierte neue IFLA- Präsidentin, hat viel Energie, großen Charme und die Fähigkeit, Sachdetails des Bibliothekswesens atemberaubend schnell herunterzurattern. Die Großmutter der Südafrikanerin war noch Domestikin bei einer weißen Familie, ihre Mutter schon Lehrerin. Die zwei Jemeniten kommen und mit ihnen Azzahri, der sich nun als Freund des Korans erweist, den er auch als literarisches Kunstwerk preist. Denn: "Im Koran gibt es viele Geschichten."

Eine Geschichte erzählt Azzahri. Kurz gesagt, handelt sie davon, wie der Prophet Suleiman die Königin von Saba aufforderte, ihr Volk zum rechten Glauben zurückzuführen. Die Königin beriet sich darauf mit ihren Anführern, und möglicherweise wäre ein Krieg ausgebrochen, wenn nicht ihr eigener Königinnenthron sich plötzlich in Suleimans Stadt gefunden hätte. Und da der Thron schon einmal da war, ist die Königin von Saba mit dem Propheten Suleiman denn auch gleich in seinen Palast eingezogen.

Während Saad Azzahri diese Geschichte erzählt, unterbricht Ellen Tise ihn immer wieder: Es ist ihr das alles zu unlogisch, zu langwierig – aber dann findet sie Spaß daran, dass Azzahri sie auffordert, die "Königin von Saba" dieser Reise zu sein.

Komplex und unbrauchbar

Das war die kleine Krönung dieser vier Tage währenden Reise, die mit einer Tagung in Berlin ausklang, von der hier nur erzählt werden soll, dass es dabei um die Digitalisierung und den Wert des Aufbaus von Netzwerken ging: Ein paar gute neue Knoten wurden auf dieser Studienreise geknüpft. Was die Gäste mit nach Hause nehmen können? Vielleicht auch die Idee, dass man es mit der Raffinesse übertreiben kann.

Am Schluss der Reise besuchte man die großartige Bibliothek des deutschen Bundestages: Bei ihrer Gründung nach dem Krieg wurde für diese Bibliothek ein ganz neues, ganz eigenes Stichwortsystem entwickelt. Das war sehr fein ausgeklügelt. Ja, es war so raffiniert entworfen, dass die Parlamentarier und ihre Mitarbeiter daran auf die Dauer scheitern mussten: Sie fanden die gesuchte Information nicht mehr. 1997 musste das Stichwortsystem komplett überarbeitet werden.

Franziska Augstein

© Süddeutsche Zeitung 2009

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