Deutschlands Dilemma mit der Staatsräson

Netanjahu mittig im Bild, läuft umgeben von Männern im Anzug im Gebäude in der Knesset.
Für ihn könnte es eng werden: Benjamin Netanjahu im Mai 2024, nachdem der IStGH-Chefankläger Haftbefehl gegen ihn beantragt hat. Foto: Debbie Hill/ UPI Photo via Newscom picture alliance

Der Internationale Strafgerichtshof könnte sehr bald über Haftbefehle gegen Israels Premier Netanjahu, Verteidigungsminister Gallant und Hamas-Führer entscheiden. Etliche Staaten versuchen, auf das Urteil Einfluss zu nehmen. Deutschland laviert zwischen Solidarität mit Israel und Unterstützung für das Völkerrecht.

Von Elisa Rheinheimer

Was sich derzeit am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag abspielt, gleicht einem Krimi. Da ist ein Chefankläger, der lieber heute als morgen einen Haftbefehl gegen den israelischen Regierungschef sehen will. Da sind Richterinnen, die darüber zu entscheiden haben, dies aber bislang nicht getan haben. Da ist Benjamin Netanjahu, der selbstsicher verlauten ließ, nicht er müsse sich fürchten, sondern der Chefankläger. Und mittendrin versichert die deutsche Bundesregierung, sie stünde sowohl an der Seite Israels als auch aufseiten des internationalen Rechts. 

Ende August nun hat IStGH-Chefankläger Karim Khan die Richterinnen nachdrücklich aufgefordert, sofort seinem Antrag auf Haftbefehl gegen Netanjahu und dessen Verteidigungsminister Joav Gallant sowie gegen drei Hamas-Führer nachzukommen, von denen mittlerweile allerdings einer oder zwei getötet worden sind.* Die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete am vergangenen Dienstag, die Entscheidung werde „binnen Tagen oder höchstens wenigen Wochen“ fallen.  

Das wird auch Zeit, denn schon mehr als drei Monate sind verstrichen, seit Khan am 20. Mai den Antrag stellte. „Jede ungerechtfertigte Verzögerung in diesem Verfahren beeinträchtigt die Rechte der Opfer“, schrieb Khan nun im August an sein eigenes Gericht gewandt. Schließlich geht es um mutmaßliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazakrieg. 

Noch nie zuvor hat der IStGH einen Haftbefehl gegen einen amtierenden Minister, geschweige denn den Regierungschef eines demokratischen Staates erlassen – und das ist Israel in den Augen seiner Unterstützer nach wie vor. Damit geht es auch um die übergeordnete Frage, ob westlich-demokratische Staaten wirklich generell an der Aufklärung von Kriegsverbrechen interessiert sind, auch wenn sie von westlichen Staaten oder anderen Verbündeten verübt werden. Wie schwer es für manch deutschen Politiker ist, Menschenrechtsverletzungen anzuerkennen, zeigte CDU-Chef Friedrich Merz, als er im Mai sagte, es wäre ein „Skandal“, sollte Netanjahu womöglich auf deutschem Boden verhaftet werden. 

Strafgericht wurde mit Stellungnahmen geflutet

Die Bundesregierung verkündete dagegen, sie werde den IStGH auch in diesem Fall unterstützen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. „Doch mit Blick auf Israel war das in der Vergangenheit keineswegs immer so“, erklärt Katja Müller-Fahlbusch, Nahost-Referentin bei Amnesty International, gegenüber Qantara. So habe sich Deutschland 2021 mit den USA gegen Ermittlungen des IStGH zu möglichen Verbrechen auf dem Territorium der besetzten palästinensischen Gebiete gestellt.  

Der IStGH ermittelt, da Palästina Vertragsstaat ist, wenngleich die Diskussion um mangelnde Staatlichkeit dazu führt, dass die Zuständigkeit des IStGH für die palästinensischen Gebiete rechtlich umstritten ist. Israel ist hingegen ebenso wenig wie die USA Vertragsstaat des IStGH. Nach Artikel 12 des Römischen Statuts darf das Gericht jedoch ermitteln, wenn mögliche Straftaten auf dem Territorium eines Vertragsstaats begangen wurden. 

Im Haftbefehl-Verfahren gegen Netanjahu, Gallant und die Hamas-Führer sind in den vergangenen Monaten über sechzig Stellungnahmen von Staaten und anderen Akteuren eingegangen, die das Gericht regelrecht geflutet und das Verfahren somit erheblich verzögert haben. Solche externen Stellungnahmen, im Singular amicus curiae genannt, sind am IStGH nicht unüblich, waren aber bisher im Rahmen von Haftbefehlverfahren nicht zulässig. 

Die deutsche Stellungnahme vom 6. August fordert den IStGH auf, Israel selbst die Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen in Gaza zu überlassen beziehungsweise mehr Zeit dafür einzuräumen. Israel sei ein Rechtsstaat mit funktionierendem Rechtssystem. Die Bundesregierung bezieht sich dabei auf das Prinzip der Komplementarität: Der IStGH wird nur dann tätig, wenn ein Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist, schwere Straftaten ernsthaft zu verfolgen.  

Die Meinungen von Rechtswissenschaftler*innen, ob dies bei Israel momentan der Fall ist, gehen auseinander. Kai Ambos, Professor für internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Göttingen, nimmt im Verfassungsblog die deutsche Stellungnahme auseinander. Sein Fazit: Es zeige sich „eine starke, fast bedingungslose Unterstützung Israels, die einem Primat der Politik über das Recht nahekommt (...).“ Beobachter*innen vermuten, dass es sich um eine Verzögerungstaktik handelt, um den drohenden Erlass von Haftbefehlen abzuwenden oder zu verschleppen. Die Bundesregierung will davon jedoch nichts wissen: „Die Unterstellung, wir würden irgendetwas beim Internationalen Strafgericht verzögern wollen, weise ich direkt zurück“, sagte ein Pressesprecher im Juli. 

Das aktuelle Verfahren dauert schon ungewöhnlich lange: In der Regel vergehen nur wenige Wochen zwischen dem Antrag des Chefanklägers und dem Erlass eines Haftbefehls oder der Einstellung des Verfahrens. Mal waren es sechs Wochen wie im Fall von Saif al-Islam, einem Sohn des ehemaligen Diktators Muammar al-Gaddafi, mal acht. Wie schnell es gehen kann, wenn der politische Wille der geldgebenden Staaten vorhanden ist, zeigt das Beispiel des Haftbefehls gegen Wladimir Putin: Dieser wurde binnen drei Wochen erlassen nachdem die EU den IStGH einige Zeit zuvor mit über sieben Millionen Euro für Ermittlungen gegen russische Kriegsverbrechen in der Ukraine unterstützt hatte.

Einfluss durch Geld

Die Finanzierung des IStGH gilt allgemein als ein Weg, das Gericht zu beeinflussen. Die Vertragsstaaten stellen selbst die notwendigen Mittel. Deutschland ist der zweitgrößte Geldgeber des IStGH und spielt somit eine bedeutende Rolle. „Die Einschränkung der Finanzierung internationaler Gerichte ermöglicht es Regierungen, sich als Vertragsparteien zur Einhaltung internationaler Normen zu bekennen und gleichzeitig hinter den Kulissen die Kontrolle zu behalten“, schreibt die Politikwissenschaftlerin Courtney Hillebrecht in ihrem Buch „Saving the International Justice Regime“

Mayeul Hiéramente, Hamburger Anwalt und Dozent im internationalen Strafrecht, ergänzt gegenüber Qantara: „Die Frage, gegen wen der Chefankläger des IStGH ermittelt, ist zwar primär eine juristische Frage. In Zeiten begrenzter Budgets und unzureichender Staatenkooperation ist es aber immer auch eine politisch-strategische Frage.“  

Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof Karim Khan steht an einem Pult und spricht. Rechts und links von ihm stehen zwei weitere Personen.
IStGH-Chefankläger Karim Khan wartet noch immer auf die Entscheidung seines Gerichts zu den Anträgen auf Haftbefehl gegen Netanjahu, Gallant, Sinwar und Deif. Foto: International Criminal Court (ICC)/ UPI Photo via Newscom picture alliance

Ein Beispiel: 2016 forderte eine Gruppe, zu der die größten Geldgeber des IStGH gehörten, darunter auch Deutschland, den Haushalt des Gerichtshofs zu kürzen. Sie begründete den Schritt unter anderem mit der globalen Finanzkrise. Kurz zuvor hatte die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda Voruntersuchungen in Palästina und Afghanistan beschleunigt. Jonathan O‘Donohue zufolge, der als Rechtsberater für Amnesty International tätig war, wäre es „naiv“, hier keinen Zusammenhang zu sehen, wie er bei opinio juris schrieb. 

„Der Etat des Gerichtshofs kann das Nadelöhr für strafrechtliche Ermittlungen sein“, fasst Hiéramente zusammen. In einem Bericht im Journal of Human Rights von 2023 zur Finanzierung des IStGH werden Kirsten Ainley und Eric Wiebelhaus-Brahm noch deutlicher: „Der Gerichtshof scheint den Launen einer Gruppe von Staaten ausgeliefert zu sein, die versuchen, seinen Haushalt zu manipulieren, um außenpolitische Ziele zu erreichen, anstatt ihn bedarfsorientiert zu finanzieren, um sein Mandat zu erfüllen.“ 

Grundpfeiler der deutschen Politik

Die Nicht-Vertragsstaaten Israel und die USA gehen noch weiter, um Einfluss auszuüben: Recherchen des palästinensisch-israelischen Magazins +972 und des britischen Guardian haben belegt, dass Israel seit Jahren einen „geheimen Krieg“ gegen den IStGH führt. Mitarbeiter*innen, darunter Ex-Chefanklägerin Bensouda, wurden demnach vom israelischen Geheimdienst ausspioniert und bedroht. Und als der IStGH 2019 bekannt gab, wegen möglicher US-Kriegsverbrechen in Afghanistan zu ermitteln, sanktionierten die USA die Ermittler*innen. Auch wegen des aktuellen Haftbefehl-Verfahrens stimmte das US-Repräsentantenhaus im Juni für Sanktionen

Deutschland weckt eher durch mangelnde Kooperation und Verschleppung den Eindruck, dass es in einem Dilemma zwischen Solidarität mit Israel und der Umsetzung internationalen Rechts steckt. Das zeigen auch Statements wie im Fall der Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH), als Deutschland bereits zu Prozessbeginn verlautbaren ließ, dass der Völkermordvorwurf „jeder Grundlage entbehrt“. 

Müller-Fahlbusch warnt: „Deutschland schwächt so die Glaubwürdigkeit internationaler Gerichtsbarkeit.“ In ihren Augen schadet diese Haltung der menschenrechtsbasierten Außenpolitik der Bundesregierung nachhaltig. Dabei sei doch „die regelbasierte Ordnung und damit auch die internationale Gerichtsbarkeit der andere Teil der deutschen Staatsräson, ein Grundpfeiler deutscher Politik“. 

 

* Anmerkung der Redaktion: Der IStGH teilte am 6. September mit, dass er das Verfahren gegen den ehemaligen Hamas-Führer Ismail Hanijeh einstellt, der am 31. Juli im Iran getötet wurde. Das Verfahren gegen einen weiteren Hamas-Führer, Mohammed Deif, wurde nicht eingestellt, obwohl dieser – nach israelischen Angaben – ebenfalls getötet worden sein soll. Entsprechende Stellen in diesem Artikel wurden nachträglich geändert.