Eine Korrektur
1. Mythos: Integration heißt Assimilation
Häufig wird in der gegenwärtigen Debatte gesagt, Zuwanderer müssten sich 'anpassen' oder 'angleichen'. Fragt man nach, was das bedeutet, so kann man etwa hören, dass muslimische Frauen kein Kopftuch tragen sollten. Derlei hat mit Integration nichts zu tun.
Die völlige Angleichung von neuen Mitgliedern einer Gruppe oder Gesellschaft an die bisher herrschenden Sitten und Ideen nennt man Assimilation. Diese von Zuwanderern zu verlangen würde bedeuten, dass sich Zuwanderer von ihren Wurzeln abschneiden und auf ihre kulturelle Identität verzichten müssen.
Integration bedeutet die Aufnahme von anderen als anderen in eine Gemeinschaft. Der Respekt vor den für alle geltenden Gesetzen, der eine Gesellschaft eint oder zumindest einen sollte, verlangt ja gerade nicht, dass alle Mitglieder der Gesellschaft die gleichen Sitten befolgen.
Sie müssen weder die gleiche sexuelle Orientierung haben noch die gleiche Kleidung tragen. Sie müssen nicht einmal die gleiche Sprache sprechen, wie man am Beispiel unserer schweizerischen Nachbarn – Christoph Blocher zum Trotz – leicht sehen kann. In der Schweiz gibt es insgesamt vier verschiedene Amtssprachen. Die Idee, dass alle Bürger gleich sein müssen, ist ein Relikt aus Zeiten des Totalitarismus und passt nicht zum Wesen der Demokratie.
2. Mythos: In Deutschland spricht man Deutsch
Natürlich bedarf es zur Kommunikation in einer Gesellschaft einer gemeinsamen Sprache. Aber auch hier muss man irrige Vorstellungen korrigieren.
Deutschland war auch vor den Zuwanderungswellen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts kein sprachlich einheitliches Land. Es gibt zwar eine einheitliche Landessprache, aber die sorbische Minderheit im Südosten und die Dänen im Norden pflegten und pflegen ihre Muttersprachen neben dem Deutschen.
Sogar zweisprachige Ortsschilder gibt es in der Gegend von Cottbus/Chóśebuz. Bis 1918 lebte im Deutschen Reich eine große polnische Minderheit. Die rigiden Germanisierungsmaßnahmen unter dem Wilhelminismus gehören nicht zu den Ruhmesblättern der deutschen Geschichte.
3. Mythos: Die Deutschen integrieren sich im Ausland ohne weiteres
Immer wieder kann man hören, dass im Unterschied zu den Zuwanderern in Deutschland sich die Deutschen im Ausland selbstverständlich 'anpassen'. Das Gegenteil trifft zu – wie am Beispiel der Deutschen in den USA leicht zu zeigen ist.
Bekanntlich sind im 19. Jahrhundert in immer neuen Wellen Deutsche in die Vereinigten Staaten von Amerika ausgewandert. Zwischen 1850 und 1914 kamen etwa fünf bis sechs Millionen in die neue Welt. 'Ghettobildung' war völlig normal. In New York gab es ein "Little Germany" mit deutscher Kirche, deutschem Metzger, deutschem Bäcker, deutscher Zeitung.
Auf dem Land gab es nicht nur deutsche Dörfer, die etwa "Frankentrost" oder "Frankenmuth" hießen und heißen. Es gab ganze deutsche Landkreise. Man verlangte für die Schulen in diesen Landkreisen ausschließlich deutsche Lehrer und unterrichtete weitgehend nach deutschen Lehrplänen.
Auf den Vorwurf, man wolle in den USA eine 'deutsche Parallelgesellschaft' aufbauen, hätte man wohl geantwortet: "Ja, genau."
Dann brachte der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg die Wende für alle Deutschen in den USA. Die Regierung stellte klipp und klar die Frage: "Wollt ihr Deutsche sein? Dann müssen wir euch internieren. Oder seid ihr Amerikaner? Dann müsst ihr in den Krieg ziehen, auch wenn es gegen Deutschland geht." Praktisch alle optierten für die Bürgerschaft der Vereinigten Staaten.
Man kann der türkischen Gemeinschaft in Deutschland keinen Krieg gegen die Türkei wünschen. Die Frage der Loyalität wird sich nicht so abrupt klären wie bei den Deutschen in den USA. Aber sie wird sich klären, und sie klärt sich schon jetzt, wenn türkischstämmige Beamtinnen und Beamte Dienst tun in der Polizei und wenn es türkischstämmige Betriebsräte, Abgeordnete und Ministerinnen gibt.
4. Mythos: Haupthindernis für die gesellschaftliche Integration ist der Islam
Ist es nicht erstaunlich, welch prägende Kraft man von interessierter Seite der Religion der Muslime zuschreibt, während man andererseits meint, die gesellschaftliche Bedeutung des Christentums liege nunmehr seit Jahrzehnten im Schwinden? Läge es nicht viel näher, bei Muslimen wie Christen die Religion als einen Identität stiftenden Faktor unter anderen anzusehen?
Dabei darf man natürlich auf beiden Seiten nicht die Situation und Mentalität der Hauptamtlichen betrachten, der Theologen, Pfarrer, Imame, Moscheevorstände. Bei der Mehrheit der "normalen" Muslime sinkt der Einfluss der Religion auf den Alltag genauso wie bei den Christen.
Das entscheidende Hindernis für die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist bei Muslimen genau wie bei anderen Zuwandern und bei Alteingesessenen ein geringes Einkommen und eine niedrige formale Bildung.
Anders gesagt: Wenn man in den 1960er Jahren billige Arbeitskräfte gesucht und dabei ungelernte Arbeiter aus Anatolien geholt hat, die entweder nie oder nur ein paar Jahre eine türkische Schule besucht haben, dann darf man sich nicht wundern, wenn sich diese Leute verhalten wie jeder andere Bürger mit geringer Schulbildung.
Man darf nicht ohne Weiteres erwarten, dass sie z.B. an einem Elternabend in der Schule teilnehmen. Sie spüren sehr genau, wie fremd sie dort sind und dass man sie von vorneherein nicht als zugehörig akzeptiert.
Wie bürgerlich muss man eigentlich sein, um als integriert zu gelten? Sollen die Arbeiter aus Ostanatolien, die ihr Heimatdorf bei der Ausreise nach Deutschland zum ersten Mal verlassen haben, auf einmal die FAZ lesen oder im Restaurant Filet Bourguignon bestellen, um zu beweisen, dass sie sich nicht in einer Parallelgesellschaft abschotten?
Natürlich spielt auch die Religion eine Rolle, aber oft erst sekundär: wenn etwa Leute, die sich in Deutschland fremd fühlen, in eine Religion flüchten, die ihnen früher gar nicht soviel bedeutet hat, nun aber ein wenig Halt bietet.
Dabei kommt ein sehr strenger religiöser Orientierungsrahmen dem Bedürfnis nach Geborgenheit unter Umständen entgegen. Man spricht dann von 'Fundamentalismus' – aber eigentlich geht es um Komplexitätsreduktion: Eine als unübersichtlich und bedrohlich empfundene gesellschaftliche Wirklichkeit soll vereinfacht werden.
5. Mythos: Deutschland ist kein Einwanderungsland
Der Satz "Deutschland ist kein Einwanderungsland" ist eine langjährige Lebenslüge der deutschen Politik. Er wurde von manchen Politikern auch dann noch bis zum Überdruss wiederholt, als das Gegenteil bereits mit Händen zu greifen war.
Es kamen die Arbeitskräfte, die man angeworben hatte – und mit jahrelanger Verzögerung deren Angehörige. Es kamen Flüchtlinge aus Spannungsgebieten, etwa aus dem Irak. Es kamen Russlanddeutsche und ihre russischen Angehörigen.
Nur wahrhaben wollte man das alles nicht. Noch bis vor wenigen Jahren gab es an bayerischen Schulen eine "muttersprachlichen Ergänzungsunterricht" für türkische Kinder. Der diente zwar der Stärkung der türkischen Sprachkompetenz, aber nur, weil man die Kinder auf die Rückkehr in die 'Heimat' vorbereiten wollte, die zum Teil schon ihre Großeltern verlassen hatten!
Es gab Einwanderung – aber es gab lange weder eine Einwanderungs- noch eine Integrationspolitik. Das hat sich inzwischen geändert. Aber weithin fehlt noch immer der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen: Die Präsenz der Zuwanderer ist für das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in Deutschland unerlässlich. Es gibt Probleme, die durch die Zuwanderung entstanden sind, aber ohne diese Zuwanderung wären unsere Probleme noch weit größer.
6. Mythos: Integration ist eine Bringschuld der Zuwanderer
Die Rede von den "Integrationsverweigerern" ist verräterisch. Denn damit sind ja stets Migranten gemeint. Sie "verweigern" – so sagt man – die Integration, indem sie z.B. nicht ausreichend Deutsch sprechen oder ihre Kinder nicht zur Schule schicken. In Wahrheit ist Integration ein Veränderungsprozess, der 'neue' und 'alte' Mitglieder einer Gesellschaft betrifft.
Jeder, der eine Zeit lang im Ausland – und sei es in einem unserer europäischen Nachbarstaaten – gelebt hat, weiß, wie anstrengend das ist, auch dann noch, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man muss lernen, lernen um zu leben.
Die anderen brauchen mich scheinbar nicht, aber ich brauche sie. Und wenn man mir zeigt, dass ich hier nicht erwünscht bin, dann heißt das noch lange nicht, dass ich einfach ins Flugzeug steigen und nach Hause fahren könnte. Denn ein 'Zuhause', in das man so einfach zurückkehren könnte, gibt es oft nicht mehr.
Die andere Seite ist: Auch die deutsche Gesellschaft verändert sich durch die Migranten. Es ist nur die Frage, ob sie diese Veränderungen annimmt und bewusst gestaltet. Da ist etwa eine Frau wie Alice Schwarzer. Fast ein ganzes Leben lang haben sie und ihre Mitstreiterinnen gegen die Unterdrückung – auch die religiös motivierte Unterdrückung – der Frauen gekämpft.
Vieles wurde erreicht. Und nun, im siebten Jahrzehnt ihres Lebens, begegnen Frau Schwarzer massenhaft Frauen und Mädchen mit Kopftuch, das sie nicht anders verstehen kann, denn als Symbol der Unterdrückung.
Dass so ein Stück Stoff auch ein Zeichen von Selbstbehauptung sein kann, ist ihr schlicht unbegreiflich. Soll die hart erkämpfte Emanzipation rückgängig gemacht werden? Frau Schwarzer sieht keinen anderen Weg als ein Verbot der Kopftücher. Sie fordert es mit solcher Vehemenz, dass selbst Thomas Steinfeld, der moderate Feuilleton-Chef der Süddeutschen Zeitung, von einer "Erziehungsdiktatur" (SZ vom 28.9.10) spricht.
Und Thilo Sarrazin: Auf einem Podium in München nannte man ihn einen "Kleinbürger, der mit einer ungeordneten Welt nicht klarkomme". Das trifft die Sache recht genau. Aber das "gediegene Münchner Bürgertum" tobt vor Wut, als man sein neues Idol angreift (SZ vom 1.10.10). Hier meldet sich Verweigerung zu Wort, Weigerung eine neue gesellschaftliche Wirklichkeit zu akzeptieren, Ablehnung eines Lern- und Veränderungsprozesses, von dem man doch dunkel ahnt, dass er unvermeidlich ist.
Es ist ja kein Wunder, dass die Zustimmung für Sarrazin nicht in erster Linie aus den unteren Schichten der Gesellschaft kommt. Sie kommt von denen, denen es erträglich geht, sehr erträglich, und die deshalb wollen, dass alles so bleibt wie es ist. Aber auch hier gilt der bekannte Spruch Erich Frieds: "Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt."
Rainer Oechslen
© Rainer Oechslen 2011
Rainer Oechslen ist Islambeauftragter der bayrischen Landeskirche.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de