Schulterschluss der Ausgegrenzten
Ein Riss geht durch Deutschland. Während Tausende eine Waffenruhe für Gaza fordern und sich mit dem Leid der Palästinenser solidarisieren, steht die politische Elite geschlossen hinter Israel und seiner Kriegsführung.
Nach den grauenvollen Terrorangriffen der Hamas vom 7. Oktober habe Israel das Recht und die Pflicht sich zu verteidigen, heißt es unisono. In diesem Moment der Bewährung sei der Platz Deutschlands fest an der Seite Israels. Kritik am Vorgehen der Armee wird mit dem Argument, Israel sei ein demokratischer Rechtsstaat, abgeschmettert.
Doch nach mehr als 10.000 Toten in Gaza – zwei Drittel davon Frauen und Kinder – klingen die Worte des Bundeskanzlers von den "sehr humanitären Prinzipien“, die den demokratischen Staat Israel leiteten, für Menschen mit Angehörigen vor Ort zynisch. Es ist höchste Zeit, mit einem Kompass der Menschlichkeit durch den Konflikt zu navigieren.
Dieser Kompass hilft, mit allen Opfern zu fühlen und Gewalt gegen Zivilisten auf beiden Seiten zu verurteilen – ungeachtet der Tatsache, dass die Hamas den aktuellen Krieg ausgelöst hat und jenseits von Fragen der Verhältnismäßigkeit der israelischen Reaktion.
Viele Menschen in Deutschland – Linke und Konservative, Muslime, Christen, Juden und Atheisten, Herkunftsdeutsche und Zugewanderte – wünschen sich mehr Differenziertheit, Empathie und Ausgewogenheit in diesem emotional so aufgeladenen Konflikt.
Die Menschen in den Blick nehmen
Ein breiter gesellschaftlicher Konsens ist möglich, wenn wir kontextualisieren, ohne zu relativieren und aus dem "ja, aber“ ein "ja, und“ machen.
Das Abschlachten von israelischen Bürgern durch Hamas-Anhänger am 7. Oktober ist kein antikolonialer Widerstand, sondern Terror. Das Abriegeln von Gaza mit 2,3 Millionen Zivilisten ist keine Selbstverteidigung, sondern völkerrechtswidrig. Zum Hass gegen Juden aufzurufen, ist Volksverhetzung. Die israelische Besatzung, Vertreibung und strukturelle Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung zu kritisieren, ist legitim.
Wer eine Waffenruhe fordert, palästinensische Flaggen schwenkt und "Free Palestine“ ruft, ist nicht automatisch ein Antisemit oder Hamas-Anhänger. Wer Kippa trägt oder Hebräisch spricht, ist nicht verantwortlich für die Kriegsführung in Gaza. Eindeutig antisemitisch sind Angriffe auf Synagogen, Davidsterne an Hauswänden und Drohungen gegen jüdische Einrichtungen. Rassismus, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit lassen sich nur gemeinsam bekämpfen.
Letzteres ist bitter nötig. Denn die gesellschaftlichen Verwerfungen gehen tief. Damit aus dem Riss kein unüberwindbarer Graben wird, müssen wir zurückfinden zu einer Position, die den Menschen in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns stellt. Dafür braucht es eine Schärfung des Begriffs der Staatsräson und eine erweiterte und inklusivere Holocaust-Erinnerungskultur.
Nachhilfe für die Erinnerungsweltmeister
Es ist das Buch zu den aktuellen Kontroversen über Erinnerungskultur. Charlotte Wiedemann zeigt, wie es möglich ist, gleichzeitig über die Schoa und die Verbrechen der Kolonialmächte zu schreiben, ohne zu verharmlosen. Schonungslos deckt sie die zahlreichen blinden Flecken in unserer Erinnerungskultur auf.
Kritik gehört auch zur Staatsräson
Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson – was das konkret bedeutet, wird vielfach diskutiert. Müssen deutsche Soldaten im Ernstfall zur Verteidigung Israels antreten? Und sollen sich deutsche Politiker ohne Wenn und Aber an die Seite einer in Teilen rassistischen und religiös-extremistischen Regierung stellen? Eindeutiger wäre eine Formulierung, die sich nicht am Staat, sondern an den Menschen orientiert: Die Sicherheit der Menschen in Israel ist deutsche Staatsräson.
Daraus folgt: Wenn eine israelische Regierung aus Sicht eines Großteils der Bevölkerung nicht ausreichend für Sicherheit sorgt – weil sie damit beschäftigt ist, mithilfe einer fragwürdigen Justizreform an der Macht zu bleiben und radikale Siedler im Westjordanland zu schützen – muss unsere Solidarität den Menschen in Israel gelten, nicht der politischen Führung. Kritik ist dann nicht nur erlaubt, sondern im Sinne der Staatsräson geboten.
Auch beim Thema Antisemitismus hilft es, den Menschen in den Blick zu nehmen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnt, der Schutz jüdischen Lebens sei Staatsaufgabe, "aber er ist auch Bürgerpflicht“. Und Kanzler Olaf Scholz fordert von den Deutschen Zivilcourage "zum Schutz von Jüdinnen und Juden“.
Alle Menschen in Deutschland sollen sich also verpflichtet fühlen, Jüdinnen und Juden zu schützen – auch Zugewanderte. Die entscheidende Frage lautet deshalb, wie hier lebende Palästinenserinnen und Palästinenser zu Verbündeten im Kampf gegen Antisemitismus werden können.
Kein Platz für Palästinenser
Ein erster Schritt wäre, besser zu unterscheiden zwischen dem politischen Konflikt zweier Völker in Nahost und religiös verbrämtem Hass, zwischen berechtigter Wut auf Israel und pauschalen Angriffen auf Juden. Von Nachfahren vertriebener Palästinenser Solidarität mit Israel zu fordern – eines Staates, der für das Leid der eigenen Familie verantwortlich gemacht wird – ist weltfremd.
Das gilt noch dazu in Zeiten, in denen die Regierung des Landes die Vision eines jüdischen Staates beschwört, in dem für Palästinenser kein Platz ist und einige ihrer Vertreter deshalb die dauerhafte Unterwerfung und Vertreibung palästinensischer Bewohner als probates Mittel betrachten.
Nein, der Fokus muss auf dem Zusammenleben in Deutschland liegen. Statt bei der Einbürgerung das Bekenntnis zur Sicherheit Israels zum Gesinnungstest zu erheben und die Forderung nach einem befreiten Palästina zum Ausweisungsgrund zu machen, sollten wir gegen gewaltverherrlichende Hetze mit den Mitteln des Rechtsstaates vorgehen.
Juden, Muslime und Christen sowie alle Anders- und Nichtgläubigen sollten ermutigt werden, sich gemeinsam gegen extremistische Angriffe zu wehren. Egal, ob diese von radikalen Islamisten, linken Israel-, Deutschland- oder Islamhassern, rechtsextremen AfD-Sympathisanten oder dschihadistischen Kalifats-Beschwörern ausgehen. Ziel muss es sein, die Reihen der Anständigen zu schließen gegenüber Gruppen und Parteien, die das friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft zerstören wollen.
Das Trauma der Anderen anerkennen
Diese Differenzierung muss sich auch in unserer Debattenkultur widerspiegeln. Kritik an israelischer Politik wird zu schnell als israelbezogener Antisemitismus bezeichnet. Debatten über die institutionalisierte Ungleichbehandlung der Palästinenser, über Boykottaufrufe als ziviler Widerstand und den Bau von Siedlungen, die in Israel selbst, in anderen europäischen Ländern und in den USA leidenschaftlich und vielstimmig geführt werden, sind in Deutschland verstummt.
Deutsch-Palästinenser fühlen sich deshalb ohnmächtig und nicht gesehen. Schlägt ihre Wut in anti-jüdische Aggression um, wird es gefährlich – nicht nur für jüdische Menschen, sondern auch, weil Extremisten und Hass-Prediger diese Gefühlslage für ihre eigene anti-demokratische Agenda nutzen.
Zu Recht heißt es auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes: "Es ist ein zentraler Bestandteil der Sicherheit Israels, dass wir das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser sehen.“ Doch Außenministerin Annalena Baerbock, die im Rahmen der feministischen Außenpolitik stets auf das Schicksal von Frauen und Kindern in Konflikten hinweist, votiert im Falle Gazas gegen eine Waffenruhe.
Markieren wir die rote Linie deutlicher: Israelbezogener Antisemitismus beginnt dort, wo die Existenz des Staates Israel infrage gestellt wird, über alles andere kann und muss gestritten werden. Bleibt das Gedenken an den Holocaust als Teil der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Vor dem Hintergrund verdrängter und unverarbeiteter Gefühle sei die Identifikation mit dem jüdischen Staat "ein zentrales Element deutschen Erlöstseins“, schreibt die Autorin Charlotte Wiedemann in ihrem Buch "Den Schmerz der anderen begreifen“.
Die Shoah begreifen
Doch Erinnerung sei kein abgeschlossenes Produkt, sondern ein Prozess in ständiger Veränderung, so Wiedemann. Zugewanderte würden ihre eigenen Erfahrungen mit Gewalt- oder Fremdherrschaft, Verfolgung, Krieg und Flucht einbringen. "Ihre Traumata gehen ein in das Gedächtnis der postmigrantischen Gesellschaft“, betont sie. Diese anzuerkennen hält Wiedemann für den ersten Schritt in Richtung eines Dialogs über den Massenmord an den Juden. Es sei wie in jeder Ehekrise, sagt sie: Erst wenn der eigene Schmerz anerkannt wird, kann ich mich für den Schmerz des anderen öffnen.
Wie Migranten das Holocaust-Gedenken verändern, wird seit vielen Jahren untersucht – Malte Lehming zeichnete die Debatte bereits 2018 in einem Essay nach. An der Erinnerungskultur hat sich indes wenig geändert. Obwohl der 27. Januar, der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, von den Vereinten Nationen 2005 als internationaler Holocaust-Gedenktag eingeführt wurde und obwohl Migrationsforscher seit langem fordern, den Holocaust nicht als rein deutsche Geschichte zu verstehen, erwarten wir noch immer, dass sich zugewanderte Menschen in unseren Erinnerungskonsens integrieren. Wer hier lebt, soll in erster Linie die deutsche Schuld verinnerlichen.
Als reines Schuldbekenntnis ist der Holocaust in einer Einwanderungsgesellschaft jedoch nicht anschlussfähig. Warum sollte sich ein in Deutschland lebender Vietnamese, Chilene oder Türke für den deutschen Massenmord an sechs Millionen Juden verantwortlich fühlen? Warum sollte sich ein zugewanderter Syrer, dessen Land auf dem Golan bis heute von Israel besetzt wird, oder ein Palästinenser, dessen Urgroßeltern im Zuge der Staatsgründung Israels vertrieben wurden, für die Sicherheit ebendieses Staates einsetzen?
Solidarität der Ausgegrenzten
All diese Menschen – ein Viertel der deutschen Gesellschaft – sollen aber die Notwendigkeit eines eigenständigen jüdischen Staates infolge des Holocausts anerkennen. Kann das gelingen? Durchaus. Denn um die Shoa zu begreifen, braucht es keine deutsche Abstammung.
Was es braucht, ist eine multiperspektivische Erinnerungskultur, die den Holocaust nicht nur aus deutscher Sicht betrachtet, sondern auch den Blick von außen zulässt. Dadurch würde der Holocaust zum Menschheitsverbrechen und Zugewanderte ohne biografischen Bezug zum Nationalsozialismus könnten die gleichen Lehren daraus ziehen wie Deutsche mit Nazi-Vorfahren.
Häufig identifizierten sich junge Migranten und Muslime beim Besuch von Holocaust-Gedenkstätten mit den jüdischen Opfern, sagt die Soziologin Esra Özyürek im Interview mit ZEIT online. Als Mitglieder einer Minderheit, die selbst Ausgrenzung und Diskriminierung erfahre, sei das naheliegend, so Özyürek.
Ob der persönliche Zugang zu dem Thema aus der Perspektive der Täter, der Opfer oder eines unbeteiligten Beobachters wahrgenommen wird, ist für die Soziologin nicht entscheidend. Wichtig sei am Ende die gemeinsame Erkenntnis. Alle sollten verstehen, wie eine faschistische Gesellschaft funktioniert, wie systematische Marginalisierung Gewalt ermöglicht und dass jeder zum Täter werden kann, meint Özyürek.
Die Tragödie in Israel und Gaza zeigt einmal mehr, wie der Holocaust als weltgeschichtliches Verbrechen bis heute nachwirkt. Gerade deshalb muss das Gedenken daran historische Fäden aufgreifen und weiterspinnen. Was folgte daraus in Deutschland? Und was in Palästina? Wie können wir die Geschehnisse ab 1948, die in der arabischen Welt so anders bewertet und erzählt werden als in Israel und in Deutschland zum Gegenstand eines Dialoges machen – am besten schon auf den Schulhöfen und in den Klassenzimmern?
Kluge Pädagogen wie Tobias Nolte und Gerhard Hanloser, beide Lehrer in Neukölln, wissen, wie das geht – mit Beziehungsarbeit und (Selbst-)Reflektion, Anerkennung und Respekt für die Jugendlichen. Sie sind sich der Diskriminierungserfahrungen ihrer Schüler bewusst, kennen sich aus mit Rassismus und Antisemitismus und wissen, dass es in diesem Konflikt zwei Seiten mit legitimen Positionen gibt, die angehört werden müssen.
Die biografische Verstrickung ihrer Schüler bei dem Thema ist zugleich Herausforderung und Chance, denn die Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt rüttelt einerseits an identitätsrelevanten Gewissheiten, andererseits ermöglicht sie persönliche Zugänge.
Differenzierende Projektarbeit inklusive Studienreisen nach Nahost, Unterrichtsbesuch von palästinensischen und israelischen Menschen, die sich für Frieden einsetzen und Ideen für kurzfristige Deeskalation gibt es bereits. Statt Flaggen zu verbannen, könnte man im Geschichts- oder Politikunterricht eine israelische und eine palästinensische Fahne ausbreiten und fragen, welche Gefühle diese jeweils auslösen.
So kämen Jugendliche mit und ohne Migrationsgeschichte ins Gespräch über ihre biografischen Bezüge zu Israel und Palästina. Was haben die Eltern oder Großeltern über den Zweiten Weltkrieg erzählt? Welche Folgen hatte die Schoah für die eigene Familiengeschichte, welche die Nakba? Ein moderierter Austausch über Erfahrungen und Wahrnehmungen – ohne direkte Schuldzuweisungen – könnte helfen, das Thema zu enttabuisieren und zu versachlichen.
Im besten Fall führt Zuhören zu Verständnis und Verständnis zu Solidarität. Wer antisemitisch denkt, handelt auch rassistisch – mit dieser Einsicht könnte aus Wut, Schmerz und Angst ein Schulterschluss der Marginalisierten erwachsen.
Dann würden deutsche Muslime, arabische Christen und Zugewanderte mit Wurzeln in Nahost hier lebende Juden nicht als Täter oder Feind, sondern als Menschen mit ähnlicher Ausgrenzungs- und Gewalterfahrung betrachten. Wie die syrische Frauenrechtlerin, die seit 2015 in Berlin lebt und an jedem Stolperstein innehält, um die Namen zu lesen, weil die Deportierten von damals sie an die Verschwundenen in Syrien erinnern.
“Wir stehen das gemeinsam durch“ haben sich jüdische und arabische Israelis eines landesweiten Solidaritätskongresses in bewundernswerter Reflexion auf die Fahnen geschrieben. Wenn sich unter dem Eindruck von Terror und Krieg in Israel Muslime mit Juden und Israelis mit Palästinensern solidarisieren, sollte das auch in Deutschland möglich sein.
Kristin Helberg
© Qantara.de 2023
Der Artikel ist zuerst im Tagesspiegel erschienen.