Istanbul und danach

Im Kontext der Debatte über Stabilität und Sicherheit im "Erweiterten Mittleren Osten" hat auch der Mittelmeerraum zunehmend Aufmerksamkeit gefunden. Institutionen wie OSZE, WEU, EU und NATO haben in ihren Initiativen die Bedeutung der Mittelmeerregion immer wieder betont.
Die Vielschichtigkeit dieser Initiativen einerseits und deren Überschneidungen andererseits verwirren jedoch eher, als dass sie eine substantielle Verbesserung der regionalen und internationalen Sicherheit bewirken würden.
Die NATO hat den Mittelmeerdialog auf ihrem Gipfel in Istanbul am 28. und 29. Juni in den Kontext des "Broader Middle East" gestellt und stärker in ihre übergeordnete Strategie – Partnerschaft, Dialog und Kooperation mit angrenzenden Regionen – einbezogen.
Der Mittelmeerdialog kann nach seinem bisherigen Verlauf nicht unbedingt als Erfolgsgeschichte der NATO gelten. Dies soll sich mit einer deutlich partnerschaftlichen Akzentuierung nach Istanbul ändern.
Der NATO-Mittelmeerdialog feiert in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen. Im Dezember 1994 von den damaligen NATO-Mitgliedstaaten ins Leben gerufen, startete die Initiative mit ursprünglich fünf Nicht-NATO-Mitgliedsländern: Ägypten, Israel, Mauretanien, Marokko und Tunesien.
Im November 1995 kam Jordanien hinzu; Algerien nahm die Einladung im März 2000 an. Mauretanien ist auf Betreiben Portugals und Spaniens aufgenommen worden, obwohl es kein Mittelmeeranrainer ist.
Ziel des Dialoges war und ist noch heute, einen Beitrag zur regionalen Sicherheit und Stabilität zu leisten, das gegenseitige Verständnis zu verbessern sowie Fehlinterpretationen mutmaßlicher Ambitionen der NATO im Mittelmeerraum vorzubeugen.
Ziel und Entwicklung des Mittelmeerdialogs
Die Anfangsphase des Dialogs verlief alles andere als glücklich. Vor dem Hintergrund einer immer stärker empfundenen Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen hatte der damalige NATO-Generalsekretär Willy Claes den islamistischen Fundamentalismus als größte Bedrohung der Allianz bezeichnet und ihn als ebenso gefährlich eingestuft wie den einstigen Kommunismus.
Und William Perry, damals US-Verteidigungsminister, nannte Nordafrika eine Sicherheitsgefahr für die NATO.
In den Ländern der MENA-Region (Middle East-North Africa) wurden diese Äußerungen entsprechend negativ aufgenommen. Aus der Sicht einiger arabischer Länder bestätigten sie die Konfrontationsabsichten der NATO und nährten demzufolge eher Misstrauen, als dass sie ein Klima vertrauensbildender Kooperation erzeugten.
In den Folgejahren entwickelte sich die Zusammenarbeit ungeachtet dessen graduell weiter. Beim NATO-Gipfel in Madrid 1997 wurde die Mittelmeerkoordinierungsgruppe (Mediterranean Coordination Group, MCG) von den Staats- und Regierungschefs eingerichtet.
Diese Gruppe, direkt unterhalb des Nordatlantikrats angesiedelt, trägt die alleinige Verantwortung für die Gestaltung des Mittelmeerdialogs. Mit ihr wurde die Sichtbarkeit des Dialoges eindeutig erhöht.
Die MCG trifft sich jährlich auf bilateraler Ebene mit den jeweiligen Dialogländern. Zu den politischen Konsultationen sind auch die jährlichen multilateralen Treffen des Internationalen Stabes der NATO mit den Dialogländern zu rechnen.
Neben der politischen Arbeit umfasst der Dialog eine Reihe von zivilen und militärischen Aktivitäten, wie zum Beispiel Besuche von Regierungsvertretern und Wissenschaftlern aus den Dialogländern beim NATO-Hauptquartier oder die Teilnahme an Lehrgängen und Seminaren am NATO Defense College in Rom und der NATO-Schule in Oberammergau. Darüber hinaus nehmen Soldaten aus den Dialogländern als Beobachter an NATO-Übungen teil.
Als bedeutsamster Beitrag, wenn auch außerhalb des Dialograhmens, ist die Teilnahme von Soldaten aus Ägypten, Jordanien und Marokko bei Einsätzen der NATO (IFOR, SFOR) in Bosnien-Herzegowina anzusehen.
Skepsis der Dialogländer
Die Existenzberechtigung der NATO als militärische Organisation wird in den Dialogländern seit Ende der Ost-West-Konfrontation generell in Frage gestellt. Das Misstrauen gilt vor allem der aktuellen Politik der USA in der Region.
Unsicherheit herrscht auch darüber, gegen wen sich die NATO im 21. Jahrhundert richtet sowie über ihre Absichten und Ziele im Mittelmeerraum. Die Dialogländer verstehen sich eher als Gegenstand der Sicherheitsbedenken der NATO denn als Partner im gemeinsam gestalteten Sicherheitsdialog.
Gleichwohl herrscht die grundsätzliche Bereitschaft zum Dialog mit der NATO vor, wobei sich Israel, Algerien und Jordanien für eine Verbesserung der Beziehungen zur NATO einsetzen, während Ägypten, Marokko, Mauretanien und Tunesien dem eher zurückhaltend gegenüberstehen.
Die auf dem NATO-Gipfel in Prag 2002 verkündete Aufwertung des Mittelmeerdialogs wurde von allen Dialogländern begrüßt, was jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass sich die Länder stärker bei den NATO-Angeboten engagieren und dass sich deren grundsätzliche Einstellung zur NATO als Organisation positiv ändert.
Als eines der wesentlichen Hemmnisse stellt sich nach wie vor das unterschiedliche Verständnis der im Dialog zu behandelnden Sicherheitsfragen dar.
Während die NATO-Mitglieder hierunter eher 'weiche Themen' wie Streitkräftereform und Grenzfragen verstehen, sind es für die Dialogländer vornehmlich 'harte sicherheitspolitische Fragen', in vorderster Linie der israelisch-arabische Konflikt. Aus Sicht der Dialogländer sollte sich die NATO hier eindeutiger für eine Konfliktlösung einsetzen.
Weitere wesentliche Kritikpunkte am Mittelmeerdialog sind:
– Mangelnde Information über strategische Entwicklungen, Absichten und Ziele der NATO im Mittelmeerraum;
– fehlende Konsultation bei der Konzept- und Programmentwicklung im Rahmen des Dialoges;
– unzureichende Berücksichtigung der Bedürfnisse der Dialogländer bei der Angebotserstellung.
Optionen für die Fortentwicklung der Mittelkooperation
Um diesen Vorbehalten zu begegnen, beabsichtigt die NATO, den Dialogländern auf dem Gipfel in Istanbul ein neues, aufgewertetes Angebot zu unterbreiten, das den partnerschaftlichen Ansatz in der Kooperation deutlicher betont.
Auch die Außenminister der jeweiligen Länder wurden nach Istanbul eingeladen. Der Stellvertretende Generalsekretär der NATO, Alessandro Minuto Rizzo, bereiste sechs der sieben Dialogländer, um Möglichkeiten für die Fortentwicklung der Mittelmeerkooperation zu eruieren.
Ägyptens Außenminister Ahmed Maher hatte im Vorfeld bereits angedeutet, daß "der Besuch von NATOs Nummer zwei inopportun sei und die NATO keine Rolle bei den politischen Reformen des Mittleren Osten zu spielen habe." (…)
Folgende Akzente bzw. Optionen bieten sich für die Fortführung des Dialogs an:
– Die NATO-Mitgliedsländer sollten zunächst ihre strategischen und militärpolitischen Ziele im Mittelmeerraum ausformulieren und sie in Abstimmung mit den Dialogländern in einem Grundlagendokument festschreiben. Dem NATO-Mittelmeerdialog fehlt ein Rahmendokument, wie es zum Beispiel für die Initiative Partnerschaft für den Frieden (PfP) existiert. Dies wäre der erste Ansatzpunkt für ein verbessertes Verhältnis mit den südlichen Mittelmeeranrainern. Die bereits bestehenden Übereinkommen könnten somit eine verbindliche Qualität bekommen.
– Die militärische Kooperation zur Verbesserung der Interoperabilität von NATO- und Nicht-NATO-Truppen sollte verstärkt fortgesetzt werden. Aus Sicht der Militärischen Kommission ist Interoperabilität ein besonders wichtiges Thema. Die Teilnahme von Soldaten aus Ägypten, Jordanien und Marokko an NATO-Einsätzen hat deutlich gezeigt, dass Zusammenarbeit das Vertrauen der Dialogländer in die NATO festigt. Zudem nimmt die NATO die Unterstützung und Entlastung von Truppenteilen in Einsätzen dankbar an. Ein verstärktes Engagement hängt jedoch einerseits vom politischen Willen der Dialogstaaten ab und andererseits von deren technischen und finanziellen Möglichkeiten. Die nach dem Prager Gipfel intensivierte praktische militärische Kooperation zeigt erste Erfolge, zum Beispiel im Kampf gegen den Terrorismus und in der zivil-militärischen Krisenplanung.
– Um die Attraktivität des Programms zu erhöhen, sollten die individuellen Ansprüche und Wünsche des jeweiligen Dialoglandes stärker berücksichtigt werden. Die Angebotspalette könnte reichen von Unterstützung bei Grenzkontrollen und der Unterbindung der Proliferation von Kleinwaffen über die Zusammenarbeit im Kampf gegen jegliche Art von grenzübergreifendem Schmuggel bis hin zur Hilfe bei der Durchführung von Streitkräftereformen, bei deren Budgetierung und demokratischer Kontrolle. Das jeweilige Land hat dann die Möglichkeit, aus der Palette das jeweils Passende auszuwählen.
An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Finanzierung der Teilnahme an den Programmangeboten der NATO stets als Hemmnis gewirkt hat. Die Teilnahme an den NATO-Angeboten ist grundsätzlich selbstkostenpflichtig; nur in Einzelfällen zahlt die NATO einen Zuschuss. Diese Regelung hat die meisten Länder ferngehalten, auch wenn sie generell zur Teilnahme motiviert waren.
– Eine ständige Arbeitsgruppe der NATO mit der Europäischen Union (EU) zur Koordination des Barcelona-Prozesses mit dem NATO-Mittelmeerdialog sollte eingerichtet werden. Im Mittelmeerraum herrschen größtenteils konvergierende Interessen von EU und NATO vor. Beide treten für Demokratisierung, Verbesserung von intra- und interstaatlicher Stabilität sowie für die Bekämpfung des internationalen Terrorismus in Verbindung mit jener der Proliferation von Massenvernichtungswaffen ein.
Die Initiativen beider Organisationen könnten synergetisch, den jeweiligen komparativen Vorteil nutzend, in einer strategischen Partnerschaft vereint werden. Die Idee einer ständigen Arbeitsgruppe ist nicht neu, nur hat sie bislang keine Konturen angenommen.
Aus Sicht der Partner-, respektive Dialogländer wäre ein Konzept nach dem Prinzip "alles aus einer Hand" sehr wünschenswert. In der Praxis wird die Verzahnung primär von Seiten der EU blockiert.
Insbesondere Frankreich ist an einer engeren konstruktiven Zusammenarbeit zwischen NATO und EU kaum interessiert, da es befürchtet, dass die USA zu starken Einfluss auf die europäische Politik nehmen könnten.
Man könnte zudem darüber nachdenken, die NATO in Sicherheitsbelangen dort einzusetzen, wo die EU nicht eingreifen will oder kann (quasi ein "Berlin-plus invers"-Abkommen), ähnlich wie die EU auf Kapazitäten der NATO im Sinne des Berlin-plus-Abkommens zurückgreifen kann. Die Erweiterung des NATO-Dialoges auf die Länder des Barcelona-Prozesses wäre hierfür sehr hilfreich.
Fazit und Ausblick
Bei den aufgezeigten Optionen sind kurzfristige Erfolge möglich, insbesondere bei der Fortführung der praktischen Arbeitsprogramme sowie bei der Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Dialoglandes.
Mittel- bis langfristig wird die Abfassung eines Rahmendokumentes sowie die ständige EU-NATO-Arbeitsgruppe positive Akzente im Mittelmeerdialog setzen können.
Auch wenn im zehnten Jahr des Dialogs die Mittelmeerregion im Fokus der NATO steht, konzentrieren sich deren Mitglieder eher auf den erfolgreichen Abschluß laufender Operationen wie in Afghanistan oder auf dem Balkan.
Darüber hinaus sind die Fortentwicklung von militärischen Fähigkeiten sowie die politische Kohäsion der Allianz die derzeit bestimmenden Themen. Angesichts angespannter Ressourcen in den Mitgliedstaaten fällt es der Allianz nicht leicht, substantielle Beiträge zur Aufwertung des Mittelmeerdialogs zu leisten, zumal eine solche Aufwertung in den Amtsstuben mehrerer Dialogländer zur Zeit wohl eher zurückhaltend aufgenommen würde.
Eine größere Akzeptanz in Politik und Gesellschaft der Dialogländer könnte durch eine Politik der offenen public diplomacy erzielt werden. Hierzu sollte die NATO gemeinsam mit den Dialogländern ein Programm erarbeiten.
Die NATO-Mitgliedsländer sollten der Versuchung widerstehen, eine großspurige strategische Neuauflage ihres Dialoges mit den südlichen Mittelmeeranrainern zu konzipieren, und statt dessen die Politik der kleinen Schritte in Sicherheitsfragen fortführen.
Diese Politik würde in der Region eher akzeptiert und dem Verdacht vorbeugen, daß die NATO als Konkurrent zur Mittelmeerinitiative der EU (Barcelona-Prozeß) auftreten möchte.
Der Barcelona-Prozeß ist nach wie vor die umfassendere Initiative im Mittelmeerraum, da sie auch wirtschaftliche und sozial-kulturelle Aspekte einbezieht. In der Konzentration auf Sicherheitsaspekte liegt der komparative Vorteil der NATO gegenüber Initiativen anderer Organisationen. Diesen sollte sie weiterhin nutzen.
Thomas Papenroth