Rückzug vom Rückzug
Die afghanischen Sicherheitskräfte sollten dieses Jahr das Land erstmalig in Eigenverantwortung schützen. Ende 2014 wurde der Kampfeinsatz der NATO beendet. Die Nachfolgemission "Resolute Support" sah lediglich vor, die afghanische Armee zu beraten und auszubilden. Dafür sind mehr als 10.000 NATO-Soldaten am Hindukusch im Einsatz. Die Bundeswehr stellt etwa 850 Soldaten.
Während die afghanischen Sicherheitskräfte eigenständig für Ruhe und Ordnung sorgen sollten, wurden Initiativen für einen Friedensprozess mit den Taliban vorangetrieben. Im Frühjahr 2015 sah es fast danach aus, als würden die Gespräche erfolgreich anlaufen. Doch die Hoffnungen wurden bald zerschlagen.
Zerrissene Taliban
Die Bekanntgabe des Todes von Mullah Omar, dem Führer der Taliban, machte erste Erfolge bei den Friedensgesprächen zunichte. Der vermutlich bereits 2013 verstorbene Mullah hatte sich für die Gespräche eingesetzt und diese unterstützt, solange sie das Ende des NATO-Einsatzes beinhalteten, hieß es. Nachdem die afghanische Regierung aber seinen Tod im Frühjahr 2015 verkündete und die Taliban diesen bestätigten, fiel die Grundlage für die Gespräche weg.
Der neue Anführer der Taliban, Mullah Akhtar Mansour, lehnt eine Annäherung ab. Trotz immer wieder aufkommender Gerüchte über eine interne Spaltung der Taliban – zahlreiche Kämpfer sollen Mullah Akhtar Mansour nicht anerkennen – bewiesen die Taliban ihre Schlagkraft. Das bestätigt nicht nur die diesjährige Frühjahrsoffensive. Auch die Zahl der Anschläge nimmt weiter zu. Laut dem Halbjahresbericht der UN erreichte die Opferzahl 2015 einen neuen Höhepunkt. Fast 5.000 Zivilisten kamen allein in der ersten Hälfte des Jahres bei Gefechten oder Anschlägen ums Leben.
Die erzielten Erfolge würden den Taliban auch im nächsten Jahr viel Vertrauen geben, argumentiert Michael Kugelman vom Woodrow Wilson Center in Washington. "Die Taliban haben unterm Strich zwei Faktoren, die für sie sprechen. Die andauernde Beziehung zu Pakistan und eine als schwach und ineffektiv angesehene Regierung", so Kugelman.
Wendepunkt Kundus
Trotz vieler Anzeichen für eine sich verschlechternde Sicherheitslage im Land, zeichnete sich eine Wende bei der NATO erst nach dem Fall der Provinzhauptstadt Kundus im Norden Afghanistans ab. Tagelang (vom 28. September bis zum 13. Oktober) war der einstige Bundeswehrstützpunkt teilweise in den Händen der Taliban. Bilder von flüchtenden afghanischen Sicherheitskräften gingen um die Welt. Die Taliban schossen triumphierend Selfies mit Einwohnern und patrouillierten in den Polizeiwagen des Staats. Etwa 850 Zivilisten kamen laut der UN ums Leben. Für die Moral des afghanischen Militärs und der Polizei war der Fall von Kundus ein schwerer Schlag.
Mit dem zeitweiligen Fall der Provinzhauptstadt war offensichtlich geworden, dass Afghanistan keineswegs in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. "Kundus, aber auch die wachsende Bedrohung von Seiten des IS waren ausschlaggebend für US-Präsident Obama den Truppenabzug zu stoppen", so Kugelman.
Auch Deutschland will im nächsten Jahr die Truppenstärke von ursprünglich 850 auf 980 erhöhen. Für Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analyst Network, keineswegs ausreichend. "Die Zahl der Soldaten in Afghanistan ein wenig aufzustocken ist inadäquat und nur etwas mehr von dem, was man bisher tat - und das ging ja an den Problemen vorbei." Ruttig zieht eine düstere Bilanz. Neben den massiven Problemen in der Sicherheit des Landes würden soziale, ökonomische und institutionelle Probleme weiterhin ignoriert.
Afghanische Tellerwäscher
Arbeitslosigkeit und eine ineffiziente Regierung sind neben der prekären Sicherheitslage jedoch die Hauptgründe für Tausende von Afghanen, die das Land im Jahr 2015 verlassen haben. Mehr als 140.000 Afghanen sind nach Europa geflüchtet, der Großteil von ihnen nach Deutschland. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wurden allein im November mehr als 31.000 Flüchtlinge aus Afghanistan registriert. Damit bilden die Afghanen nach den Syrern die zweitgrößte Gruppe von Flüchtlingen.
"Wir tun alles, was in unserer Macht steht, damit Afghanen es nicht für nötig halten, das Land zu verlassen", sagte Sayed Zafar Hashemi, Sprecher des afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani. In einem Interview mit DW Conflict Zone sagte Präsident Aschraf Ghani, dass die Flüchtlinge nicht viel mehr seien als "Tellerwäscher". In Europa sei es ihnen nicht möglich, ökonomisch aufzusteigen. Die einzige Chance auf eine Karriere läge in Afghanistan.
Für Alexey Yusupov, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul, ist der Trend zur Flucht auch durch Fehlinformationen von Seiten von Schleppern und Kreditgebern entstanden. Aufrufe würden nicht reichen. "Es geht hier nicht nur um Rhetorik, sondern es geht auch darum, ganz konkret aktiv gegen diese Netzwerke vorzugehen", so Yusupov. Bisher sei das jedoch versäumt worden. Hinzu kommt, so Yusupov: "Die Menschen müssen zumindest ansatzweise erkennen, dass sich ihre Lebensumstände zum Besseren wenden, damit sie bleiben."
Die afghanische Regierung habe dazu für das kommende Jahr Programme entwickelt. Konkret sollen beispielsweise mit dem Projekt "Jobs for Peace", das von Deutschland unterstützt wird, Arbeitsplätze geschaffen werden. Ob das Gefühl der Hoffnungslosigkeit dadurch abgewendet werden kann, wird erst das Jahr 2016 zeigen.
Waslat Hasrat-Nazimi
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