Wie (manche) Aufstände die Welt verändern
Von Protesten, die ihre Ziele erreichen und tiefgreifende Veränderungen bewirken, hört man selten. Stattdessen dominieren Berichte über gescheiterte Protestbewegungen – in Autokratien wie Syrien oder Sudan oft gewaltsam niedergeschlagen, in Demokratien wie Deutschland oder den USA häufig im Sande verlaufend. Der Politikwissenschaftler Tareq Sydiq untersucht in seinem im September erschienenen Buch „Die neue Protestkultur – Besetzen, Kleben, Streiken: Der Kampf um die Zukunft“, wie sich Proteste und ziviler Ungehorsam im 21. Jahrhundert entwickeln.
Über Proteste wird oft, wie bei den feministischen Protesten im Iran 2022, mit einer gewissen Euphorie berichtet, häufig ohne Berücksichtigung der politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge. Dafür macht sich Sydiq in seinem Buch stark: Moderne Proteste, so seine These, sind in Struktur, Organisation und Wirkung so stark von den sozialen, politischen und technologischen Rahmenbedingungen ihrer Zeit geprägt, dass ihr Erfolg weniger von der Handlungsfähigkeit der Protestierenden abhängt als vielmehr von äußeren Faktoren.
Ebenso entscheidend sei die Reaktion der Adressat*innen des Protests. Damit echter Wandel stattfindet, müssten viele Hebel gleichzeitig in Bewegung gesetzt werden, argumentiert Sydiq. Die Wahrnehmung der Ereignisse sei oft wichtiger als das, was tatsächlich passiert – eine These, die sich insbesondere mit Blick auf soziale Medien erschließt.
Trotz ihrer Kreativität, argumentiert Sydiq, scheiterten viele Bewegungen an politischen Hürden, was zu globaler Ernüchterung geführt habe. Dazu merkt der Autor jedoch an, dass Proteste nicht vorschnell abgeschrieben werden sollten, denn wirken würden sie oft trotzdem. Sie schaffen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und bringen den Protestierenden wertvolle Lerneffekte.
In mehreren Kapiteln beleuchtet Sydiq Protestbewegungen – vom zivilen Ungehorsam iranischer Frauen gegen den Kopftuchzwang bis hin zu den Demokratieprotesten in Hongkong – und bringt diese mit historischen Beispielen wie der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in Verbindung.
Aus dem Krankenhaus auf die Barrikaden
Im Iran streiken die Pflegekräfte, um gegen miserable Lebensstandards und belastende Arbeitsbedingungen zu protestieren. Die Verzweiflung treibt viele ins Ausland – manche sogar in den Suizid.
Was ist Protest?
Sydiq baut das Verständnis von Protest langsam auf und beginnt mit dem Konzept des politischen Protests und des zivilen Ungehorsams. Er beleuchtet die Ursprünge sozialer Bewegungen in der US-Bürgerrechtsbewegung und ihre Entwicklung über die Jahrzehnte hinweg. Dabei zeigt er, dass Proteste zwar kein neues Phänomen sind, sich aber stets an veränderte gesellschaftliche Bedingungen anpassen müssen.
Sydiq sieht Protest als vielseitiges politisches Ausdrucksmittel, das durch Technologien wie das Internet begünstigt wird. So galt vielen 2011 das Internet als zentral für den „Arabischen Frühling“. Sydiq bestätigt zwar, dass das Internet einen großen digitalen Raum für Proteste eröffnet hat, doch sind Technologien seiner Ansicht nach „selten dauerhafte Gamechanger“.
Sie könnten den Protestierenden kurzfristig einen Vorteil verschaffen, wenn diese sie besser beherrschen als der Staat. Allerdings können sie langfristig nicht mit dem gewaltigen Budget und der Infrastruktur der Staaten mithalten. Offen bleibt in Sydiqs Analyse die Frage, inwiefern neue Protestformen wie digitaler Aktivismus langfristig effektiv sind.
Anhand zahlreicher Studien und historischer Beispiele zeigt Sydiq, dass gewaltfreie Proteste eine größere Chance haben, Mehrheiten zu überzeugen und sich letztendlich auch durchzusetzen. Besonders interessant ist seine Reflexion über den Gegensatz zwischen spontanen Protesten und gut organisierten Bewegungen. Proteste ändern keine politischen Machtverhältnisse und vermitteln auch keine klare Vorstellung davon, wie sich Mehrheiten und Stimmungen im Land entwickeln. Und doch reagiert die Politik teilweise auf sie. Proteste bewegen sich, wie Sydiq sagt, zwischen allen politischen Institutionen wie Parlamenten, der Elite oder repräsentativen Umfragen.
Eine Kultur von zivilem Ungehorsam im Iran
Eines der länderspezifischen Beispiele des Buchs ist der anhaltende Protest im Iran gegen das Kopftuchgebot. Sydiqs analytischer Schwerpunkt liegt hier auf der Dynamik von Protestbewegungen, die unter extremer Repression agieren und dennoch eine starke Widerstandskraft entwickeln.
Für Sydiq sind die Proteste im Iran eine Form des tief in der Kultur des Landes verwurzelten zivilen Ungehorsams. Das öffentliche Ablegen des Kopftuchs erschüttert das Bild des allmächtigen Staates und stellt seine Legitimität in Frage, da die Sicherheits- und Ordnungskräfte des Landes nicht in der Lage sind, das Gesetz flächendeckend durchzusetzen.
Die 2022 ausgebrochenen landesweiten Massenproteste bauen aus Sicht des Autors auf zivilem Ungehorsam in den Jahren zuvor auf und verdanken diesem vermutlich ihre Größe. Ein erfolgreiches Beispiel von zivilem Ungehorsam im Iran seien etwa die omnipräsenten Satellitenschüsseln, die zwar offiziell verboten sind, jedoch trotzdem massenhaft verkauft und genutzt werden.
Sydiq sagt voraus, dass die Fortführung des Ungehorsams in fünf bis zehn Jahren eine neue Massenbewegung hervorbringen könnte – auch wenn die Straßenproteste zunächst niedergeschlagen wurden und es die Hijab-Pflicht weiter gibt.
Deutschland: Die Mehrheit gewinnen!
Die Protestkultur in Deutschland interessiert Sydiq insbesondere im Zusammenhang mit dem wachsenden Rechtsextremismus. Anhand der landesweiten Demonstrationen gegen Rechts im Januar und Februar 2024 untersucht er die Unterschiede zwischen sozialen Bewegungen in Deutschland und anderen westlichen Demokratien.
Trotz der strukturellen Vorteile einer etablierten Demokratie sieht Sydiq auch hier Herausforderungen, vor allem aufgrund der oft fragmentierten Natur von Protestbewegungen gegen Rechtsextremismus. Der Autor setzt sich mit der Frage auseinander, wie aus Protesten eine soziale Bewegung entstehen kann und welchen Einfluss solche Bewegungen letztlich auf die Politik ausüben können.
"Nie wieder" ist jetzt
Seit die Absicht der AfD bekannt wurde, Menschen mit Migrationsgeschichte deportieren zu wollen, protestieren Hunderttausende im ganzen Land.
Ein Protest, der es nicht schafft, die Mehrheit zu überzeugen, hat laut Sydiq eine geringere Erfolgsaussicht. Eine Bewegung jedoch, die nicht zu radikal wird und deren Akteur*innen trotz aller Widerstände fortfahren, hat die Chance, sowohl die Zivilgesellschaft als auch langfristig die Politik zu verändern.
Revolution und Konterrevolution im Sudan
Die Proteste im Sudan, die 2019 zum Sturz des Diktators Omar al-Baschir führten, nennt Sydiq als Beispiel für eine zunächst erfolgreiche revolutionäre Bewegung, die jedoch bald an den Rand gedrängt wurde. Im Buch schildert er die dramatischen Ereignisse, die zum Krieg geführt haben, und zeigt auf, wie die Zivilgesellschaft trotz politischer Instabilität eine zentrale Rolle beibehält.
Der Autor erläutert, dass die Protestierenden im Sudan zwar immer wieder Erfolge erkämpfen konnten, zum Beispiel eine Liberalisierung des Presserechts, das Verhindern frauenfeindlicher Gesetze und nicht zuletzt den Sturz des Diktators. Ihr eigentliches politisches Projekt, die Demokratisierung, konnte die Opposition im Sudan jedoch nicht realisieren – was aus Sydiqs Sicht nicht nur am Ehrgeiz der Generäle liegt, die sich seit April 2023 bekämpfen, sondern auch an der Spaltung der Opposition. Denn, so Sydiqs These: Je konkreter die Forderungen werden, umso gespaltener ist die Opposition.
In Krisenzeiten, so argumentiert Sydiq weiter, bedeute Aktivismus oft nicht etwa zu demonstrieren, sondern beispielsweise Nachbar*innen zu retten. Er zeigt, wie im Sudan derzeit die Zivilgesellschaft Aufgaben übernimmt, die eigentlich dem Staat obliegen, wie etwa die Gesundheitsversorgung. Dabei pflegt sie ihre Netzwerke und wartet auf den richtigen Moment. Ob die Bewegung nach dem Ende der Kämpfe wieder offensiv für eine Demokratisierung kämpfen wird, hänge auch in Zukunft von der Reaktion der Generäle ab.
Der globale Backlash
Am Ende des Buches thematisiert Sydiq die zunehmenden Repressionen gegen Protestbewegungen weltweit. Er zeigt, dass Proteste in vielen Fällen entweder gewaltsam niedergeschlagen oder diffamiert werden. Besonders in Autokratien wird deutlich, dass Protestbewegungen zwar gesellschaftliche Veränderungen anstoßen können, aber häufig nicht in der Lage sind, das bestehende Machtgefüge zu durchbrechen.
Bei der Betrachtung des „globalen Backlashs“ wäre eine vertiefte Analyse der Solidarität und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Protestbewegungen wünschenswert gewesen. Auch um aufzuzeigen, welche Protestbewegungen durch sie verstärkt oder behindert werden. Es bleibt zudem unklar, ob Protestbewegungen in Zukunft eine größere Rolle in politischen Entscheidungsprozessen spielen werden oder ob sie angesichts wachsender Repressionen eher marginalisiert werden.
Tareq Sydiq verdeutlicht in „Die neue Protestkultur“, dass moderne Protestbewegungen trotz technologischer Fortschritte weiterhin stark von politischen Rahmenbedingungen und staatlichen Reaktionen abhängig sind. Das Buch ist höchstaktuell, da es Proteste zusammendenkt und zusammen analysiert, die in der deutschen Debatte meist getrennt diskutiert werden.
„Die neue Protestkultur. Besetzen, kleben, streiken: Der Kampf um die Zukunft”
Hanserblau Literaturverlag
187 Seiten, 20 Euro (Hardcover)/14,99 Euro (Ebook)
© Qantara.de