Von Frauen für Frauen
Anfang August hielt die Hochschule Al Ghaith Wafiyya – eine islamische Lehrstätte im indischen Bundesstaat Kerala, an der nur Frauen studieren dürfen – für ihre weiblichen Absolventinnen eine bisher einmalige Einberufungszeremonie ab. Die Studentinnen hatten erfolgreich einen Fünfjahreskurs in Islamischen Studien abgeschlossen und dabei gleichzeitig den Titel des Bachelors einer anerkannten weltlichen Universität erlangt. Die Zeremonie wurde von Frauen für Frauen veranstaltet. Tatsächlich lagen alle Aufgaben – von der Bedienung eines Mikrofons bis hin zur Abschiedsrede – in weiblicher Hand.
Neuartig und bahnbrechend an dieser Abschlussfeier war vor allem, dass 111 weibliche Absolventinnen ihre "Sanad" bekamen – eine Konzessionsurkunde, durch die sie formell als islamische Gelehrte bestätigt wurden. Damit stehen sie in der Tradition einer islamischen Glaubenslehre, die mit dem Propheten Mohammed begann und ihnen das Recht gibt, den Glauben an die nächste Generation weiterzugeben. Die "Sanad" wird traditionell männlichen Gelehrten verliehen, die bei einer anerkannten Hochschule einen Abschluss der islamischen Studien erworben haben. Dadurch erhalten sie unter anderem das Recht zu lehren, religiöse Zeremonien durchzuführen und seelsorgerisch tätig zu werden.
Indem sie die "Sanad" auch ihren weiblichen Absolventinnen anbietet, sendet die Hochschule Al Ghaith Wafiyya, die im Staat Kerala von überwiegend traditionellen Muslimen geleitet wird, eine eindeutige Botschaft: Frauen neben künftig einen ebenbürtigen Platz im islamischen Lehrgebäude ein.
Religiöse und weltliche Studien gehen Hand in Hand
Die Hochschule geht auf Abdul Hakeem Faizy zurück, einen Gelehrten und Ausbildungsaktivisten aus Kerala. Sie vermittelt nicht nur die höhere islamische Lehre an junge Frauen, sondern bringt das traditionelle Wissen dieser Religion auch auf einmalige Weise mit einer modernen weltlichen Ausbildung in Einklang.
Als couragierter Verfechter für die Integration religiöser und weltlicher Studien im Lehrplan hat Faizy ein unverkennbares Konzept entwickelt, das traditionelle und moderne islamische Lehren mit moderner Ausbildung verbindet.
Sein Konzept kommt heute in über 60 Lehranstalten zur Anwendung, die von den traditionellen Muslimen Keralas geleitet werden. Dies findet unter der Schirmherrschaft der "Koordinierung Islamischer Lehrstätten" (Co-ordination of Islamic Colleges, CIC) statt, einer Regierungsinstitution, die als Universität fungiert. Dazu gehören etwa 15 Institute nur für Frauen, die als "Wafiyya-Hochschulen" bekannt sind.
Die weiblichen Absolventinnen sind als "Al-Wafiyya" bekannt (was auch als "engagierte Frauen" übersetzt werden kann). Diese Ideen steht im Einklang mit der traditionellen und immer noch populären indischen Sitte, religiöse Gelehrte nach den Hochschulen zu benennen, an denen sie studiert und ihre "Sanad" erhalten haben.
Islamische Studien und eine Würdigung der modernen Welt
Der Lehrplan dieser Hochschulen zielt in erster Linie darauf ab, eine klassische islamische Ausbildung mit einem soliden Verständnis der zeitgenössischen Wissenschaften zu verbinden. Dabei sollen religiöse Gelehrte ausgebildet werden, die nicht nur die unterschiedlichen Disziplinen des Islam beherrschen, sondern auch solide Kenntnisse der wissenschaftlichen, kulturellen, politischen und intellektuellen Strömungen haben, die unsere moderne Welt prägen.
Die weiblichen Absolventinnen, die ihr Studium erfolgreich abgeschlossen haben, kennen sich zumeist in allen traditionellen und modernen Bereichen der islamischen Studien gut aus. Dazu gehören Koranexegese, Hadith-Studien, islamisches Recht, vergleichende Religionswissenschaften usw. Nebenbei verpflichten sich die Studentinnen, mindestens einen Bachelor-Abschluss einer anerkannten Universität zu erlangen. So können sie religiöse Texte aus einem größeren wissenschaftlichen Kontext heraus studieren und verstehen, was zweifelsohne die unterschiedlichen Wissensbereiche fördert.
Die formelle Einberufungszeremonie, die einige Jahre nach dem Abschluss des ersten Jahrgangs von Studentinnen stattfand, war für die Hochschule eine Gelegenheit, ihre progressive Mission zu verdeutlichen. Diese weiblichen Gelehrten haben in den letzten Jahren bereits begonnen, der Gesellschaft in vielerlei Hinsicht ihren Stempel aufzudrücken. Einige von ihnen arbeiten als Lehrerinnen und Dozentinnen – und dies nicht nur in anderen islamischen Ausbildungsstätten, sondern auch an weltlichen Schulen und Hochschulen.
Weiterhin finden sich unter den Wafiyyas auch Schriftstellerinnen, Rednerinnen sowie aktive Sozialarbeiterinnen, die Workshops leiten und vor einem weiblichen Publikum Vorträge halten. In der islamischen Geschichte gibt es eine lebendige Tradition, in der Frauen dazu ermutigt werden, religiöse Studien zu reflektieren und sich als Gelehrte zu beweisen. Durch die neue Initiative wird diese Tradition in die heutige Zeit übertragen und wiederbelebt.
Die "gläserne Decke" durchbrechen
Die islamische Lehre war nie eine Bastion des männlichen Chauvinismus. Schon in der Zeit des Propheten Mohammed wurde die sprichwörtliche „gläserne Decke“ immer wieder von begabten weiblichen Gelehrten durchbrochen, die die verschiedenen Disziplinen der traditionellen islamischen Wissenschaften meisterten und bei der Übermittlung und Verbreitung prophetischer Traditionen und anderer Wissensquellen eine Vorreiterrolle spielten.
Im ersten islamischen Jahrhundert wurde das aufkeimende akademische Firmament von einer ganzen Bandbreite hochqualifizierter weiblicher Gelehrter erhellt. Zu diesen gehörten auch die Frauen und Begleiterinnen des Propheten selbst. Auf der Grundlage ihres unermüdlichen Forschungsdrangs und fundierten Urteilsvermögens konnte in den darauffolgenden Jahrhunderten ein großer Teil des islamischen Gebäudes errichtet werden. Diese Frauen trugen erheblich zur Kanonisierung des Korans bei und dienten als Übermittlerinnen der prophetischen Traditionen (Hadith). Dabei genossen sie eine hohe Reputation und wurden sogar von sehr erfahrenen Kollegen um ihre Meinung zu bestimmten religiösen Sachverhalten gebeten.
An oberster Stelle dieser Überfliegerinnen stand Aisha, die Frau des Propheten, die eine Gelehrte von außergewöhnlichem Format war und eine der am höchsten geschätzten Intellektuellen ihrer Zeit. Weitere berühmte Frauen waren Hafsah, Umm Habeebah, Umm Salama und viele andere, die ihr reiches Wissen bereitwillig teilten und so entscheidend zur Verbreitung der Hadith-Literatur beitrugen. Umm Waraqah wurde vom Propheten zur Imamin über ihren Haushalt ernannt. Darüber hinaus war sie auch eine Frau, die die verbindliche Anordnung des Kalifen Umar über die Mitgift korrigierte.
Doch damit nicht genug: Der Verdienst für die Gründung der ersten weltweiten Hochschule, die Bildungsabschlüsse verlieh, ging an Fatima al-Fihri, die im Jahr 859 im marokkanischen Fes die Universität al-Qarawīyīn ins Leben gerufen hatte.
Verknöcherte Traditionen in Frage stellen
Dieses reiche Erbe wurde in den nachfolgenden Jahrhunderten allerdings immer wieder durch patriarchale Hindernisse blockiert und verschleiert. Frauen wurde häufig der Zugang zu islamischer Bildung verwehrt. Und obgleich auch die letzten Jahrhunderte einige bemerkenswerte weibliche islamische Gelehrte hervorbrachten, ging die Anzahl der Frauen, die in der Lehre dieser Religion eine aktive Rolle spielen, drastisch zurück.
Faizy wiederholt immer wieder, dass die Hochschulen unter der Schirmherrschaft der CIC versuchen, diese Lücke zu füllen und Frauen dabei zu helfen, ihre eigene Welt zu schaffen. Seine Vision für diese Art von Lehrinstituten besteht darin, Frauen zu helfen, eine authentische weibliche Welt zu formen. Durch den sehr weitreichenden Lehrplan wird ein Umfeld geschaffen, das sie dabei unterstützt, ihre kreative Denkfähigkeit, ihr künstlerisches Talent, ihre Persönlichkeitsstruktur, ihre Sozial- und Führungsfähigkeiten, ihre körperliche Aktivität und viele andere Dinge zu entwickeln.
Faizy behauptet, es gebe keinen besseren Weg, das Potenzial muslimischer Frauen zu entwickeln, als sie auszubilden und ihnen Zugang zu allen wissenschaftlichen Disziplinen zu gewähren. Dazu gehört auch die islamische Theologie, in der die Frauen bereits im ersten islamischen Jahrhundert ihre Fähigkeiten bewiesen haben.
Muhammed Nafih
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