Frisst die Revolution ihre Kinder?

Die arabische Welt ist nicht mehr die gleiche, die sie noch vor kurzer Zeit war. Die Rebellionen auch nicht. An vielen Orten ist die anfängliche Revolutionseuphorie der Sorge vor der Zukunft gewichen. Stephanie Doetzer zeichnet ein Stimmungsbild der letzten Monate.

Von Stephanie Doetzer

Kein Zweifel: Die Stimmung war schon mal besser. Neun Monate nach dem Beginn der arabischen Rebellionen ist bei vielen die Luft draußen. Es gibt die jungen motivierten Internetaktivisten, die noch immer den Beginn einer neuen Ära beschwören. Es gibt die ewigen Optimisten, die behaupten, dass es schlimmer als vorher sicher nicht kommen könne.

Aber vor allem gibt es eine weitgehend schweigende Mehrheit, die ihre Ruhe haben möchte – und bezahlbare Grundnahrungsmittel.

Wie greifbar der Traum von einer besseren Zukunft wirkt, oder wie konkret die Angst vor Chaos oder Bürgerkrieg, hängt oft vom einzelnen Gesprächspartner ab. Und ganz sicher auch vom Land: Tunesien ist nicht Ägypten ist nicht Jemen ist nicht Syrien. Und ist schon gleich gar nicht Libyen und erst recht nicht Bahrain.

Es werden noch immer fieberhaft Videos hochgeladen und Pläne geschmiedet, aber immer deutlicher zeichnet sich ab: Die Phase der schnellen Erfolge ist vorbei. Jetzt ist die Zeit der zähen Machtkämpfe, der Realpolitik, der ausländischen Einmischung, der zweifelhaften Allianzen.

"Außenstehenden gegenüber kann ich sagen, dass ich die Situation in meinem Land und auch anderswo in der arabischen Welt für eine Katastrophe halte. Dass ich finde, dass die Demonstranten nach Hause gehen sollen. Aber wenn ich mit Arabern zusammensitze, dann halte ich meinen Mund – wenn man öffentlich sagt, dass man nicht an die Revolutionen glaubt, dann denken alle sofort, man unterstützt die Regierung", sagt mir ein Syrer in Beirut.

Revolutionskritik ist unbeliebt

Tatsächlich: Mit nichts kann man sich in der arabischen Welt in diesem Jahr so unbeliebt machen wie mit Revolutionskritik. Doch langsam werden die skeptischen Stimmen lauter.

Demonstration von Salafisten in Kairo; Foto: AP
Rückkehr der ideologischen Fronten: Zwischen Säkularen und Religiösen, zwischen Sufis und Salafis tauchen jene ideologischen Grenzen wieder auf, die Anfang des Jahres für kurze Zeit in den Hintergrund gerückt schienen.

​​Was in Tunesien und Ägypten eine Zeit lang möglich schien, ist derzeit nur eine romantische Idee, die der Realität nicht standhält: Einheit über ideologische und religiöse Grenzen hinweg, Einheit zwischen den alten Oppositionellen, die kaum mehr gewagt hätten, vom Umsturz zu träumen, und jenen jungen Kosmopoliten, die auf Facebook und Twitter eine neue Zeit feierten.

Doch im Rückblick ist klar: Es war der gemeinsame Feind, der die Einheit ermöglicht hat – sie gründete sich auf einer Gegnerschaft, nicht auf einer gemeinsamen Vision für die Zukunft.

Genau jene ideologischen Grenzen, die Anfang des Jahres für kurze Zeit in den Hintergrund gerückt schienen, tauchen derzeit mit aller Wucht wieder auf: Zwischen Säkularen und Religiösen, zwischen Sufis und Salafis, zwischen Anarchisten und Konservativen, und, ganz besonders, auch innerhalb der Islamisten.

Die vielleicht größte Kluft aber scheint jene zu sein zwischen Arabern, die in der Freiheit die Freiheit von der Religion sehen – und Arabern die in der Freiheit die Möglichkeit sehen, ihre Religion so zu leben, wie sie es möchten.

In einer syrischen Flüchtlingsunterkunft im Nordlibanon sagt mir ein Demonstrant aus Tel Khalakh: "Ich will frei sein, Muslim zu sein." Und Demokratie, meint er, sei die Herrschaft der Mehrheit und die sei sunnitisch.

Wer hat die Deutungshoheit?

"Von was für einer Freiheit reden die?", fragt mich nur wenige Stunde später ein Syrer aus Damaskus, diesmal aus einer christlichen Familie. "Die gleichen Leute, die auf die Straße gehen und Slogans über Freiheit skandieren – sie würden niemals ihre Tochter heiraten lassen, wen sie will. Und niemals ihrem Sohn erlauben, die Religion zu wechseln. Was meinen sie mit Freiheit?"

Zeitgleich wird in Ägypten gestritten, ob ein "ziviler Staat" nun ein säkularer Staat sei oder einer mit "islamischem Referenzrahmen" oder einfach eine Regierung, die eben keine Militärregierung sei. Die Antworten darauf sind so unterschiedlich wie die Definitionen von Freiheit.

Auf dem Tahrir-Platz nach dem Sturz Mubaraks: Welcome to Freedom
Beginn einer neuen Ära oder doch nur ein kurzer Frühling der Freiheit? In Ägypten und Tunesien mehren sich mittlerweile die Befürchtungen, dass der demokratische Umbruch nach dem Ende der Diktaturen ins Stocken geraten und wieder rückgängig gemacht werden könnte.

​​Die traditionellen islamistischen Parteien haben weder gedanklich noch organisatorisch viel zu den Umstürzen beigetragen. Dennoch sehen sie ihre Zeit gekommen. Eins schließlich können sie für sich geltend machen: Der Islamismus ist die einzige Ideologie, die sich in der arabischen Welt noch nicht diskreditiert hat – schlicht, weil sie nie die ernsthafte Chance hatte, sich unter Beweis stellen zu müssen.

Inmitten jener von gegenseitigem Misstrauen geprägten Debatten, fallen andere Themen oft unter den Tisch. Dabei wäre es an der Zeit, langsam nicht mehr nur über Facebook und Twitter zu philosophieren, sondern auch die wirklich unangenehmen Fragen zu stellen.

Unangenehme Fragen

Keine arabische Diktatur hätte jahrzehntelang überleben können, wenn nicht ein überwältigend großer Teil der Gesellschaft das Spiel der Diktatur mitgespielt hätte. Wie aber verändert man Gesellschaften, in denen das Mitmachen gegen besseres Wissen so weit verbreitet ist, dass es gar nicht mehr auffällt?

Und wie geht man um mit einer Opposition, wenn diese genauso uneingeschränkte Loyalität fordert, wie das Regime vor ihr? Wie bleibt man in all dem Chaos wach genug, um den Moment zu erkennen, in dem die Revolution ihre eigenen Kinder frisst?

Mohamed Yahia, einer der jungen ägyptischen Revolutionäre aus Kairo, der noch heute von der Stimmung auf dem Tahrir-Platz schwärmt, sagte mir vor ein paar Tagen: "Es ist alles viel schwieriger, als wir uns das vorgestellt hatten. Momentan ist es ein Desaster. Aber irgendwie bin ich immer noch optimistisch."

Woher er seinen Optimismus nimmt? "Aus der Revolution selbst. Es war so unglaublich, dass ich seitdem denke: Wenn das möglich war, dann ist alles möglich."

Momentan aber sieht es so aus, als ob zwar noch einige Optionen offen sind. Aber auch, als ob die wirklichen Entscheidungen längst woanders getroffen werden als auf der Straße.

Stephanie Doetzer

© Goethe.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de