Die radikale Saat der Boko Haram
Sie sind hervorragend organisiert, professionell ausgerüstet und nehmen keine Rücksicht auf Menschenleben: Boko Haram überzieht Nigeria mit einem Ausmaß tödlicher Gewalt, wie es Afrikas bevölkerungsreichste Nation seit Jahrzehnten nicht erlebt hat. Einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zufolge hat die radikal-islamische Bewegung zwischen 2009 und Ende Januar 2012 mindestens 935 Menschenleben auf dem Gewissen - mehr als ein Viertel davon, 250, alleine im Januar 2012.
Auf das Konto von Boko Haram gehen die koordinierten Anschläge auf Polizei, Geheimdienst und Ausländerbehörde in Kano, die zeitgleichen Attentate auf mehrere Kirchen an Weihnachten 2011, der Anschlag auf das UN-Hauptquartier in Abuja Ende August 2011 und die international weitgehend unbeachtete Terrorkampagne in Maiduguri im Nordosten Nigerias und den umliegenden Bundesstaaten, die seit Jahren anhält.
Wer ist Boko Haram?
Die Terrorbewegung hat ihren Ursprung in einer tief verwurzelten Abneigung gegen westlichen Einfluss und 'Umerziehung', die bis zur Kolonisierung des traditionsreichen Sokoto-Kalifats Anfang des 20. Jahrhunderts zurück reicht. Bis heute senden viele Bewohner der Region ihre Kinder nicht auf staatliche Schulen, weil sie sie für traditionsfeindlich halten - und sie weigern sich etwa, Kinder gegen Polio impfen zu lassen, weil sie hinter der Impfkampagne eine westliche Verschwörung vermuten.
Davon beeinflusst, gründete der Imam Mohammed Yusuf 2002 'Boko Haram', eine religiöse Bewegung, auf deren Grundstück unter anderem eine Moschee und eine Schule errichtet wurden. Obwohl die Sekte zunächst nicht auffällig wurde, verfolgte Yusuf von Anfang an ein Ziel: die Errichtung eines Gottesstaats. Ehemalige Schüler berichten, die Schüler seien von vornherein zu Dschihadisten ausgebildet worden. Viele Eltern, vor allem mittellose, meldeten ihre Schüler an der Boko-Haram-Schule an - wegen der genannten Ressentiments, aber auch, weil sie sich die staatliche Schule für ihre Kinder nicht leisten konnten.
Aus dem Untergrund wagte die schnell wachsende Bewegung sich erstmals 2009, als ihre Mitglieder Polizeistationen stürmten. Hunderte kamen ums Leben, Armee und Polizei holten zum Gegenschlag aus. Hunderte mutmaßliche Mitglieder wurden verhaftet, unter ihnen auch Mohammed Yusuf, der kurze Zeit nach der Festnahme unter ungeklärten Umständen starb. Nicht nur Boko-Haram-Mitglieder glauben, dass er von der Polizei hingerichtet wurde.
Die Regierung hoffte offenbar, die Sekte damit besiegt zu haben. Stattdessen formierte sie sich im Untergrund neu - mit tatkräftiger Unterstützung des Terrornetzwerks Al-Qaida. Nigerianische Geheimdienstakten, die das "Wall Street Journal" veröffentlichte, belegen, dass Boko-Haram-Kämpfer 2007 in afghanischen Terrorcamps ausgebildet wurden. Sogar im Gründungsjahr 2002 sollen Boko-Haram-Kämpfer bereits in Mauretanien und später in Algerien trainiert worden sein.
Algerische Salafisten, die sich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zur 'Al-Qaida im islamischen Maghreb' umbenannten, hätten den Nigerianern Kampftaktiken und den Bau von Sprengsätzen beigebracht.
Der Name 'Boko Haram' ist der Haussa-Sprache entlehnt. Übersetzt bedeutet er etwa 'Alles Westliche (oder: Westliche Bildung) ist Sünde'. Die von Yusuf gegründete Bewegung hat indes auch einen offiziellen Namen: 'Sunnitische Bruderschaft in Ausführung des Heiligen Krieges' - ein Bekenntnis zu den wahren Zielen der Dschihadisten.
Ein Staat wacht auf
Ein Jahr nach dem Tod Mohammed Yusufs landete Boko Haram ihren nächsten Coup. Im September 2010 befreiten die Extremisten hunderte mutmaßliche Unterstützer, die die Polizei 2009 festgenommen hatte, aus dem Gefängnis von Maiduguri. Ende 2010 detonierten Bomben in Jos, der Stadt, in der muslimische und christliche Milizen sich in der Vergangenheit immer wieder Gefechte geliefert hatten. Das Ziel der Terroristen: die Aufstachelung eben dieser gewaltbereiten Gruppen - und damit die Auslösung neuer Gewalt, eines Bürgerkriegs und schließlich der Zusammenbruch des Staates.
Einer, der die Strategie von Boko Haram schon früh durchschaute, ist der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka. Er rief seine Landsleute nach den Anschlägen von Kano im Januar 2012 erneut dazu auf, von Vergeltungsschlägen abzusehen. "Wir dürfen nicht die Agenda von Boko Haram übernehmen", so Soyinka. "Sie wollen erreichen, dass Nachbarn aufeinander losgehen."
So erklärt sich der Anschlag auf Christen an einem ihrer höchsten Feiertage Ende 2011. Und so erklären sich auch die Attentate von Kano. Nicht umsonst kündigte die Organisation 'Ohanaeze Ndigbo' kurz nach den Anschlägen an, die auf drei Millionen geschätzten Angehörigen der Ibo-Ethnie würden in ihre traditionelle Heimat im Südosten des Landes zurückkehren. "Die Ibo fühlen sich als Opfer einer gezielten Terrorkampagne der Boko-Haram-Sekte und haben kein Vertrauen mehr in den Schutz durch Polizei und Armee", sagt der Afrika-Referent der Gesellschaft für bedrohte Völker, Ulrich Delius.
Die Vorgänge erinnern erschreckend an die Geschehnisse Mitte der 1960er Jahre, als Pogrome gegen die Ibo in Kano den Biafrakrieg auslösten.
Zugleich sind die jüngsten Anschläge der Boko Haram aber auch eine gezielte Provokation gegen den nigerianischen Staat. Vor allem sollen die Anschläge wohl beweisen, was Ende 2011 Yusufs Nachfolger Abubakar Shekau an Nigerias Präsidenten gewandt höhnisch ankündigte: "Uns zu besiegen, ist jenseits deiner Fähigkeiten, Jonathan!"
Präsident Goodluck Jonathan, der selbst nach den Anschlägen an Weihnachten 2011 zunächst noch darauf beharrte, Boko Haram werde von selbst wieder verschwinden, hat die Gefahr inzwischen zwar erkannt und zeigt Härte. "Die Verantwortlichen werden den vollen Zorn des Gesetzes zu spüren bekommen. Als verantwortungsvolle Regierung werden wir nicht unsere Hände in den Schoß legen und zusehen, wie diese Feinde der Demokratie in unserem Land nie gesehenes Übel verbreiten."
Doch tatsächlich scheint es fraglich, ob die Sicherheitsbehörden überhaupt noch in der Lage sind, einen Bürgerkrieg im Vielvölkerstaat Nigeria mit seinen mehr als 160 Millionen Einwohnern zu verhindern.
Wer unterstützt Boko Haram?
Der (mehrheitlich muslimische) Norden Nigerias ist das Armenhaus des Landes. Die Arbeitslosigkeit wird auf 40 Prozent geschätzt, doppelt so hoch wie im (überwiegend christlichen) Süden. Besonders schlimm trifft die Arbeitslosigkeit Jugendliche, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Gerade sie lassen sich deshalb leicht radikalisieren.
Die politische Elite im Norden, die Nigeria Jahrzehnte lang regiert hat, sieht tatenlos zu. Und sie schürt die Ressentiments gegen Präsident Jonathan, einen Christen aus dem Niger-Delta, der gewählt wurde, obwohl der inoffizielle Turnus doch einen muslimischen Präsidenten vorsah.
Auch in einer anderen Traditionsbastion, dem Militär, hat der Norden seine Führungsansprüche aufgeben müssen. Die radikale Saat der Boko Haram fällt damit vielerorts auf fruchtbaren Boden. Unterstützung erhalten die Extremisten aber auch von den einflussreichen mafiösen Netzwerken des Landes, die schon jetzt am Anti-Terror-Krieg kräftig mitverdienen. Ein Viertel des nigerianischen Haushalts ist schon jetzt für Militär und Polizei vorgesehen: Milliardensummen, von denen große Teile an korrupte Elemente der nigerianischen Gesellschaft fließen.
Während Jonathans Regierung versucht, den Korruptionssumpf an manchen anderen Stellen trocken zu legen, tun sich für die eng mit der Politik verbandelten 'Paten' neue Geldquellen auf. Damit diese weiter fließen, muss Boko Haram als Bedrohung bestehen bleiben und wird entsprechend unterstützt. Sollte es tatsächlich zum Bürgerkrieg kommen, droht die Situation endgültig außer Kontrolle geraten.
Innerhalb der Armee, wo viele Nordnigerianer über die schwache Führung und den wachsenden Einfluss der Generäle aus dem Süden enttäuscht sind, könnte es zum Putsch kommen. Boko Haram wäre ihrem Ziel, Chaos zu säen und auf den Trümmern des Staates einen Gottesstaat zu errichten, dann einen großen Schritt näher gekommen.
Marc Engelhardt
© Qantara.de 2012
Der langjährige Afrika-Korrespondent Marc Engelhardt lebt als UN-Reporter und Analyst in Genf.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de