Nigerias verfehlter Aufstieg
Sind es 200 Mädchen, die entführt wurden? 276, oder über 300? Sind sie in Kamerun, Tschad oder noch "in den dichten Wäldern Nordostnigerias", wie einige Nachrichtenagenturen mutmaßen? Mit Zahlen und Fakten ist es so eine Sache in Nigeria. Niemand weiß etwas Genaues, und wenn, darf er's nicht sagen.
Der demokratisch gewählte, aber zunehmend entrückte Präsident Goodluck Jonathan steht für eine schleichende Militarisierung seines Landes. Er setzt auf die Armee, um seine Wiederwahl 2015 zu sichern. Kritiker, auch wohlmeinende, werden abgesetzt. Mancher fand sich sogar hinter Gittern wieder. In ganzen Provinzen gilt seit Monaten der Ausnahmezustand, inklusive Ausgangs-, Straßen- und Nachrichtensperren.
6000 Tote in fünf Jahren
So werden längst nicht alle Entführungen der Boko Haram publik. Auch über Anschläge erfährt man selten die ganze Wahrheit. 106 Tote Mitte Februar. Über 40 Ende Februar. 106 im April. Mehr als 200 am Dienstag (06.05.2014). Zahlen, die für enormes Leid stehen, aber kaum jemand überprüfen kann. In der Vergangenheit registrierte die Weltöffentlichkeit sie ohne große Empathie. Bei Pipeline-Explosionen und Fährunglücken gab es in Nigeria ja auch ständig viele Tote, so der zynische Hintergedanke. In weniger als fünf Jahren hat die islamistische Boko Haram-Sekte 6.000 Menschen niedergemetzelt oder in die Luft gejagt. Die Armee reagierte mit Rachefeldzügen, die auch Unbeteiligte trafen und den Konflikt nur verschärften.
Kommissionen wurden gegründet, Berichte geschrieben. Miteinander geredet wurde nicht. Präsident Jonathan hing wohl der Idee an, die Boko Haram militärisch in die Knie zu zwingen. Als starker Mann vor die Wähler zu treten und sich selbstbewusst der Welt zu präsentieren. Nigeria, das wirtschaftlich eine hohe Dynamik zeigt, wollte sich als neue Nummer Eins Afrikas präsentieren. Gerade bestätigen die Daten, dass das 170-Millionen-Einwohner-Land zumindest beim Bruttosozialprodukt das dreimal kleinere Südafrika überholt hat. Dazu passt das regionale Weltwirtschaftsforum in Abuja, das jetzt allerdings statt Glanz und Gloria vor allem Absagen, Kritik und Unsicherheit bringt. Ein Bumerang.
Jonathan am Tiefpunkt seiner Politik
Jonathan hat weder die Begegnung mit den vom Terror betroffenen Menschen gesucht, noch nach Gesprächskanälen zu den Islamisten - etwa über religiöse Würdenträger. Solche Angebote gibt es. Die Massenentführung von 200 oder 300 Schulmädchen in Nigeria ist der erschütternde Tiefpunkt seiner Politik. Und ein erster Aufritt Jonathans im Fernsehen geriet zum PR-Desaster. Er sei glücklich, sagte der Präsident, dass die Mädchen unversehrt seien - "im Sinne von: nicht tot oder verletzt".
Das muss die Mütter, die in Nigerias Hauptstadt Abuja seit Tagen protestieren, nur noch mehr vor den Kopf gestoßen haben. Längst richtet sich ihre Wut nicht mehr nur gegen die Gotteskrieger, die die Mädchen als Sexsklavinnen und Menschenware betrachten. Sie prangern die untätige Regierung an. Dass die Welt dank Internet und sozialer Medien inzwischen großen Anteil daran nimmt, mag sie ermutigen. Selbst der US-Präsident sah sich genötigt, auf den unerwarteten öffentlichen Druck im eigenen Land zu reagieren. Denn auch in den Vereinigten Staaten gehen seit Tagen Nigerianer auf die Straße, um für die Freilassung der Schülerinnen zu protestieren.
Militär- und FBI-Spezialisten sollen nun helfen, die Mädchen zu finden. Man sollte die Ankündigungen allerdings nicht überschätzen: US-Experten suchen auch nach dem Kriegsverbrecher Joseph Kony in den Weiten Zentralafrikas - bisher vergeblich. Aber dass die Welt für einen Moment ihre Gleichgültigkeit ablegt, dass sie Anteil nimmt am Leid nigerianischer Mütter, an den Verfehlungen der Politik in Abuja, dass sie das Aufbegehren der Zivilgesellschaft unterstützt - das ist neu. Und die einzige gute Nachricht für Nigeria.
Claus Stäcker
© Deutsche Welle 2014
Redaktion: Hilke Fischer/DW & Arian Fariborz/Qantara.de