Kriminelle Verflechtungen
Karachi ist groß. Wie groß genau, ist schwer zu sagen, aber Schätzungen gehen gewöhnlich von etwa 24 Millionen Einwohnern aus, was ungefähr der Bevölkerung Australiens entspricht. In jedem Fall groß und kompliziert genug, um seine Geheimnisse auch vor denen zu bewahren, die meinen es gut zu kennen.
Als Omar Shahid Hamid seine Erfahrungen als Polizeioffizier in Karachi, unter anderem in einer Anti-Terror-Einheit, in seinem ersten Roman "Der Gefangene" (The Prisoner) verarbeitete, nahm er kein Blatt vor den Mund: Inmitten von permanenten Einmischungen aus der Politik und den Geheimdiensten und massiver Korruption muss die Truppe es mit schwer bewaffneten Mafiosi und skrupellosen Terroristen aufnehmen. "Der Gefangene" ist eine Art Schlüsselroman, in dem reale Personen und Institutionen mit fiktiven Namen erscheinen.
Hamid stellte fest, dass er auch viele seiner ortskundigen Leser überrascht hatte: "Es war schwer für sie zu verarbeiten, dass so etwas in der Stadt passiert, wo sie seit Jahren leben. Für mich war das interessant – denn diese Leute waren das Gegenteil von naiv und weltfremd!"
Hamid, der den Eindruck eines nachdenklichen Mannes der leisen Töne macht, hat eine ungewöhnliche Karriere hinter sich. Als sein Vater in Karachi ermordet wurde, kam er zum ersten Mal in engeren Kontakt mit der Polizei – und beschloss danach, selber Polizist zu werden, um etwas zu verändern. Nach 13 engagierten Dienstjahren ließ er sich dann beurlauben. "Ich hatte nie geplant, Schriftsteller zu werden", so Hamid. "Es kam eher zufällig dazu. Ich war so frustriert von meinen Erlebnissen in der Polizei, dass ich begann mir Notizen zu machen, um sie zu verarbeiten. Und aus diesen Aufzeichnungen entstand schließlich mein erstes Buch."
"Erst die Ordnung, dann das Recht"
"Frustriert" klingt untertrieben, bedenkt man die Schwierigkeiten, mit denen die Polizisten in "Der Gefangene" zu kämpfen haben. „Manchmal müssen die Gesetzeshüter praktisch Gesetze brechen", wie Hamid es ausdrückt. Nicht, dass er das unterstützen würde, aber was bleibt einem angesichts eines schwachen Staates schon übrig, wenn man auch noch persönlich bedroht wird von militanten Dschihadisten oder politischen Mafiosi? "Ich habe auf jeden Fall Verständnis für die, die da vom Weg abkommen und etwa in außergerichtliche Tötungen verwickelt werden." Trocken zitiert er einen seiner Vorgesetzten in der Polizei: "Zuerst kommt die Ordnung, dann das Recht!"
Omar Shahid Hamids zweites Buch, "The Spinner's Tale" (in etwa: "Die Geschichte des Verdrehers") handelt davon, wie ein Absolvent von Karachis bester Elite-Schule zum Terroristen wird. Viele Leser seien von der Brutalität schockiert gewesen, sagt Hamid. "Aber ich glaube nicht, das ich übertrieben habe."
Verstörend ist besonders, dass man als Leser unwillkürlich beinahe Sympathien für den späteren extremistischen Mörder entwickelt. Hat Hamid seinen Protagonisten vielleicht zu sympathisch dargestellt? "Niemand wird als Monster geboren", verteidigt sich der Autor. "Nur so wirkt eine Figur realistisch, oder? Wenn ich ihn zu einer absolut negativen Figur ohne jede positive Seite gemacht hätte, wie erkläre ich dann seinen Werdegang vom Guten zum Bösen? Darum geht es ja in diesem Buch. Und das ist etwas, was täglich passiert!"
Am überraschendsten an diesem Weg vom Eliteschüler zum Terroristen ist vielleicht, dass er fast nichts mit der Religion zu tun hat. Der Roman fokussiert stattdessen auf psychologische Erklärungen, Erfahrungen im privaten und politischen Leben des Protagonisten, die diesen auf diese Bahn bringen. Das entspricht Omar Shahid Hamids eigenen Erfahrungen mit vielen Fällen, die er als Terror-Fahnder erlebt hat: "Oft spielt die Ideologie eine sehr untergeordnete Rolle. Sie wird als Vehikel benutzt. Viele haben sehr unterschiedliche persönliche Motivationen, die sie dann in ein ideologisches oder religiöses Gewand kleiden."
Chaotische Realität "jenseits aller Vorstellung"
Beim Lesen von Hamids Romanen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die gewöhnlichen Diskussionen über politische Gewalt und Terrorismus in Pakistan grob vereinfachen. Die Realität in einer Mega-Stadt wie Karachi mit all ihren verschiedenen Akteuren ist viel zu kompliziert, als dass ihr die üblichen Politiker-Reden oder Medienberichte gerecht werden könnten. Dabei betont Hamid noch, er habe auch schon gehörig vereinfachen müssen: "Wenn man die ganze chaotische Realität abbilden würde, ginge das für viele Leser wahrscheinlich über ihre Vorstellungskraft!"
Dementsprechend sieht Hamid auch keine schnellen Lösungen für die Probleme, die sich in Pakistan über Jahrzehnte aufgebaut haben. Eine Priorität müsse jedoch sein, die Professionalität und Unabhängigkeit der Staatsorgane zu stärken. "Man muss versuchen, die Institutionen aufzubauen. Die Polizei und die Beamtenschaft müssen entpolitisiert werden und aufhören, willkürlich zu funktionieren."
Omar Shahid Hamids Plan ist immer noch, eines Tages in den aktiven Polizeidienst zurückzukehren. Aber in der Zwischenzeit hat er schon seinen dritten Roman fertiggestellt, der die Verflechtungen zwischen Verbrechen und Politik in Pakistan diesmal aus der Perspektive des politischen Aktivisten beleuchtet. Das Buch soll Anfang 2017 erscheinen.
Thomas Bärthlein
© Qantara.de 2016
"The Prisoner" und "The Spinner's Tale" sind in der englischen Originalausgabe bei Pan Macmillan in Indien erschienen. Der Heidelberger Draupadi-Verlag hat "The Prisoner" in deutschen Übersetzung ("Der Gefangene") herausgebracht.