Kopf-an-Kopf-Rennen um die politische Macht

Zwei Wochen nach der Parlamentswahl warten die Iraker noch immer auf das Endergebnis. Da nichts auf einen klaren Sieger hindeutet, halten sich die Parteien nach wie vor alle Optionen offen, mit welchem Partner sie eine Koalition eingehen wollen. Von Nagih Al-Obaidi

Ministerpräsident al-Maliki und sein Herausforderer Iyad Allawi; Foto: AP/DW/dpa
Nach Auszählung von rund 90 Prozent der Stimmen erhalten al-Malikis Koalition für den Rechtsstaat und das säkulare Bündnis von Iyad Allawi jeweils rund 90 der insgesamt 325 Sitze im Parlament.

​​Es ist ein Wechselbad der Gefühle für Wähler und Gewählte, denn in den ersten Hochrechnungen lag mal die Wahlliste des amtierenden Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki, mal die seines Herausforderers Iyad Allawi vorn.

Und während beide politische Rivalen den Sieg für sich beanspruchen, sparten sie nicht mit Beschuldigungen wegen Wahlbetrugs und Forderungen nach Neuauszählung der Stimmen – nur ein Vorgeschmack dafür, wie verbissen der Kampf um die Macht nach den Wahlen noch verlaufen wird.

Keine eindeutigen Mehrheiten

Lange Zeit hatte al-Maliki-Liste in den Hochrechnungen geführt. Doch dann kam mit Allawi die überraschende Wende. Nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der Stimmen hat der säkulare Politiker mit seiner Irakischen Liste die Nase vorn, aber mit einem hauchdünnen Vorsprung, so dass ein erneuter Führungswechsel durchaus möglich ist.

Da die Wähler sich nicht nur für eine Partei, sondern auch für einen bestimmten Abgeordneten entscheiden konnten, liefern die Ergebnisse auch eine Aussage über die Popularität der Politiker. In der irakischen Hauptstadt, wo al-Maliki als Abgeordneter kandidiert, haben für ihn mehr als eine halbe Million Wähler gestimmt – 200.000 Stimmen mehr als für seinen Rivalen.

Die Anhänger al-Malikis sehen darin ein Votum für ihn als Premier. Sein wichtiger Vorteil ist, dass er in seiner Liste unangefochten die Nummer Eins ist, wohingegen andere Kandidaten, darunter auch Allawi, Schwierigkeiten haben könnten, ihre Verbündete bei Laune zu halten. Laut Verfassung muss jedoch der Präsident den Vorsitzenden der stärksten Fraktion mit der Regierungsbildung beauftragen. Schätzungen zufolge können die beiden führenden Allianzen mit etwa 90 der 325 Parlamentssitze rechnen.

Da die Sitzverteilung nicht nur vom Gesamtausgang, sondern auch von den Ergebnissen der einzelnen Provinzen abhängt, haben die beiden durchaus Chancen, einen Vorsprung von wenigen Sitzen zu erzielen.

Als dritte Kraft hat die überwiegend schiitische Irakisch-Nationale Allianz rund 67 Sitze, gefolgt von der kurdischen Allianz mit 38 bis 40 Sitzen. 15 Sitze sind für nationale Minderheiten und Überhangmandate reserviert, so dass der Rest auf die kleineren Parteien entfällt. Die "Vier Großen" werden wohl die künftige Regierung stellen.

Taktische Manöver

Wahlposter der Allawi-Liste; Foto: AP
Abgleiten in die politische Bedeutungslosigkeit? Vor allem die Allawi-Liste und kleinere Fraktionen fürchten, dass sie möglicherweise in die Opposition gedrängt und aufs Abstellgleis gestellt werden.

​​ Derzeit laufen die Sondierungsgespräche auf Hochtouren. Auffallend ist, dass sich die Parteien alle Tore offen halten und keine potenziellen Kollationspartner ausschließen. Rein rechnerisch sind viele Koalitionsvarianten möglich. Eine große Koalition zwischen al-Maliki und Allawi scheint momentan eher unwahrscheinlich, weil sich beide im Wahlkampf nicht verschont haben. Und es hieße hier, eines der beiden "Alpha-Tiere" müsste den ersten Platz räumen.

Das Rotationsprinzip könnte hier einen Ausweg bieten. Eine mögliche Option ist, dass al-Maliki sich mit seinen alten Verbündeten in der Irakisch-Nationalen Allianz wieder versöhnt und zusammen mit den Kurden die neue Regierung bildet. Doch ob man ihm dabei den Premierposten gönnt, ist sehr fraglich.

Insbesondere steht die Fraktion des radikalen schiitischen Predigers Muktada al-Sadr der Norminierung von al-Maliki feindlich gegenüber. Eine weitere Variante ist wie die frühere, aber mit dem Unterschied, dass Allawi die Stelle von al-Maliki einnimmt. Hierbei deutet einiges darauf hin, dass den Kurden wieder die Rolle des Königsmachers zufällt. Kein Wunder, dass sich viele Politiker in Kurdistan die Klinke in die Hand geben. Neben den beiden Favoriten für das Amt des Ministerpräsidenten lauern andere im Hintergrund und hoffen, als "lachende Dritte" hervorzugehen.

Einheitsregierung als zweischneidiges Schwert

Vertreter vieler Parteien liebäugeln auch mit der Bildung einer breiten Koalition, wo praktisch alle im Parlament vertretenen Kräfte entsprechend vertreten sind und so ein eigenes Stück vom Kuchen erhaschen können.

Dahinter steckt nicht nur das Kalkül, dass keiner freiwillig in die Opposition gehen und damit auf Posten, Einfluss und Privilegien verzichten will. Beobachter warnen auch, dass der Ausschluss bestimmter Kräfte, den konfessionellen Spannungen im Land einen neuen Auftrieb geben und ernste Gefahren heraufbeschwören würde.

Vor allem Allawi-Liste und kleinere Fraktionen fürchten, dass sie möglicherweise in die Opposition gedrängt und aufs Abstellgleis gestellt werden. Deshalb werden Stimmen lauter, die nach einer Einheitsregierung rufen. Andere meinen aber, dass solch eine Regierung einen Rückschlag für die junge irakische Demokratie darstellen würde.

Sie bedeute faule Kompromisse und die Zementierung des ethnischen und konfessionellen Proporzes, was wiederum die Bildung einer handlungsfähigen Regierung behindere. Doch auch ohne eine starke Opposition droht das demokratische Leben zu verkümmern. Vor allem al-Maliki kritisierte die Konsensdemokratie und setzt sich für die Bildung einer Mehrheitsregierung ein, bei der der Premier seine verfassungsmäßigen Befugnisse voll ausüben kann.

Gefahr eines politischen Vakuums

Irakerin bei ihrer Stimmabgabe; Foto: AP
Angesichts des knappen Abschneidens der Listen schießen derzeit Spekulationen über angebliche Betrügereien und Manipulationen bei der Stimmenauszählung ins Kraut.

​​ Bis die Wahlergebnisse endgültig feststehen und mögliche Anfechtungen der Resultate restlos aufgeklärt sind, wird wohl noch einige Zeit vergehen. Dies gilt auch für die Bildung einer neuen Regierung. Von zähen und langwierigen Koalitionsverhandlungen ist in jedem Fall auszugehen. Und das in einer Zeit, in der die US-Amerikaner ihre Truppenstärke von derzeit 100.000 Man auf die Hälfte reduzieren wollen. Andererseits gibt es im Zweistromland genügend Probleme, deren Lösung eine handlungsfähige Regierung erfordert. Vielleicht erhöht sich dadurch aber auch der Druck auf Iraks Politiker, Konflikte beizulegen und Kompromisse zu finden.

Wie auch immer der nächste Ministerpräsident im Irak heißen mag, das Kopf-an-Kopf-Rennen bei dieser Abstimmung hatte in jedem Fall Seltenheitswert in einer Region, in dem der Sieger der "Wahlen" normalweise von vornherein fest steht – manchmal selbst mit 99,9 Prozent der Stimmen. Ob dies ein Grund für Optimismus ist, wird in erster Linie vom Verhalten der politischen Akteure im Irak abhängen.

Nagih Al-Obaidi

© Qantara.de 2010

Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler Nagih Al-Obaidi ist gebürtiger Iraker und schreibt regelmäßig für zahlreiche arabische Zeitungen mit dem Schwerpunkt Wirtschaft und Reformen im Irak.

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