Afghanistans Verlust kultureller Tradition

In Kabul ist der Weg eines Buches zum Leser so verschlungen wie die Gänge in Kafkas Roman "Das Schloss". Christoph Burgmer berichtet über die bürokratischen Hindernisse für Verleger und Buchhändler im heutigen Afghanistan.

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Viele Bücher, keine Leser und die Korruption - Bücherverkaufsstand in Kabul

​​Mitten im shahr-e nou Viertel, der "Neustadt", liegt der Charahi Sedarat. Das Besondere des Kabuler Platzes ist das zweistöckige Gebäude an seinem südlichen Ende. Es ist ein unscheinbares, verblichen wirkendes Haus, auch wenn es mit einer weithin sichtbaren gelb verkachelten Vorderfront versehen ist.

"SHAH M BOOK CO." steht in verblassten Lettern auf der Häuserwand. Das Schaufenster des Buchladens ist immer noch zugeklebt wie zu Zeiten der Taliban. Es gibt keinerlei Buchauslagen. Auch die Eingangstüre aus Glas lässt den freien Blick ins Innere nicht zu.

Mohammad Schah ist der Besitzer des Buchladens. Er ist westlich gekleidet. Wir trinken einfachen grünen Tee aus Henkeltassen, die aus chinesischem Industrieglas gefertigt sind. Mohammed Schah sitzt im Schneidersitz auf dem kleinen iranischen Gebetsteppich. Mit dem Rücken lehnt er entspannt am Bücherregal.

Verblichener Glanz der frühen Jahre

Seit den Zeiten des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Öffnung Afghanistans in den 70er Jahren hat der Buchhändler sein Geschäft niemals über einen längeren Zeitraum geschlossen.

Hier konnte man zu allen Zeiten Bücher finden. Ob Literatur oder Sachbuch, Touristen- oder Museumsführer, ob Kinderbuch oder Lehrbuch, der Buchhändler bestand vom ersten Tag als Buchhändler auf ein möglichst breites Angebot.

Heute sind 100 verkaufte Exemplare, wie die Memoiren eines Vizeministers, schon ein kleiner Bestseller. Der Buchladen wirkt eng.

Der Eindruck wird dadurch verstärkt, dass alle Wände mit Regalen zugestellt sind und der schlauchartige Eingangsbereich schon nach wenigen Metern in einen fensterlosen, rechteckigen Raum mündet. In dessen Mitte finden sich einfache Tische, auf denen Fachliteratur für Elektronik und Computertechnik sowie Persisch-Englische Lehrbücher ausgelegt sind.

Aber der Buchladen ist mehr als nur ein einfacher Verkaufsraum. Er ist Privatarchiv, Lebens-, Aufenthalts- und Arbeitsraum in einem. Mit wenigen Schritten gelangt man in einen weiteren Raum, eine Art Zwischenlager, der nicht größer als eine fensterlose Abstellkammer ist.

Hier türmen sich mannshoch auf einem einfachen Holztisch ungeordnet Bücher aus vergangen Jahrzehnten in Russisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Persisch, Dari, Pashtu, Hazara, Usbekisch und zahlreichen weiteren Sprachen auf.

Krieg als Verlust kultureller Tradition

Der Buchladen ist vor allem ein Ort, an dem das Wissen um eine jahrhundertealte persisch geprägte Gelehrtenkultur gepflegt wird. Es ist ein "andaruni", ein "Innen", abgeschirmt und geschützt vor dem gefährlichen "Außen", dem "biruni". Hier, im "andaruni", erzählt man die Geschichte vom langen afghanischen Krieg als Verlust einer kulturellen Tradition.

"Die Afghanen sind von ihren Erinnerungen abgeschnitten, ihr kollektives Gedächtnis ist ausgelöscht worden." Mohammad Schah spricht ohne Angst. Er ist einer von jenen, die sich nicht von den Machtinteressen der heutigen Herrscher manipulieren lassen. Ihr Geschichtsbild ist nicht seines.

"Auch die neuen Machthaber schicken zum spionieren wieder Geheimdienstler in meinen Buchladen." Mohammed Schah berichtet auch von alltäglichen Problemen. So hat er während der diesjährigen Buchmesse in Bombay englischsprachige Kinderbücher gekauft. Sie können jedoch den Zoll nicht passieren und liegen seit drei Wochen am Kabuler Flughafen.

Der 21-jährige Sohn des Buchhändlers, Iraj Schah, kommt gerade vom Bildungsministerium zurück. "Alle Bücher, die aus dem Ausland kommen, muss man nicht nur dem Zoll, sondern auch dem Bildungsministerium vorlegen. Können Sie sich vorstellen, dass die afghanische Bürokratie die Einfuhr von Kinderbüchern mit dem Argument verhindert, sie seien zu gefährlich für die Kinder."

Sein Vater steht auf und zeigt mir die Zollpapiere. Tatsächlich handelt es sich nur um einige Kisten englischsprachiger Kinderbücher.

Viele Bücher, keine Leser und die Korruption

"Die Argumente sind vorgeschoben. Denn jeder in der Bürokratie möchte mitverdienen und fragt einen nach Geld. Das ist ein ausgeklügelter Diebstahl. Ein Zöllner erklärte mir, da es Bücher seien, müsse ich eine Einfuhrgenehmigung vom Bildungs- und Kulturministerium haben."

"Also öffneten wir die Kisten am Flughafen, denn ich sollte im Ministerium jeweils ein Buch vorlegen. Aber der Zöllner bediente sich zuerst. Er fand die Bücher sehr schön und versicherte mir, dass sie seinen Kindern bestimmt gefallen würden."

Der Weg eines Buches zum Leser ist in Kabul so verschlungen wie die Gänge in Kafkas Roman 'Das Schloss'. "Dann fuhr ich zum Ministerium. Aber dort war niemand. Als ich am folgenden Tag wiederkam, fand ich einige junge Angestellte angeregt miteinander lachen, telefonieren und plaudern.

"Sie forderten mich auf, die Bücher dort zu lassen. Ich solle morgen oder vielleicht übermorgen noch einmal wieder kommen. Jetzt gehe ich seit drei Wochen jeden Tag dorthin. Am Ende kosten die Bücher den doppelten Einkaufspreis."

Mohammad Schah hat eine eigene Strategie entwickelt, sich gegen diese und ähnliche Schikanen zur Wehr zu setzen. Er hat ein eigenes Preissystem eingeführt.

Ausländer zahlen grundsätzlich den höchsten Preis. Auch Afghanen, von denen der Buchhändler meint, dass sie reich seien, müssen mehr bezahlen. Damit sorgen sie dafür, dass der Buchladen weiter existieren kann.

"Afghanen, die lesen wollen, die sich bilden wollen, muss man doch unterstützen, da ist mir jedes Mittel Recht", sagt Mohammed Schah, "denn Bildung ist doch unsere einzige Hoffnung auf eine bessere Zukunft."

Christoph Burgmer

© Qantara.de 2004