Vom Sowjet-Realisten zum kritischen Moralisten
Er schreibt russisch und kirgisisch und ist einer der bekanntesten Vertreter der Gegenwartsliteratur Zentralasiens: Tschingis Aitmatow. Der Weltliterat ist 75 Jahre alt geworden. Uli Rothfuss über Leben und Werk des renommierten Schriftstellers.
Bereits Ende der fünfziger Jahre wurde er mit seiner Novelle "Dshamilja" weltbekannt - Mentor war der französische Dichter Louis Aragon, der die Novelle im Jahr 1959 ins Französische übersetzte und über sie schrieb: "Dshamilja ist die schönste Liebesgeschichte der Welt". Seither verbreitete sich das literarische Werk von Tschingis Aitmatow über die ganze Erde wie bei kaum einem anderen zeitgenössischen Schriftsteller.
Gut 40 Jahre nach dem großen Erfolg von Dshamilja sind heute über 20 Romane und Erzählungen allein auf dem deutschsprachigen Buchmarkt verfügbar, ungefähr fünf liegen auf Arabisch vor. Und Tschingis Aitmatow, lange Jahre auch politischer Botschafter der kirgisischen Republik für die Beneluxstaaten in Brüssel, erfährt bei öffentlichen Auftritten eine für einen heutigen Schriftsteller ausnehmend große Resonanz.
Literarische Antworten auf persönliche Lebensfragen
Seine bekannten Bücher, wie "Der erste Lehrer", entstanden Anfang der 60er Jahre. Sie sind vor allem deshalb interessant, weil hier ein sowjetischer Schriftsteller ganz subtil die Abwendung vom Stalinismus und das Bekenntnis zu notwendigen politischen Reformen literarisch schildert.
Auch bei "Abschied von Gülsary", "Der Weg des Schnitters" oder "Ein Tag länger als das Leben" bis hin zum jüngsten Buch "Kindheit in Kirgisien" findet der Leser immer wieder eine moralisch-ethische Kompetenz, die über ein individuelles Bekenntnis hinausgeht und ihm Orientierung bei seiner eigenen Suche nach Werten bietet.
Immer wieder können die Werke Tschingis Aitmatows als Modelle für Antworten auf die eigenen Lebensfragen und -entscheidungen gelesen werden - und zwar ganz unabhängig von der Umgebung, von der Atmosphäre, in der diese Romane spielen und in denen sie gelesen werden.
Aitmatows Geschichten spielen fast ausschließlich in seiner Kinder- und Jugendheimat Kirgisien. Hier erlebte er das, was er später als "Symbole für die Welt" schlechthin aufgriff. Und diese Symbole werden sehr wohl verstanden - von Lesern aus Kulturkreisen, die sich über die ganze Erde hinweg verteilen: Aitmatows Werke sind heute in über 90 Sprachen der Welt übersetzt.
Aitmatows Leben in Kirgisien – eine wechselvolle Geschichte
Geboren wurde Tschingis Aitmatow im Dezember 1928, noch zu einer Zeit, als das Nomadentum in Kirgisien gerade zwangskollektiviert wurde, als die Nomaden von den Sowjets sesshaft gemacht wurden. Er hat diese traditionelle Lebensart der Kirgisen, das Nomadentum, noch erlebt - und ihm wurde viel von diesem Leben erzählt.
Seine Großmutter, berichtet er, wurde ihm zu einer der großen Lehrmeisterinnen der Geschichte des eigenen Volkes wie auch der Erzählkunst. Sein Vater, überzeugter Kommunist, wurde nach einem kurz andauernden, rasanten Aufstieg des Sowjetsystems schließlich Opfer des stalinistischen Terrors und ermordet.
Tschingis Aitmatow kehrte mit seiner Mutter von Moskau nach Kirgisien zurück und trug den Makel, Sohn eines Repressionsopfers zu sein. Trotzdem erkämpfte die Familie ihm - und er sich selbst - die Grundlagen der Bildung. Mitten im Zweiten Weltkrieg war er unter anderem dafür zuständig, den Witwen und Familien der Kriegsopfer die Todesnachrichten zu überbringen, weil er lesen und schreiben konnte. Als 14jähriger Junge hat er bereits alles erlebt, was das Leben an Härte mit sich bringen kann.
Später war er für die Steuereintreibung zuständig und lernte dadurch nicht nur die Weite seines Landes, sondern auch die Verhältnisse der kirgisischen Bauern kennen. Er studierte Viehzucht und schloss sein Studium als "Veterinärtechniker" ab. Und er schrieb. Er veröffentlichte in Zeitschriften, wurde zum Literaturstudium am legendären Gorki-Institut in Moskau zugelassen und verfasste mit "Dshamilja" eine Novelle, die Weltruhm erlangte. Er verband Themen Zentralasiens, orientalisch gefärbte Erzählweisen, mit russischer Literaturtradition und wurde damit berühmt.
Die Zeit des politischen und literarischen Wandels
Tschingis Aitmatow entwickelte sich vom "optimistischen Spätleninisten", wie sein Biograph Boris Chlebnikov schreibt, über den Reformkommunisten und Berater Gorbatschows zu einem Wertkonservativen. Als Schriftsteller wurde er in der gesamten Sowjetunion als Hoffnungsträger angesehen - als Lichtblick in den dunklen Jahren der Breshnew-Zeit - und als einer der wenigen, der im Geiste Grenzen überschritt.
Immer wandelte Tschingis Aitmatow mit seiner Literatur auf dem schmalen Grat der von der sowjetischen Literaturkontrolle Geduldeten. Für die Leser der aus vielen Nationalitäten bestehenden Sowjetunion aber galt er als Schriftsteller, der die Grundzüge der Menschlichkeit und des politischen Anstandes gestaltet.
Als Sozialist den Menschen verpflichtet
Der frühere Sozialist, durchaus treu den künstlerischen Prinzipien des sozialistischen Realismus, wandelte sich zu einem ökologische Verantwortung empfindenden Moralisten. "Ich wollte, dass der Leser darüber nachdenkt, was genau über dem Menschengeschlecht steht, dass wir Menschen sind und würdig für die Fortsetzung des Lebens auf der Erde kämpfen müssen." sagte Aitmatow einmal. Ihn führte der Weg schließlich weg von der Partei und hin zur Suche nach gültigen sittlichen Werten, zu "Menschheitsfragen".
Aitmatow war einer der engen Berater Gorbatschows im Zuge von Perestroika und Glasnost. Etwa einen Monat vor der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär veröffentlichte Aitmatov im Parteiorgan "Prawda" einen Artikel mit dem Titel "Vernunft in der atomaren Belagerung".
Darin forderte Aitmatow den völligen Verzicht auf Atomwaffen, er beschwor "die Geburt eines neuen menschlichen Geistes, einer neuen historischen Ethik und Moral, eines neuen weltweiten Humanismus, dessen Prinzip lautet: Es gilt nicht nur "Du sollst nicht töten", sondern du darfst auch mit Rücksicht auf die allgemeine Sicherheit und die Selbsterhaltung der Generationen nicht in Kategorien des Tötens denken."
Immer hat sich Tschingis Aitmatow für die Rechte der Menschen, vor allem für die Minderheiten sowie für den Erhalt der Natur engagiert. Nicht nur in seinem literarischen Werk, sondern auch in seiner konkreten politischen Arbeit erhebt er immer wieder die Stimme - eine Mahnung des großen Schriftstellers, die ihn als engagierten, politischen Menschen und tiefgründigen Denker erscheinen lässt.
Uli Rothfuss, © Qantara.de 2003
Mehr über Tschingis Aitmatows Romane erfahren Sie auf der Website des Unionsverlags