"Es gibt kein Zurück!"
"Glaubt ihm kein Wort! Die nächste Demo ist am Samstag", brüllt ein junger Mann, der aussieht wie ein Hippie-Derwisch. "Ort und Zeit werden noch unter 'Ghalamnews' bekannt gegeben!"
Aufgrund des Menschenstroms, der schweigend an ihm vorbeizieht, hat der Mann mit dem grünen Stirnband in einer Minute mehrere hundert Zuhörer. Diese kommen von "Toopkhaneh", dem "Kanonenplatz" im Herzen Teherans, der seit der Revolution nach Imam Khomeini benannt ist und auf dem sich kurz zuvor Mirhossein Mussawi zum zweiten Mal seit dem 12. Juni gezeigt hat.
In breiten Reihen von ca. 40 Personen ziehen die Menschen in nördliche Richtung zum Ferdowsi-Platz, wo sie sich nach Westen wenden, um auf den Revolutionsplatz zuzusteuern. Etwa 50 Meter stromabwärts läuft ein 'Desinformator' die Menge ab und wirbt für eine Demonstration am Freitag. "Glaubt ihm nicht! Die nächste Demo ist am Samstag", brüllt daher der Hippie unermüdlich weiter.
Zwischen Desinformation und "stiller Post"
Der Grund, weshalb die Menge ihm und nicht dem 'Desinformator' vertraut, ist das, was Twitter nicht ersetzen kann: Nur dank eigener Erfahrung kann man wissen, ob einer Informationsquelle zu trauen ist – oder auch nur erahnen, dass dieser Flaneur da mit Handy am Gürtel und gefalteter Zeitung unter dem Arm ein Basij ist, der alles wachsam registriert:
Er beobachtet dich, den improvisierten Altar, an dem Passanten brennende Kerzen an einer Wand befestigen, die gesprayten Schriftzüge "Marg bar Diktator" ("Tod dem Diktator!"), die Partizipation von Menschen aller Bevölkerungsschichten, die der Toten vom vergangenen Montag gedenken wollen, die Wasserverkäufer, die erstmals Plastikflaschen von den Ladeflächen ihrer Kleintransporter verkaufen.
Der Kanonenplatz ist derweil immer noch randvoll. Vereinzelt stehen Soldaten in kleinen Gruppen herum. Demonstranten wünschen ihnen freundlich, sie mögen nicht müde sein – "khaste nabashi!" – und drängen sich furchtlos an ihnen vorbei.
Als ein Mädchen einem der Soldaten mit dem Victory-Zeichen vor dem Gesicht herumfuchtelt, ruft dieser ihr scherzend "Zwei Toman ist viel zu teuer für dich" hinterher. Das ist zwar sexistisch, insofern er das "Victory"-Zeichen als Preis für ein unmoralisches Angebot deutet. Aber im Subtext geht er auf ihr Spiel ein und sagt: "Ich verkörpere nicht das Gewaltmonopol des Staates, sondern einen Mann, der dich nicht als Demonstrantin, sondern als junge Frau sieht."
In der Nacht zum Freitag werden die Sicherheitskräfte im gesamten Stadtgebiet ausgetauscht. Manche sagen, das seien Eliteeinheiten der Revolutionsgarden, die Khamenei besonders treu sind – allemal ein schlechtes Omen für die mit Spannung erwartete Rede des obersten Rechtsgelehrten.
Der geistliche, politische und militärische Führer der Islamischen Republik gliedert am folgenden Mittag den aktuellen Teil seiner Freitagspredigt in drei Punkte, die sich jeweils an bestimmte Hörerkreise wenden. Im ersten Teil wendet er sich besonders an das Volk, das mit einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent ein "Erdbeben bei den Feinden" verursacht habe.
Blut und Chaos
Im zweiten Teil wendet Khamenei sich an die vier Kandidaten und die an den Wahlen beteiligten Institutionen. Seine Kernbotschaften erschüttern alle, die vor den Fernsehern auf mäßigende Worte der einzigen Autorität hoffen, die das Land ohne Blutvergießen vor einer historischen Zerreißprobe bewahren kann. Doch den protestierenden "Extremisten" wird unverhohlen mit "Blut und Chaos" gedroht, das ihre Anstifter zu verantworten hätten.
Mehdi Karrubi, Mirhossein Mussawi und Mohammad Khatami sind gar nicht erst gekommen. Aber auch Hashemi Rafsandschani nicht, den Khamenei ausdrücklich gegen den Vorwurf der Korruption in Schutz nimmt. Es klingt wie ein letztes Friedensangebot an den zweitmächtigsten Mann im Staat. Die Führungselite sitzt Khamenei derweil zu Füßen und begleitet die eschatologischen Passagen gegen Ende der Rede mit rituellem Schluchzen.
Im dritten Teil wendet sich Khamenei an das Ausland, dem die moralische Legitimität abgesprochen wird, über Menschenrechte zu sprechen, und die Instrumentalisierung von Interna angelastet wird.
Damit ist auch die Leitlinie vorgegeben, entlang der in den folgenden Tagen in den Medien der Mythos der ausländischen Steuerung der Proteste aufgebaut wird, während Journalisten des Landes verwiesen werden oder nur noch per Telefon und Fax aus ihrem Hotel mit der Welt und ihren Redaktionen verbunden sind.
Der Protest geht weiter
Zumal für junge Männer und viele mutige Frauen steht der Freitagabend ganz im Zeichen der Frage, ob man sich am nächsten Tag um 16 Uhr zum Revolutionsplatz begeben soll. Dort, so steht inzwischen auf "Ghalamnews", wolle man trotz des Verbots des Revolutionsführers, das vom Innenministerium als Demonstrationsverbot ausbuchstabiert worden ist, friedlich weiterprotestieren.
"Wenn wir nicht hingehen", so ein Anhänger Mussawis, "bricht die Bewegung zusammen." Es sei eine moralische Pflicht hinzugehen. "Es gibt kein Zurück, vor allem nicht nach dieser Rede", hört man immer wieder.
Als gegen 22 Uhr wieder die "Allah-o-Akbar"-Rufe von den Dächern einsetzen, liest man Erleichterung in den Gesichtern: die anderen ziehen mit, die Rede des Führers hat ihre einschüchternde Wirkung verfehlt.
Am Samstagmorgen sind die Tageszeitungen noch schneller als zuvor ausverkauft. Während er normalerweise 70 Kopien der reformistischen "Etemad-e Melli" bestellt habe, ließe er sich inzwischen täglich 270 Stück bringen, berichtet der Inhaber eines Kiosks in der Nähe des Basars von Tajrish. Einen Tag später sitzen die Zensoren des Kulturministeriums in den Redaktionen aller Zeitungen.
Gegen 16 Uhr klingeln drei Herren und lassen sich den Pass zeigen. Ihr Sprecher sagt, er sei von der "Ausländerbehörde" und gibt vor, nicht gewusst zu haben, dass das Pressevisum morgen ablaufe.
Vermutlich will man sicherstellen, dass keine Berichte und Bilder von den Ausschreitungen nach außen dringen, die sich inzwischen rund um den Revolutionsplatz abspielen. "Dann sehen wir uns also morgen am Flughafen", sagt er maliziös zum Abschied lächelnd. Bald kursieren erste Erzählungen, es habe gar kein Durchkommen bis zum Platz gegeben, so aggressiv gingen die Sicherheitskräfte vor.
Im Auge des Hurrikans
Dass das Ausmaß der Gewalt, die am Wochenende in iranischen Großstädten entbrannt ist, die schlimmsten Erwartungen übersteigt, wird erst in Deutschland zur Gewissheit. "Die sind mit ihren Motorrädern mit vollem Tempo in die Menge gefahren", berichtet ein deutscher Facharbeiter, der sich in Teheran in das Auge des Hurrikans verirrt hatte, von den Vorgehensweisen der Sicherheitskräfte.
Sichtlich konsterniert hatte er den Flug mit Iran Air über sich ergehen lassen, ohne ein Wort zu sagen. Auf der Toilette des Flughafens Köln/Bonn bricht es aus ihm los:
"Es war die Hölle. Die schwarzen Reiter kamen aus jeder Richtung mit ihren Motorrädern herangedröhnt und haben alles niedergeknüppelt. Ich habe Schüsse gehört und regungslose Körper gesehen. Dann kam das Tränengas. Dass ich in dem Bus gelandet bin, mit dem wir von dort weggefahren sind, ist reines Glück gewesen."
Die Zeitungen bestätigen, was der Mann erlebt hat, und ein iranischer Taxifahrer bringt die Situation bei Eintritt in die westliche Hemisphäre auf den Begriff, als er die Koffer auslädt: "Jetzt können sie sich ja auf Youtube erstmal alles in Ruhe ansehen. Khoda-hafez!"
Alessandro Topa
© Qantara.de 2009
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