Frauen pochen auf Selbstbestimmung
So richtig voll wird es diesen Abend nicht im Hinterhof des Sangkring Art Space in der indonesischen Stadt Yogyakarta – dafür ist das Thema vermutlich zu schwierig: Verschiedene Organisationen haben unter dem Namen "Gerak 28 September" ("Bewegung 28. September") anlässlich des "internationalen Tags für sichere Abtreibungen" zu einer gemeinsamen Veranstaltung aufgerufen. Zwischen bunten Kunst-Installationen gibt es Infos für Opfer sexueller Gewalt und zu reproduktiver Gesundheit, außerdem Tipps für handgenähte Binden und viel Musik mit sozialkritischen Texten. Die Stimmung ist emotional.
Manche Besucherinnen haben eine Punkfrisur und lassen sich frische Tattoos stechen, andere tragen Kopftücher und wallende Kleider. Was sie eint, ist ihr Interesse, über sich und ihren Körper selbst zu bestimmen. "In Indonesien sind diese Themen noch tabu", sagt die Künstlerin Fitriani Dwi Kurniasih, die die Veranstaltung mitorganisiert hat. "Es ist wichtig über ungewollte Schwangerschaften und sichere Abtreibungen aufzuklären, sonst gehen die Betroffenen zu einem Heiler, ohne sich der Risiken bewusst zu sein."
Sogar sexuelle Aufklärung strafbar
All das könnte schon bald nicht mehr möglich sein. Der Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch in Indonesien (in der Öffentlichkeit unter der Abkürzung RKUHP bekannt) sieht unter anderem vor, dass bereits Informationen über Abtreibung verboten werden sollen. Darüber hinaus könnte jede sexuelle Beziehung außerhalb der Ehe strafbar werden. Das betrifft uneheliche Lebensgemeinschaften ebenso wie gemischte Wohngemeinschaften oder homosexuelle Paare.
"Da mischt sich der Staat viel zu sehr ins Privatleben seiner Bürger ein", schimpft Hera Diani, Chefredakteurin der feministischen Zeitschrift "Magdalene". "Mit am kritischsten finde ich den Paragraphen zu Reproduktion und Empfängnisverhütung. Darin heißt es, dass selbst Gesundheitsberater oder sogar Eltern und Lehrer sich durch sexuelle Aufklärung ihrer Kinder strafbar machen könnten – das ist doch lächerlich!"
Zehntausende Studenten waren Ende September im ganzen Land auf die Straßen gegangen, um gegen eine Aufweichung der Anti-Korruptionsgesetze, die Gewalt in West-Papua und die scheinbare Untätigkeit der Regierung angesichts der riesigen Regenwaldbrände zu protestieren.
Kaum etwas allerdings bewegt die Indonesier momentan so sehr wie das geplante neue Strafgesetzbuch, dessen neue Moralparagraphen jeden persönlich betreffen könnten – gerade die junge Generation. Der Hashtag #semuakena ("Es trifft alle") war bis vor Kurzem noch einer der am meisten geposteten, genauso wie #tolakrkuhp ("lehnt RKUHP ab").
In Yogyakarta ergießen sich die Protestzüge aus drei Richtungen auf die Gejayan-Kreuzung. Hier hat vor 20 Jahren schon die Elterngeneration für die Demokratisierung des Landes gekämpft. Neben Bannern mit politischen Parolen steht "Meine Geschlechtsleben ist nicht Eure Angelegenheit" und "Werft uns nicht ins Gefängnis wegen Liebe" auf bunten Plakaten. Doch die spaßigen Slogans und braven Campus-Uniformen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Demonstranten es ernst meinen: Es handelt sich um die größten Studentenproteste seit den Massendemonstrationen, die den ehemaligen Diktator Suharto 1998 zum Rücktritt gezwungen haben.
Während es in Yogyakarta friedlich blieb, kam es in mehreren anderen Städten zu Straßenschlachten mit der Polizei. Den Ernst der Proteste hatte auch Präsident Joko Widodo erkannt und die Verabschiedung des Gesetzentwurfs vertagt. Nun muss sich das neue Parlament damit befassen. Dort sind neue Koalitionen geschmiedet worden, die im Hinterzimmer entscheiden werden, ob die verschärften Gesetze wie geplant oder in leicht abgeschwächter Form verabschiedet werden.
"Wir müssen Kompromisse eingehen"
Für Eddy Hiariej scheint es ganz natürlich, dass eine so wichtige Gesetzesreform in einem multikulturellen Vielvölkerstaat wie Indonesien Kontroversen auslöst. Der 46-jährige Jura-Professor lehrt an der renommierten Gadjah-Mada-Universität in Yogjakarta und hat an dem umstrittenen Entwurf mitgeschrieben.
Zurzeit ist er ein beliebter Gast in indonesischen Talkshows, wo er mit strahlendem Lächeln und redegewandt unermüdlich betont, dass es sich bei den vielfach kritisierten Paragraphen nur um einen winzigen Bruchteil eines großen Gesetzeswerks handele, an dem mehr als 50 Jahre lang gearbeitet wurde. Tatsächlich stammt das bisherige indonesische Strafgesetzbuch noch aus der holländischen Kolonialzeit.
Ganz modern dagegen ist das neue Gebäude der Rechtsfakultät, in dem sich das Büro von Hiariej befindet. Während er sich von einem Assistenten das Mittagessen bringen lässt, erklärt er, dass die meisten Kritiker das Gesetz nicht richtig gelesen hätten und viele Paragraphen gar nicht so strikt seien, wie dies auf den ersten Blick erscheint. Gleichzeitig warnte er davor, Parallelen zu Deutschland oder anderen Gesellschaften im Westen zu ziehen.
"Wir müssen Kompromisse eingehen", so Hiariej. "LGBT etwa passt nicht zu unserer Kultur. Wir haben eine muslimische Mehrheit und müssen deren Werte respektieren", meint der aus Ambon stammende Muslim. Dass Frauen abends nicht mehr allein ausgehen dürften, sei etwa ein solcher Kompromiss: "Das ist eine Form des Schutzes vom Staat für das Individuum. Frauen sind als Opfer sehr verletzlich, so dass wir sie tatsächlich stärker behüten müssen."
Das sieht Fitriani Dwi Kurniasih anders. Die 39-jährige Künstlerin ist selbst oft bis spät in die Nacht unterwegs, um zu Ausstellungseröffnungen zu gehen oder mit ihrer Band aufzutreten. Sollte der sogenannte "Streuner"-Paragraph in seiner jetzigen Form in Kraft treten, wäre das kaum noch möglich, auch die Zusammenarbeit mit ihrem Kollektiv im alternativen Kunstraum "Survive Garage" wäre durch eine Quasi-Ausgangssperre für Frauen am Abend stark eingeschränkt.
"Ich fürchte, dass dann die Männer wieder alle Abendveranstaltungen dominieren werden. Dabei haben wir gerade versucht einen Raum zu schaffen, in dem alle gleichberechtigt sind und der besonders für Frauen geöffnet ist", sagt die Aktivistin, die sich in verschiedenen Frauen- und Menschrechtsgruppen engagiert. "Sicher wird sich das auch auf unsere homosexuellen Freunde auswirken, für die es immer schwieriger wird, ihre Wünsche auszudrücken."
Zwischen Optimismus und Realität
Am Abend vor der Veranstaltung von "Gerak 28 September" steht sie auf der kleinen Bühne vor der bunt bemalten Wand von "Survive Garage" und singt von der Benachteiligung der kleinen Leute, von sozialer Ungerechtigkeit und auch von Umweltzerstörung. Das Konzert ist Teil der Klimastreikwoche in Yogyakarta, die angesichts der riesigen Studentendemos etwas untergegangen ist.
Vor allem junge Leute machen das alternative Publikum aus, manche kommen auch aus anderen Provinzen Indonesiens, manche aus dem Ausland. "Angesichts der gegenwärtigen Situation sind meine Hoffnungen für die Zukunft tatsächlich utopisch", sagt Kurniasih. "Aber wenn ich die jetzige Studentenbewegung sehe, bin ich wiederum recht optimistisch: Sie sind sehr aktiv und mutig."
Auch Hera Diani hofft auf die junge Generation: "Bisher dachte ich, die jungen Leute wären nicht kritisch, aber jetzt können sie doch eine Bewegung formen und ihre Meinung ausdrücken", sagt die 42-jährige Journalistin, die bei den Studentenprotesten von 1998 selbst aktiv dabei war.
Sie zweifelt nicht daran, dass Indonesien dringend ein neues Strafgesetz benötigt. "Aber erst muss die Bevölkerung miteinbezogen werden, es darf nicht hinter verschlossenen Türen verhandelt werden. Wir müssen den Entwurf so lange ablehnen, bis er nicht mehr problematisch erscheint und Frauen und Minderheiten nicht durch Gesetze schikaniert und diskriminiert werden."
Zora Rahman
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