Scharf wie Rasierklingen

Seit zehn Jahren produzieren Razor Film aus Berlin Filme, die den Zuschauer aufrütteln und bewusst politische Tabus brechen. Mit "Paradise Now" und "Waltz with Bashir" schaffte die kleine Firma den Durchbruch.

Von Andrea Horakh

Cannes 2008. Absolute Stille. Vor uns auf der Leinwand: der Abspann von "Waltz with Bashir". Viele weinen. Selten hat hier ein Film so tief beeindruckt. Mittlerweile sind vier Jahre vergangen, doch die starke Erinnerung ist geblieben.

Dem Film gelingt es, den Zuschauer für das Thema Krieg zu sensibilisieren. Im Zentrum steht das Trauma des Massakers an den palästinensischen Flüchtlingen in den Lagern Sabra und Schatila im September 1982 während des Libanonkriegs.

Nach dem Anschlag auf ihren Anführer Bashir Gemayel töten libanesische Phalangisten Tausende von Kindern, Frauen und Kriegsgefangenen in Lagern bei Beirut. In einer Nacht. Die israelische Armee schaut dabei tatenlos zu, ein tödliches 'Tänzchen'. Das Massaker ist ein Einschnitt in der Geschichte Israels und dort ein Tabuthema. Der Verlust der Unschuld für das 'auserwählte Volk'.

Das verschwiegene Trauma

"Waltz with Bashir" spricht offen über die Schuld und über die Erfahrungen der beteiligten Soldaten, ein jahrzehntelang verschwiegenes Trauma. Nachdem der Film in Israel gezeigt wird, brechen kaum verheilte Wunden wieder auf. Das Erstaunlichste an dem Film: Er besteht aus gezeichneten Bildern, harten Strichen gefüllt mit lodernden Farben, oft gelb und schwarz. Bilder wie in einem Albtraum, die ungefiltert in unser Unterbewusstsein dringen: ein Animationsfilm zur Vergangenheitsbewältigung, ein Trickfilm mit therapeutischer Wirkung.

2009 wird der Film zu Recht für den Oscar nominiert, erhält im selben Jahr einen Golden Globe.

Hinter dem weltweiten Erfolg stehen zwei Männer aus Berlin: Roman Paul und Gerhard Meixner. Sie nennen sich Razor Film. Der Name ist Programm - scharf wie eine Rasierklinge wollen sie in unsere Wahrnehmung schneiden. Eine Anspielung auf die Klinge in Luis Buñuels Film von 1929: "Ein andalusischer Hund".

Auch dort zerteilt sie einen Augapfel, das Innere quillt hervor. 2002 gründen Paul und Meixner ihre Firma. Das ehrgeizige Ziel: Arthouse-Filme für den nationalen und internationalen Kinomarkt. Erfolg mit anspruchsvollen, ungewöhnlichen Projekten - ein gewagtes Unterfangen für eine so kleine Firma, mit magerem finanziellem Background.

Doch der Erfolg gibt ihnen Recht, denn in ihrer kurzen Geschichte gewinnen sie zwei Golden Globes und sind zweimal für den Oscar nominiert. Ihre Filme laufen auf den großen Festivals in Cannes, Berlin, Venedig, wo Razor Film  inzwischen Stammgast ist.

Ein Himmelfahrtskommando

Mit "Paradise Now" wird die Welt 2005 aufmerksam auf das eigenwillige Duo Meixner/Paul. Der Film erzählt die Geschichte zweier junger palästinensischer Selbstmordattentäter. Aber nicht die Story erregt Aufsehen, sondern die Perspektive. Wir schlüpfen in die Haut der beiden jungen Männer, sehen die Welt mit ihren Augen. Die Attentäter - weder Opfer noch Monster, sondern normale, sympathische Menschen - keine Fanatiker, sondern "Rekruten einer mörderischen Ausweglosigkeit", schreibt die Frankfurter Rundschau.

Die Filmproduzenten Gerhard Meixner (links) und Roman Paul; Foto: © picture-alliance/dpa
Unkonventioneller Zugang zu politischen und gesellschaftlichen Konflikten im Nahen und Mittleren Osten: die beiden Pioniere und Produzenten von Razor Film, Gerhard Meixner (links) und Roman Paul; Foto: © picture-alliance/dpa

​​Der Film ist komisch und beklemmend zugleich. Einmal ruht sich einer der Attentäter auf der Toilette aus, weil ihn sein Sprengstoffgürtel drückt. Ein anderes Mal muss der Bekennerfilm zum geplanten Attentat dreimal aufgezeichnet werden, weil die Kamera nicht funktioniert. Dazwischen werden gemütlich belegte Brote verschmaust. Szenen, die die ganze Banalität des Bösen zeigen.

Gedreht wird an Originalschauplätzen in Israel und Palästina. Trotz vielfacher euphorischer Zustimmung gibt es auch heftige Kritik an dem Film - bis hin zu Boykottaufrufen. Razor Film sucht selten den bequemen Weg. Aber sie verbinden große Professionalität, Mut und eine gute Nase für Erfolg versprechende Drehbücher mit Leidenschaft und Risikofreude.

Ein Märchen aus naher Zukunft

Das neue Projekt von Razor Film könnte wieder ein Meilenstein der Filmgeschichte werden. Es handelt sich um den ersten Spielfilm, der jemals in Saudi-Arabien gedreht wurde: "Wajda", Regie führt eine Frau, Haifaa Al Mansour. Und das in einem Land, in dem Frauen nicht Auto fahren dürfen, Männer und Frauen in der Öffentlichkeit streng getrennt und Kinos generell verboten sind.

​​Mit einem deutsch-saudischen Team drehten sie in Riad unter den Augen der Religionspolizei. In ihrem Debüt erzählt Haifaa Al Mansour die Geschichte eines elfjährigen Mädchens, das einen Koran-Rezitationswettbewerb gewinnen will, um sich ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen: ein Fahrrad - obwohl auch das Radfahren Mädchen nicht gestattet ist.

Haifaa Al Mansour hat sich Razor Film gezielt ausgesucht und sie angeschrieben. Längst gelten die Berliner als Experten für Nahost-Themen. Sie haben sich mit ihrem sensiblen Umgang mit schwierigen Stoffen einen Namen gemacht und so wusste sich Haifaa Al Mansour in guten Händen. Im Frühjahr 2013 soll der Film in die Kinos kommen.

Nur wird man "Wajda" in mindestens einem Land wohl nicht im Kino sehen können: in Saudi-Arabien, denn dort gibt es überhaupt keine Kinos. Wohl aber wird er im Fernsehen gesendet, denn der saudische Sender "Rotana" war so mutig, in das Filmprojekt einzusteigen.

Andrea Horakh

© Deutsche Welle 2012

Redaktion: Arian Fariborz/ Qantara.de