„Was wir tun, ist das Ergebnis von Angst“

Qantara: Wie sehen Sie heute, zwei Jahre nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, die israelische Gesellschaft?
Ami Ayalon: Das Massaker, die unvorstellbare Gewalt, die Vergewaltigung von Frauen und die Ermordung von Säuglingen haben uns schockiert und wütend gemacht. Die Gesellschaft kämpft noch immer mit einer komplexen Mischung aus Emotionen: Schock, Trauma, Verwirrung, Demütigung und Rachegelüste. Aber die israelischen Politiker haben keinen Plan für die Zukunft entwickelt. Ministerpräsident Netanjahu hat das bisher vermieden.
Dabei hätte man denken können, dass der 7. Oktober uns wachrütteln und den blinden Fleck in der israelischen Gesellschaft und Politik offenbaren würde: die Palästinenser. In den letzten 16 Jahren hat Netanjahu dafür gesorgt, dass die Frage nach dem Umgang mit ihnen fast vollständig aus dem israelischen Diskurs verschwunden ist.

Die israelische Gesellschaft glaubte, dass sie Stabilität, eine florierende Wirtschaft und Sicherheit haben könnten, ohne das Thema anzugehen. Die Normalisierung der Beziehungen zu den Arabischen Emiraten und Bahrain (im Jahr 2020, d. Red.) schien dies zu bestätigen.
Doch dann kam der 7. Oktober. Er versetzte Israel in einen Schockzustand und hinterließ uns in einem Zustand der Verwirrung. Wir weigern uns immer noch zu akzeptieren, dass die zentrale Lehre aus dem 7. Oktober darin besteht, dass die Palästinenser hier sind, um zu bleiben, und dass ein sicherer, funktionierender Staat Israel nur möglich ist, wenn wir mit ihnen zusammenarbeiten.
Israel ist heute international isolierter als je zuvor.
Ja, aber große Teile der israelischen Gesellschaft verstehen immer noch nicht, welche Folgen eine weitere Isolierung hat. Wenn wir unsere Politik nicht ändern, wird es keinen Frieden geben. Wir werden den Frieden mit Ägypten und Jordanien nicht aufrechterhalten können. Eine Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien können wir vergessen. Und wir stärken den Iran.
Seit August gilt in Teilen des Gazastreifens offiziell eine Hungersnot, und laut UNO sind fast 80 Prozent der Gebäude zerstört. Halten Sie den Krieg, den Israel in Gaza führt, für gerechtfertigt?
Der Krieg ist heute nicht mehr gerechtfertigt. Unmittelbar nach dem 7. Oktober war er praktisch per Definition ein gerechter Krieg, denn wir waren angegriffen worden und die Hamas ist ein absoluter Feind.
Aber wir haben längst alles erreicht, was wir mit militärischer Gewalt erreichen können, was unsere Generäle auch bestätigen. Wir haben die Hamas als militärische Organisation zerstört. Wir haben ihre gesamte militärische Infrastruktur zerstört. Wir haben alle ihre Kommandeure getötet.
Seitdem ist der Krieg nicht mehr gerechtfertigt. Er wird fortgesetzt, weil Netanjahus Koalitionsregierung auseinanderfallen würde, sobald es um die Frage geht, was am Tag danach geschieht.
Trotzdem lehnen Sie den Begriff „Völkermord“ zur Beschreibung des israelischen Vorgehens in Gaza ab?
Ja, denn im Mittelpunkt der Definition von Völkermord steht die Intention. Israel müsste die Absicht haben, die Palästinenser aus der Geschichte zu tilgen. Meiner Meinung nach gibt es keine solche Absicht.
Ich kann nicht rechtfertigen, was wir im Gazastreifen tun, aber ich kann es erklären: Was wir tun, ist das Ergebnis von Angst. Wir suchen keine Rache, aber wir wollen, dass die Palästinenser leiden. Dennoch träumt kein Israeli davon – oder sagen wir: 90 Prozent der Israelis träumen nicht davon – die Palästinenser auszulöschen.
Das bedeutet, dass vielleicht 10 Prozent dies wollen. Und diese Leute bekleiden Positionen, die für die Kriegsführung entscheidend sind. Wir erinnern uns an Netanjahus Amalek-Rede, in der er im Wesentlichen zur Vernichtung der Palästinenser aufrief. Oder an Ex-Verteidigungsminister Yoav Galant, der sagte: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.“ Das deutet auf Absicht hin. Was ist mit den 10 Prozent?
Sie sind eine Bedrohung und ein echter Feind unserer jüdischen Demokratie. Nicht umsonst habe ich den Titel meines Buches gewählt: „Friendly Fire – Wie Israel zu seinem eigenen Feind wurde und die jüdische Demokratie dennoch Erfolg haben kann“.
Wenn es der zionistische Traum war, Israel als jüdischen und demokratischen Staat zu schaffen, dann sind wir selbst zur größten Bedrohung dieses Traumes geworden, denn rassistische Radikale, die zunehmend an Einfluss gewinnen, treten in die Fußstapfen von Rabbi Kahane – das heißt, sie folgen seiner Vorstellung von einem Judentum, das auf der Vorherrschaft der Juden basiert.
Eine in Israel nicht offen geführte Debatte dreht sich um eine zentrale Frage: Was bedeutet jüdische Demokratie? Was bedeutet Judentum? Meine Vorstellung vom Judentum – und die vieler anderer – unterscheidet sich sehr von der Kahanes. Vor Tausenden von Jahren, als Könige glaubten, sie seien Götter oder Söhne Gottes, sagte das jüdische Volk: „Nein, nein, niemand ist Gott, wir sind alle nach dem Bild Gottes geschaffen. Wir sind alle gleich.” Derzeit geht uns dieses Verständnis des Judentums verloren und nur sehr wenige Menschen in Israel sind sich dessen bewusst.

„Wir müssen sie jetzt zurückholen”
Für Michael Levy ist nichts mehr wie früher, seit die Hamas seinen kleinen Bruder Or entführt hat. Jeden Tag kämpft er um ihn, hat sogar seinen Job hingeschmissen. „Für mich fühlt sich dieses Jahr an wie ein sehr langer und sehr furchtbarer Tag”, sagt er im Interview.
Derzeit wird Trumps 20-Punkte-Plan verhandelt, der die Freilassung aller Geiseln und ein Ende des Kriegs in Gaza vorsieht. Der Tag danach könnte näher rücken. Glauben Sie, dass der Plan funktionieren wird? Wäre er ein Schritt in die richtige Richtung?
Die Anerkennung des palästinensischen Staates durch verschiedene Länder hat zunächst nicht nur Netanjahu, sondern vor allem Trump unter Druck gesetzt. Noch vor zwei Wochen sprach sich Trump in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung entschieden gegen die Anerkennung eines palästinensischen Staates aus.
Doch dann hat er wahrscheinlich erkannt, dass er seinen Einfluss und seine Freunde im Nahen Osten, vor allem Saudi-Arabien und Ägypten, verliert. Ob dieser Plan jedoch wirklich zu mehr Stabilität und Sicherheit im Nahen Osten führt, hängt in erster Linie von drei Fragen ab.
Welche sind das?
Erstens: Was wird im Westjordanland geschehen? Können wir die radikalen Siedler, die derzeit mehrere Ministerien kontrollieren, in Schach halten?
Zweitens: Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas durfte nicht zur UN-Generalversammlung reisen, da ihm kein US-Visum erteilt wurde. Netanjahu hat wiederholt erklärt, dass Abbas und seine Palästinensische Autonomiebehörde keine Partner seien. Wer ist dann ein Partner?
Und die dritte Frage lautet: Wird Trump, der sich selbst zum Vorsitzenden des sogenannten „Friedensrats” ernannt hat, diese Rolle vernünftig ausfüllen? Der Prozess würde Jahre dauern und es würde nicht um Shows und Reden gehen; die beteiligten Parteien müssten sich wirklich mit Details auseinandersetzen.
Trump müsste Druck auf beide Seiten ausüben. Bislang hat er Druck auf die Palästinenser ausgeübt, aber nicht auf unseren Ministerpräsidenten. Als Showelement ja, aber nicht in der Realität. Wird er die Peitsche schwingen, wenn eine der beteiligten Parteien etwas völlig Falsches tut, zum Beispiel wenn wir weiter Siedlungen bauen und Palästinenser töten? Ich weiß es nicht.
Apropos Frieden: Sie waren früher ein Mitglied der linksgerichteten Arbeitspartei Avoda in der Knesset, doch Sie haben einmal gesagt, dass nur die rechte Likud-Partei und Ariel Sharon Frieden bringen könnten. Würden Sie das heute noch sagen?
Natürlich nicht! Die Rechte in Israel ist heute völlig anders. Für mich heißt staatsmännisches Handeln, pragmatisch zu sein. Wenn man sich ansieht, wer uns die größten Erfolge gebracht hat, dann war es Menachem Begin von der Likud-Partei, der 1979 den Friedensvertrag mit Ägypten unterzeichnete.
Jahre später, 2005, zeigte Ariel Sharon ähnlichen Pragmatismus, als er 8.000 Siedler aus dem Gazastreifen abziehen ließ, obwohl er selbst zur Etablierung der Siedlerideologie beigetragen hatte. Das war Pragmatismus.
Aber auch Yitzhak Rabin und Shimon Peres (beide Arbeitspartei Avoda, d. Red.) sind ein Beispiel: Bis zur ersten Intifada 1987 sahen sie die Palästinenser nicht als Volk an und setzten sich nicht für Verhandlungen ein. Doch Rabin als Premierminister und Peres als sein Außenminister nahmen Verhandlungen mit der PLO auf, die zu den Osloer Abkommen führten.
Befürchten Sie manchmal, dass Israel eines Tages aufhören könnte zu existieren?
Ich glaube nicht, dass irgendein Akteur alle Juden in Israel töten wird. Aber ich mache mir Sorgen um die Identität Israels, seine jüdisch-demokratische Identität. Gleichzeitig bin ich optimistisch, denn ich interpretiere die Geschichte der Menschheit so, dass Menschen nur zu Erkenntnis kommen, wenn sie mit einem Problem konfrontiert werden – wie wir mit unserem 7. Oktober. Wie Hegel und Marx sagten, verläuft die Geschichte nicht linear.
Aber haben Sie nicht zu Beginn gesagt, dass die meisten Israelis die zentrale Lehre des 7. Oktober noch nicht gelernt haben?
Wir sind noch zu nah dran an den Ereignissen, deshalb spüren wir den Schmerz, suchen Rache und sehen überall Feinde. Wir brauchen also dringend Hilfe und Druck der internationalen Gemeinschaft, um die Region zur Stabilität zu führen. Palästinenser und Israelis werden als Letzte verstehen, was notwendig ist. Als Seemann kann ich Ihnen sagen: Wenn das Ziel zu nah ist, kann es vom Radar nicht erfasst werden. Irgendwann wird dieses Verständnis kommen.
Dies ist eine Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung: Judith Poppe.
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