Gefährliches Freund-Feind-Denken
Ziel Recep Tayyip Erdoğans und seiner islamisch-konservativen Partei AKP war es nach ihrem erdrutschartigen Wahlsieg im Jahr 2002, das Land aus seiner tiefen Wirtschaftskrise zu befreien. Gleichzeitig begann Erdoğan, die Türkei Schritt für Schritt nach seinen religiösen und konservativen Wertevorstellungen umzubauen und den ihm verhassten Laizismus von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurückzudrängen.
Gewerkschaftler, Linke, Aleviten oder Homosexuelle – all diese Menschen sind dem 62-Jährigen ein Dorn im Auge. Als vornehmlich diese Gruppen im Sommer 2013 im Gezi-Park gegen ihn protestierten, ließ er die Polizei hart gegen die Demonstranten vorgehen. Aber auch aus Freunden Erdoğans können Feinde werden.
Lange Zeit waren die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen für ihn gern gesehene Helfer. Gülen floh 1999 ins Exil in die USA, weil ein Video aufgetaucht war, in dem er seine Anhänger anwies, den Staatsapparat zu unterwandern. Im Gegensatz zu den Gülen-Anhängern hatte die AKP kein qualifiziertes Personal im Staats- und Beamtenapparat. Also ging die AKP bei ihrer Machtübernahme ein Zweckbündnis mit ihren muslimischen Brüdern ein.
Fethullah Gülen ist überall
Mit Hilfe der Staatsanwälte der Gülen-Bewegung konnte Erdoğan sich in den ersten Regierungsjahren unliebsamer Gegner entledigen wie etwa Mitgliedern angeblicher Verschwörergruppen. Dann begann jedoch ein Streit zwischen Gülen-Anhängern und der AKP um Posten und Macht, und der Präsident erklärte der "Parallelstruktur" nun den Krieg. Erdoğan ließ Tausende Staatsanwälte und Polizisten versetzen und Hunderte entlassen, die der Gülen-Bewegung zugerechnet wurden.
Am 15. Juli 2016 kam es zu einem gescheiterten Putschversuch gegen die AKP-Regierung, bei dem mehr als 200 Menschen starben und der Erdogan in die Hände spielte. Er machte die Gülen-Bewegung dafür verantwortlich. Erdoğan ließ den Ausnahmezustand ausrufen und regiert seither per Dekret. Zehntausende Menschen wurden mit dem Vorwurf, sie gehörten zur Gülen-Bewegung, verhaftet; mehr als 120.000 Menschen verloren ihren Job, ganz gleich, ob die Anschuldigungen stimmen oder nicht.
Auch die kurdische Minderheit in der Türkei nutzt Erdoğan, wie es ihm gefällt. Im Zuge des Friedensprozesses mit der kurdischen Terrororganisation PKK hatte der Staatspräsident Politiker der prokurdischen Partei HDP als Vermittler gebraucht. Letztlich ging es ihm aber nur um die kurdischen Wählerstimmen. Erdoğan kündigte den Friedensprozess im Juli 2015 auf, unter anderem, weil die HDP wenige Wochen zuvor als Oppositionspartei ins Parlament eingezogen war.
Das konterkarierte Erdoğans Pläne, ein Präsidialsystem zu installieren, weil der AKP damit die nötige Zweidrittelmehrheit fehlte. Deshalb wurden Politiker der HDP im November 2016 mit dem Vorwurf, Terrorpropaganda für die PKK gemacht zu haben, inhaftiert. Unlängst wurden Haftstrafen von 142 Jahren für ihre Vorsitzenden Selahhatin Demirtaş und 83 Jahre für Figen Yüksekdag gefordert.
Fatale Folgen einer verfehlten Politik
Die Konsequenzen waren und sind fatal. Die türkische Armee führt Krieg gegen die PKK im Osten der Türkei, bei dem bereits zahlreiche Zivilisten starben. Viele junge Kurden, die die HDP als Hoffnungsträger gesehen hatten, haben sich den Rattenfängern der PKK und der TAK, der urbanen Jugendorganisation der PKK, angeschlossen. Seit Dezember 2015 wurden allein elf Terroranschläge mit mehr als hundert Toten verübt, zu dem sich die TAK bekannt hat oder verantwortlich gemacht wird. Ein Ende des Terrors ist nicht in Sicht.
"Wir werden alle Terroristen eliminieren", tönt Erdoğan und meint damit auch die Gülen-Anhänger. Seitdem die türkische Lira ins Bodenlose stürzt, sind für ihn auch Leute, die Dollars mit sich herumtragen, Terroristen. Verantwortlich für all die Probleme der Türkei sind laut Erdoğan dunkle Mächte, ausländische Geheimdienste und die "Zinslobby". Dass er vielleicht selbst Schuld an auch nur irgendeinem der vielen Probleme trägt, kommt ihm dabei nicht in den Sinn. Wer das denkt und ausspricht, wird zum Feind deklariert und als Demagoge verfolgt.
Timur Tinç
© Zeitschrift für Entwicklung & Zusammenarbeit 2017
Der Autor ist Redakteur bei der Frankfurter Rundschau.