Wie frau den Taliban trotzt
„Wir Frauen werden uns aus diesem Gefängnis befreien”, singen zwei verhüllte Afghaninnen mit entschlossener Stimme, „wir werden uns aus diesem Käfig befreien.” Es ist eines von vielen Videos, die in den letzten Wochen auf TikTok, Instagram und anderen Plattformen die Runde machten – in Afghanistan selbst, aber auch im Ausland.
Mehr als drei Jahre nach der Rückkehr der Taliban im August 2021 haben die Extremisten im vergangenen Monat „Tugendgesetze” verkündet, die sich in erster Linie gegen afghanische Frauen richten und die zunehmende Gender-Apartheit im Land befeuern. Laut den neuen Anordnungen ist es Afghaninnen unter anderem nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit laut zu sprechen oder zu singen.
Viele Frauen reagierten prompt auf die Repressalien und teilten Gesangsvideos. Während Frauen aus der Diaspora ihr Gesicht zeigten, beteiligten sich jene, die weiter in Afghanistan leben, anonym an der Aktion. Ein Video etwa zeigt eine offenbar junge Frau, die singend durch die Straßen Kabuls läuft, während in ihrer unmittelbaren Umgebung wahrscheinlich Taliban-Soldaten patrouillieren. Die Message ist klar: Die afghanische Frau lässt sich nicht unsichtbar machen.
Seit der Wiedergeburt des Taliban-Emirats ist der Alltag für afghanische Mädchen und Frauen düster geworden. Seit mittlerweile über 1.000 Tagen dürfen Afghaninnen keine Oberstufenschulen mehr besuchen. Ende 2022 kam ein Universitätsverbot hinzu.
Außerdem bestehen zahlreiche Arbeitsverbote: Im afghanischen Fernsehen gibt es vor den Kameras praktisch keine Frauen mehr. Alle Sender im Land müssen sich den Taliban unterwerfen. Sie werden kontrolliert, bedroht und zensiert. Die neuen Gesetze wurden vom obersten Taliban-Führer Hibatullah Achundzada persönlich angeordnet. Frauen wird praktisch jedwedes unabhängiges Handeln in der Öffentlichkeit abgesprochen.
Auch die Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt. Mädchen und Frauen dürfen keine öffentlichen Parks mehr besuchen und sich nicht ohne eine männliche volljährige Begleitung (mahram) fortbewegen. Taxifahrer, die unbegleitete Frauen mitnehmen, müssen mit Strafen rechnen.
Die Schönheitssalons sind dicht
Vor einem Jahr schon wurden zehntausende Schönheitssalons geschlossen, unter anderem, weil die Taliban sie mit Bordellen gleichstellten. „Ich versuche nun, als Schneiderin über die Runden zu kommen”, erzählt Khatera*, eine Visagistin aus Kabul, am Telefon, während im Hintergrund klassische afghanische Musik läuft.
Vor einem Jahr war Khatera gezwungen, ihren Schönheitssalon aufgrund des Taliban-Dekrets zu schließen. Bis zum damaligen Zeitpunkt gehörten Schönheitssalons zu den letzten Möglichkeiten für Frauen, unabhängig Geld zu verdienen. Khatera hatte mehrere Mitarbeiterinnen, die mit ihrem Lohn ihre Familien ernähren konnten. Außerdem galten die Salons als Safe Space.
Kurz nach der Schließung begann Khatera, von zu Hause zu arbeiten. Anfangs lief das gut; sie konnte sich auf einige ihrer Stammkunden verlassen. Doch mittlerweile liegt das Geschäft brach. „Ich musste vor sechs Monaten wieder schließen. Es kamen einfach keine Kundinnen mehr.”
Das Sittenministerium ist wieder da
Durchgesetzt wird all dies von der Sittenpolizei der Taliban, die nicht überall im Land gleichermaßen agiert. Sie untersteht dem sogenannten Ministerium für Laster und Tugend, meist kurz amr bil-ma'ruf genannt. Das Ministerium wurde von den Taliban nach ihrer erneuten Machtübernahme wieder ins Leben gerufen. Es handelt sich de facto um ein Sittenministerium, das in zahlreiche Lebensbereiche eindringt.
Der britisch-afghanische Analyst Ahmed Waleed-Kakar weist allerdings darauf hin, dass amr bil-ma'ruf keine Taliban-Erfindung ist: „Das Ministerium ist keine Kreation der Taliban. Wie zahlreiche andere Institutionen im Land hat es viele Turbulenzen erlebt in den letzten vierzig Jahren. Je nachdem, wer das Sagen hatte, wurde es institutionalisiert, abgeschafft und wieder eingeführt im Kontext der Machtkämpfe zwischen säkularen Eliten und konservativ-religiösen Traditionalisten“, so Kakar. Zuletzt abgeschafft worden war das Ministerium nach dem Sturz der Taliban Ende 2001.
Eine wichtige Rolle, vor allem bei der Kontrolle sozialer Medien, spielt neben der Sittenpolizei der GDI (General Directorate of Intelligence), der Geheimdienst des Taliban-Regimes. Er verfügt mittlerweile über detaillierte Datenbanken mit Zielpersonen aus Medien und Zivilgesellschaft. „Die Sicherheitskräfte der Taliban sind potenziell allgegenwärtig”, erklärt Thomas Ruttig, Co-Direktor des Thinktanks Afghanistan Analyst Network (AAN). „Widerstandsäußerungen sind auf die sozialen Medien und private Räume beschränkt, wo man sich noch treffen kann. Aber auch so etwas kann unterbunden werden, etwa wenn die Taliban die Beobachtung in Nachbarschaften verstärken“.
Vor allem in Kabul, sagt Ruttig, falle es den neuen, alten Machthabern schwer, alle Frauen aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Einen breiteren Widerstand erwartet Ruttig trotzdem nicht, da dieser auf Dauer zu gefährlich sei. Ähnlich wie andere Beobachter befürchtet er eine zunehmende Medienblockade, die auch soziale Medien betrifft. Bislang wurden Plattformen wie TikTok, Youtube oder Facebook noch nicht gesperrt. Allerdings werden sie bereits massiv überwacht.
Doch der Umstand, dass Afghaninnen wie Khatera, die Visagistin aus Kabul, oder die singenden Frauen innerhalb weniger Minuten die ganze Welt erreichen können, ist für die Taliban eine praktisch unüberwindbare Hürde. Als die Extremisten in den 1990er Jahren zum ersten Mal regierten, drangen nur wenige Nachrichten aus dem isolierten Land heraus. Heute ist das Gegenteil zu beobachten. Vor wenigen Tagen teilten mehrere Afghaninnen auf X „Strafzettel”, die sie von den Taliban erhalten hatten. Der Grund: Sie waren ohne männliche Begleitung unterwegs.
„Irgendwann wird man müde“
Wie gefährlich Aktivismus und generell Kritik am Regime sein können, hat sich in den letzten Monaten immer wieder gezeigt. Mehrere Frauenaktivistinnen wurden von den Taliban verhaftet, verhört und verschiedenen Berichten zufolge auch sexuell missbraucht. Laut dem Frauennetzwerk Azadi-e Zan wurden Afghaninnen in Taliban-Gefangenschaft Opfer von sexueller Gewalt und Folter.
Bekannt ist auch, dass die Gefängnisse der Taliban mittlerweile voll sind mit Kritikern, Demonstranten, Journalisten und anderen Aktivisten. Die konkreten Umstände vor Ort lassen sich allerdings nicht begutachten, da unabhängigen Beobachtern jeglicher Zutritt verwehrt wird. Im August verweigerten die Taliban selbst dem UN-Sonderberichterstatter für Afghanistan, Richard Bennett, die Einreise
Dies ist wohl auch ein Grund, warum viele Afghanen und Afghaninnen wenig optimistisch sind. „Irgendwann wird man müde. Man hat Angst und ist eingeschüchtert”, erklärt Mustafa*, ein Student aus Kabul. Die Sittenregeln der Taliban gelten auch für ihn und andere Männer – und seit einem Jahr hält er sich auch daran. Einst trug der Student Jeans und westliche Hemden, war kahlrasiert. Es war sein kleiner, persönlicher Protest gegen das Taliban-Regime. „Ich habe kein Problem mit Vollbart und traditioneller Tracht. Aber ich mag es nicht, wenn mir das aufgezwungen wird”, meint er.
Doch dann wurde der Druck an der Universität zu groß. Wer den Taliban nicht gehorchte, wurde von den Sittenwächtern schikaniert und eingeschüchtert. „Es ging einfach nicht mehr”, erzählt Akbari, der mittlerweile bereut, Afghanistan in den letzten Jahren nicht verlassen zu haben. Im Gegensatz zu vielen anderen jungen Menschen, die mittlerweile in Europa oder in den USA leben, habe er sein Geld nicht Schmugglern überlassen, sondern in seine Bildung investiert. Doch dass ihm seine zwei Bachelor-Abschlüsse im Taliban-Emirat etwas bringen werden, das bezweifelt er mittlerweile.
* Name aus Sicherheitsgründen geändert
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