Fortschritt kommt langsam aber sicher
In der Altstadt von Sarajevo, wo die Architektur des Orients dominiert, hallen in einer viel zu heißen Sommernacht die Töne einer Operette wider, gespielt von einem Ensemble aus Budapest. Eine große Zahl Zuschauer versammelt sich vor einer improvisierten Bühne.
Einst ein Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, erinnert sich Sarajevo immer wieder gerne an diesen Teil seiner Geschichte. In städtischen Konzert- und Theatersälen gastieren häufig Musiker und Theatergruppen aus Wien oder Budapest.
Früher wurde die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas oft mit Jerusalem verglichen - wegen der vielen Völker, die in dieser Stadt lebten. Heute aber, acht Jahre nach dem Ende des Kriegs, ist Sarajevo eine andere Stadt: Die Narben der dreieinhalb-jährigen Belagerung durch die Armee der bosnischen Serben sind noch immer auf Schritt und Tritt sichtbar. Ihren multi-ethnischen Charakter hat die Stadt eingebüßt: Vier Fünftel der eineinhalb Millionen Einwohner machen heute die bosnischen Muslime - die so genannten "Bosniaken" - aus.
"Wir mussten unser Land verteidigen"
Einer von ihnen ist der 27-jährige Vedad Brkanic. 1992 hatte er sich dazu entschlossen, seine Stadt zu verteidigen, die unter der Belagerung der bosnischen Serben lag: "Ich war in der Armee mit 16-einhalb Jahren als Freiwilliger. Zur Arbeit bin ich während des Krieges nicht gegangen. Vier Jahre hat der Betrieb nicht gearbeitet. Wir hatten andere Aufgaben, wir mussten unser Land verteidigen."
Heute ist Vedad Brkanic Meister im Handwerksbetrieb seiner Familie und stellt typische Souvenirs für die Touristen in Sarajevo her: orientalische Kaffeetassen, Karaffen, verzierte Messer und Kupferstiche. Sein Vater, Nijaz Brkanic, sagt, diese Fertigkeiten seien in der Familie seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben worden:
"Wir führen diese Tradition seit etwa 220 Jahren fort. Mit gemeinsamen Kräften können wir etwas schaffen. Der Tourismus ist derzeit kaum entwickelt, noch immer sind nicht alle Museen geöffnet. Aber uns verbindet mit der Stadt etwas, unabhängig davon, was unsere Geschichte war. Das Museum über Gavrilo Princip - der mit dem Mord an Erzherzog Franz Ferdinand 1914 den Ersten Weltkrieg auslöste - ist weltbekannt, aber es ist nicht geöffnet. Auch viele Moscheen sind nicht geöffnet, obwohl viele Besucher mehr über unsere Vergangenheit wissen möchten. Na ja, Sarajevo ist nicht mehr das, was es einmal war."
Geschäfte mit Ausländern
In der unmittelbaren Nachkriegszeit konnten die Souvenir-Händler noch gute Geschäfte mit den Ausländern machen, die im Dienste der UNO, NATO und anderer Organisationen ins Land kamen. Vedad erinnert sich:
"Nach dem Krieg lief das Geschäft gut. Es gab viele SFOR-Soldaten, die auch viel gekauft haben. Unmittelbar nach dem Krieg 1996 lief es wirklich gut. Nach 1997 ist das Geschäft dann abgeflaut. Aber ich glaube, dass es bald wieder viel besser wird."
Soldaten der SFOR, Polizisten der Europäischen Union und Vertreter internationaler Organisationen trifft man hier auch heute noch auf Schritt und Tritt. In der bosnischen Hauptstadt, die stets bekannt war für gute Restaurants, haben mittlerweile auch italienische, indische, chinesische, mexikanische, libanesische und andere Gaststätten eröffnet. Sie bewirten aber noch immer vor allem ausländische Gäste. Denn die Einheimischen besuchen weiterhin am liebsten "ihre" Kaffee-Stuben, wo Musik lokaler Stars ertönt.
Eine Stadt zwischen Bangen und Hoffen
Sarajevo ist eine Stadt, die auch heute noch nicht ganz den Schatten der Vergangenheit abgelegt hat, eine Stadt zwischen Bangen und Hoffen. Der 17-jährige Ismet Lisica studiert an der Kunsthochschule und sieht schon optimistisch in die Zukunft:
"Ich erinnere mich, dass ich die ganze Zeit des Krieges hier verbracht habe, in durchwachten Nächten im Keller - und ich erinnere mich, was wir im Krieg gegessen haben. Das war wirklich schlimm. Weil ich ein Kind war, wusste ich gar nicht, was es heißt, ohne Krieg zu leben. Nach dem Krieg ist alles besser geworden. Wenn ich vergleiche, was wir im Krieg nicht hatten, haben wir jetzt, Gott sei Dank, alles - und das reicht zum Leben."
Seine Studienkollegin, die 20-jährige Nermina Nuhodzic, ist nicht so zuversichtlich: Schließlich, sagt sie, hätten auch die Jugendlichen in Sarajevo und in ganz Bosnien-Herzegowina unter der hohen Arbeitslosigkeit und der Wirtschaftskrise zu leiden. Die Aussichten seien schlecht: "Sarajevo als Stadt hat uns jungen Menschen bisher nicht viele Möglichkeiten geboten. Wir können nur hoffen, dass wir in Zukunft mehr Unterstützung bekommen."
Fortschritt in Sicht
Vedad Brkanic, der junge Kupferschmied, meint hingegen, wenn man seine Erwartungen nicht zu hoch schraube, könne man schon gut in Sarajevo leben. Der Fortschritt komme zwar langsam, sei aber dennoch sichtbar:
"Dieses Handwerk war vor dem Krieg in Sarajevo nicht kommerziell. Junge Menschen wollten darin nicht arbeiten. Jetzt, nach dem Krieg, gibt es keine Arbeit. Fabriken sind geschlossen. Jeder, dessen Vater oder Großvater einmal in diesem Beruf gearbeitet hat, hat einen Hammer in die Hand genommen und begonnen, dieses Handwerk auszuüben. Davon kann man leben. Vom Handwerk ist noch niemand verhungert. Aber reich wird man dadurch auch nicht. Das ist die goldene Mitte."
Acht Jahre nach Kriegs-Ende ist Sarajevo eine Stadt, die noch immer auf ihren Eintritt ins 21. Jahrhundert zu warten scheint.
Zoran Pirolic
© 2003, Deutsche Welle