Schmutziger Krieg
Nach der Vertreibung der Palästinenser aus Jordanien 1970 haben sich die Unruhen im Nahen Osten verstärkt, es droht der Ausbruch eines Bürgerkriegs im Libanon. Beirut wird zum Zentrum unterschiedlicher, meist im Geheimen operierender Milizen und Terrorgruppierungen – allen voran die Bewegung "Schwarzer September", die verantwortlich ist für den Anschlag auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 in München.
So unvergessen die Bilder dieses Anschlags bis heute sind, so wenig ist bekannt über die blutigen Folgen und die kontinuierliche Ausbreitung der Geheimdiensttätigkeiten der rivalisierenden Gruppen zwischen Palästinensern, israelischem und amerikanischem Geheimdienst im Nahen Osten.
Fatahs Roman beginnt mit einer "Actionszene", der Ermordung des jordanischen Premierministers in einem Beiruter Hotel, offensichtlich eine Vergeltungstat für die Vertreibung der Palästinenser aus Jordanien. Fatah lässt das Geschehen wie in Zeitlupe abrollen, zeigt, wie der Premier durch die Halle schreitet, "ein stattlicher Mann von gut fünfzig Jahren", der im Moment des Anschlags nach seiner Pistole greift, um die Schützen abzuwehren, "doch das Revers des Sakkos war im Weg, seine Hand erreichte den nur Zentimeter entfernten Verschluss nicht mehr, und die vielen Kugeln, die er kaum hörte und spürte, warfen ihn zu Boden …"
Zwischen Authentizität und Fiktion
Im Roman wechseln sich historisch belegte Szenen (wie die Ermordung des Premiers 1971) mit fiktiven Geschehnissen ab, in denen Fatah vor allem die Gedanken, Emotionen und Verstrickungen seiner Protagonisten zeigt und die allesamt nahe an der historischen Wirklichkeit angelegt sind.
So kommt es, dass er neben Geheimdienstangestellten und Informanten auch "Extremisten eine Stimme gibt", was, wie er auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin sagte, "in der Literatur legitim" ist. Viele Szenen, die der Roman enthält, seien "genau so passiert", und es sei ihm wichtig gewesen, sich dem brisanten Stoff mit "Empathie" statt bloßem "Wissen" anzunähern.
Im Roman gibt es keine echte Hauptfigur, die Blickwinkel wechseln, genau wie die unterschiedlichen Interessensfelder. Mal sind es Angestellte der amerikanischen Botschaft in Beirut, mal junge Kämpfer und "Soldaten" der Befreiungsbewegung, doch beide Seiten arbeiten nicht getrennt, sondern es gibt geheime Verbindungen, ein dichtes Netz aus Illoyalität und Verrat.
So werden wir Zeuge des unaufhaltsamen Aufstiegs eines jungen, heimatlosen Palästinensers, Ziad, der sich vom palästinensischen Geheimdienst anwerben lässt, in Marseille Botendienste macht und später, nach seiner Ausbildung in Lagern des Nahen Osten, zum bewaffneten Terrorkämpfer wird.
Doch Ziad arbeitet auch für die CIA, befördert Dossiers, schreibt Berichte für Victor, einem der führenden Agenten in Beirut. Für Ziad gilt wie eigentlich für alle am Geschehen Beteiligten: Durch die Verstrickung im Terrorkampf verliert er das Heft des Handelns und wird zum Opfer und willigen Vollstrecker übergeordneter, mächtigerer Leute.
Begegnung mit dem "Roten Prinzen"
Ziad hasst sich dafür, dass er Verrat begeht, doch als er dem großen Idol begegnet, dem "Roten Prinzen" Salameh, der "Nummer Eins" der palästinensischen Bewegung in Beirut, einem charismatischen Menschen mit kalten Augen, fühlt er sich keineswegs auf sicherem Terrain, sondern verliert auch da nicht seine Zweifel, Ängste und ambivalenten Gefühle.
Fatah schafft es, ein Geflecht aus Agenten-, Doppelagenten, Informanten und Zuträgern anzulegen und die je selektierten Blickrichtungen seiner so verschiedenen Akteure zu einem Panorama zu runden, ohne dass wir Leser den Faden verlieren. Dabei hat er es nicht nötig, allzu sehr auf die Plotpoints eines Agentenromans hinzuarbeiten und mit "Action" das Geschehen voranzutreiben. Ihm ist es wichtiger in das Innere seiner Protagonisten zu schauen, ihre Gefühle des unfreiwilligen Handelns oder ihre Ohnmacht zu veranschaulichen.
Tatsächlich befinden sich die Agenten und Kämpfer die meiste Zeit in Wartestellung, harren in Hauseingängen aus, um zu observieren, oder sitzen in Hotelzimmern, auf Terrassen oder in Agenturräumen, wo ihre Gedanken und Erinnerungen ziellos kreisen. Das Agentengeschäft in vordigitaler Zeit bedeutet mühsame Lektüre von Dossiers, stundelange Befragungen und Auswertung von Fotografien, und diese oft öde Beschäftigung klingt an in Fatahs ruhiger, detailgenauer Prosa.
Ein "langsam sich aufbauender Krieg"
Es ist, als herrsche ein "langsam sich aufbauender Krieg", in dem alle Beteiligten auf den großen Knall warten, der tatsächlich kommt, als die amerikanische Botschaft Ziel eines verheerenden Bombenanschlags wird.
Eine Verbindung zu Deutschland schafft der Roman durch die Einbindung dreier junger Studenten aus Frankfurt, die zunächst als Beobachter in den Nahen Osten reisen. Der Welt ihrer Eltern überdrüssig, linksideologisch trainiert, auf der Flucht vor "der ganzen festgestampften Realität ihrer Heimat", sind sie bald willige Helfer im Terrorkampf, fest überzeugt, ihr Tun gelte dem revolutionären Kampf gegen den zionistisch-amerikanischen Imperialismus.
In ihrer Naivität spiegelt sich ein Stück weit der Fanatismus heutiger junger Kämpfer, die sich für eine vermeintlich gute Sache anwerben lassen, um als "Rädchen in einem gigantischen Getriebe" zu "Opfern von Profis" zu werden, wie Fatah deren Rolle auf dem Literaturfestival beschrieb. Ein Roman voll düsterer Atmosphäre auf höchstem literarischem Niveau.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2019
Sherko Fatah: "Schwarzer September", Roman, Luchterhand Verlag 2019, 384 Seiten, ISBN: 978-3-630-87475-3